Mit »Inspektoren des Friedens« im kriegsgeschundenen Irak
Es bedarf der plumpen Propaganda nicht - die Wahrheit im Zweistromland ist schlimm genug
Von Rainer Rupp
Neues Deutschland vom 13.05.02
Wer trotz UN-Embargos die Reise in das geschundene Land Irak antritt, muss auf allerlei gefasst sein. Fast 40 Stunden sollten vergehen, bis die »Inspektoren des Friedens«, wie sich die Aktivisten der belgisch-flämischen Gruppe »SOS-Kinder in Irak« selbst nannten, von Brüssel nach Bagdad gelangt waren.
In aller Frühe war man in Brüssel aufgebrochen und hatte den Flug von Amsterdam nach Damaskus hinter sich gebracht, bevor stundenlanges Warten begann. Zuerst wegen eines Sammelvisums für den Transit zur irakischen Grenze, dann, in der Nacht, am syrischen Grenzposten mitten in der Wüste und zuletzt wieder drei Stunden am irakischen Grenzposten. In regnerisch-kühler Morgendämmerung gab?s endlich freie Fahrt für die drei klapprigen Busse. Aber erst gegen 20 Uhr stand die 121-köpfige Gruppe vor der eindrucksvollen Fassade einer Bagdader Unterkunft mit dem vornehmen Namen »Méridien Palestine Hotel«. Fünf Sterne soll das Haus gehabt haben, vor dem Krieg. Die Fassade täuschte, wie vieles andere.
Über Terror und Devisen
Vor dem Krieg hatte dieses Land eine kostenlose Gesundheitsversorgung auf fast europäischem Niveau. Auf anderen Gebieten ? Technik, Erziehung, Wissenschaft, auch Kunst ? hatte Irak ebenfalls einen hohen Stand erreicht. Das Land galt als Beispiel für einen modernen arabischen Staat mit sozialistischem Anstrich.
Diesen Anstrich betont auch Frau Dr. Huda, Naturwissenschaftlerin und Politikerin aus dem Führungsstab der regierenden Baath-Partei. Nach einem durchaus ausgewogenen Vortrag über die verheerenden Auswirkungen des Embargos und die Vergiftung der Umwelt auch durch den massenhaften US-amerikanischen Einsatz von Munition aus abgereichertem Uran (DU) meint sie dem europäischen Publikum beweisen zu müssen, dass die irakische Regierung schon deshalb nicht als Förderer des internationalen Terrorismus in Frage komme, weil sie keine Devisen einnehme. Alles Geld, das durch Ölexporte erwirtschaftet wird, werde von den Vereinten Nationen verwaltet.
Von den inoffiziellen Ölexporten per Tankwagen in die Türkei und per Pipeline nach Syrien spricht Frau Dr. Huda nicht. Auch dass die irakische Regierung Angehörigen palästinensischer Selbstmordattentäter bis zu 25000 Dollar zahlt und den Opfern israelischer Besatzerwillkür weiteres Geld zuschießt, bleibt unerwähnt. Darauf angesprochen, antwortet sie zwar etwas pikiert, aber glaubhafter als bei ihren Verrenkungen zuvor: »Unsere Zivilisation ist 10000 Jahre alt und der Islam ist darin nur eine Erscheinung der jüngeren Zeit, dessen fundamentalistische Ausprägung im Widerspruch zu unserer Ideologie steht, die sozialistisch und progressiv ist«, sagt sie und betont: »Wir sind keine Kommunisten, aber wir waren immer gut Freund mit der Sowjetunion und den kommunistischen Parteien. Auf der Basis unserer Werte waren wir schon immer entschiedene Gegner des islamistischen Terrorismus.«
In Bagdad gibt es zwar ein offizielles Programm für die Gruppe, aber wer will, kann sich absetzen, um auf eigene Faust durch die Stadt zu streifen, das Labyrinth des Basars zu erkunden, Museen und Kunstgalerien zu entdecken oder alte Bekannte zu besuchen. Auf Schritt und Tritt begegnet man freundlichen, aber keineswegs aufdringlichen Menschen. Natürlich erregen Ausländer ? wo sie so selten sind ? Aufsehen. Woher ich denn komme? Alemanya, Germany, Deutschland. »Gut!«, ist die Antwort. Sofern die Sprachkenntnisse reichen, folgt prompt die Frage: »Ost oder West?« Das sei nun alles eins, erkläre ich. Das wüssten sie, aber trotzdem: »Ost oder West?« Ich versuche beides, mal komme ich aus dem Osten, mal aus dem Westen. Die Antwort ist stets dieselbe: »Gut, gut.«
Das Elend der Kranken
Krankenhäusern und Krebsstationen sowohl in Bagdad als auch in Basra sieht man noch an, wie modern sie früher einmal eingerichtet waren. Heute aber wird der Betrieb mit viel persönlichem Engagement von Ärzten und medizinischem Personal notdürftig aufrecht erhalten. Einige können ihre Verbitterung angesichts der Hoffnungslosigkeit der Lage nicht verbergen. Ein Arzt sagt in ausgezeichnetem Englisch, ohne die Stimme zu heben: »Ihr, der Westen, ihr seid alle Verbrecher!«
Wenig später stirbt auf der gleichen Station vor unseren Augen ein etwa drei Monate altes Kind. Die einfachen Medikamente, mit denen seine von schlechtem Wasser verursachte schwere Durchfallerkrankung hätte kuriert werden können, stehen auf einer langen Importliste, gegen die die USA im UN-Embargoausschuss Jahr für Jahr ihr Veto einlegen. Die Mutter des toten Kindes verfällt in einen Weinkrampf. Von Verwandten erfahren wir, dass dies bereits das dritte Baby ist, das sie auf diese Weise verloren hat.
Immer wieder bekommen wir zu hören, dass die USA in Irak ein doppeltes Verbrechen begangen haben. Zuerst haben sie Trinkwasseraufbereitungs- und Abwasseranlagen bombardiert, seither verhindern sie, dass neue Maschinen und Chemikalien zur Aufbereitung sauberen Wassers ins Land kommen. Selbst der Import von Chlor wird blockiert.
Zu unserer Gruppe gehört ein Professor von der Universität Bristol, der sich als Experten auf dem Gebiet des UN-Embargos einen Namen gemacht hat. Für 90 Prozent aller Ablehnungen irakischer Importanträge im UN-Embargo-Ausschuss, erklärt er, seien die USA verantwortlich, Großbritannien verantworte die restlichen 10 Prozent. Auf Betreiben der USA stehe selbst medizinische Fachliteratur auf der Embargoliste, sogar »The Lancet«, das internationale Fachmagazin für Ärzte.
Kein Wunder, dass es auch an allen für die Krebsbehandlung wichtigen Grundelementen fehlt. In längst vergangener Zeit lagen die Überlebenschancen eines krebskranken Kindes nach Angaben eines leitenden Arztes immerhin bei fast einem Drittel, heute seien sie gleich Null. Dabei ist insbesondere im Süden, in der Region um Basra, die Krebsrate seit Kriegsende ständig gestiegen. Bei verschiedenen Krebsarten liegt sie heute zwölf Mal höher als vor dem Krieg. Die teuflische DU-Munition ist nicht nur nach ihrer Verpuffung hochgiftig. Dass sie entgegen offiziellen Beteuerungen aus dem Pentagon und dem Hause Scharping auch intensiv strahlt, davon konnte sich die Gruppe durch Messungen mit eigens mitgebrachten Geräten im Dreiländereck Irak ? Kuweit ? Saudi-Arabien überzeugen.
Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem sprunghaften Anstieg der Krebsfälle und der DU-Munition ist jedoch immer noch nicht wissenschaftlich exakt nachgewiesen. Forderungen an die Weltgesundheitsorganisation, sich dieses Themas anzunehmen, werden von Washington und London ebenfalls blockiert.
Alle in Bagdad befragten Vertreter internationaler Organisationen verurteilen das Embargo als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ? wenn nicht öffentlich, dann doch spätestens, wenn das Interviewtonband abgestellt ist. Nach offiziellen UN-Angaben hat das Embargo bisher den Tod von 1650000 Irakern, meist Kinder und Alte, verschuldet. Kaum eine irakische Familie, die nicht ein Todesopfer zu beklagen hat oder zumindest kennt. Zwar glauben einige Iraker in offiziellen Positionen, sie müssten in ihren Darstellungen noch eins drauflegen, doch bedarf es plumper Propaganda nicht, die Wahrheit ist schlimm genug.
Bei Fahrten durch Bagdad, auch in die Außenviertel, fällt auf, dass es durchaus Arme und Reiche gibt, aber der Unterschied erscheint gebremst. Bettelarme Slums, wie sie in jeder amerikanischen Großstadt ins Auge stechen, habe ich nicht gefunden. Überall begegnet man Vertretern einer hochgebildeten so genannten Mittelklasse, die durch das Embargo fast vollständig beseitigt ist: Professoren arbeiten als Taxifahrer, Lehrer als Verkäufer im Basar. Sie sprechen fremde Sprachen, viele kennen die USA und Europa. Vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein, trifft sie schmerzlich. Trotzdem gibt es so gut wie keine Resignation. »Irgendwie werden wir?s schon schaffen«, hört man immer wieder.
Auf Präsident Bush sind sie erwartungsgemäß schlecht zu sprechen. Saddam Hussein kommt dagegen auch in Gesprächen mit Intellektuellen unerwartet gut weg, selbst in liberalen Künstlerkreisen. Unweit der Akademie der Schönen Künste in Bagdad sprach ich mit einem über die Grenzen seines Landes hinaus bekannten Maler: Saddam sei zwar ein Diktator und manches könnte besser gemacht werden. Die Tatsache etwa, dass die Regierung die mafiöse Schicht von Schiebern und Embargogewinnlern duldet, womöglich fördert, sorgt für Unmut. Deren neue Mercedes oder BMW fallen unter den schrottreifen Fahrzeugen in den Straßen Bagdads sofort auf. Andererseits haben diese Embargobrecher nach Aussagen von Kennern im letzten Jahr zu einer spürbaren Verbesserung zumindest des Konsumgüterangebots beigetragen.
Aber zurück zu Saddam. Er halte das Land zusammen, meint der Maler, außerdem sei es ohnehin schwierig, sich für Irak eine bessere Lösung vorzustellen. Die Pläne der Bush-Regierung drohten das Land dagegen ins Chaos zu stürzen. Und nicht zuletzt habe Saddam für die Kunst und das Land sehr viel getan. Nein, trotz aller Kritik, seine Loyalität gehöre Saddam Hussein. Er sei ihm und seiner Regierung dankbar. Versicherungen anderer Gesprächspartner, im Falle eines Überfalls würden sie gegen die US-Amerikaner kämpfen, scheinen durchaus ernst gemeint zu sein.
Was wollen die USA?
Bei abendlicher Diskussion im Hotelzimmer bringt der Professor aus Bristol das Phänomen Saddam Hussein britisch nüchtern auf den Punkt: Natürlich sei der ein Diktator. Genau wie die anderen Diktatoren und absoluten Herrscher der Region werfe er alle ins Gefängnis, die ihn von der Macht zu verdrängen versuchten, oder lasse sie gar töten. Aber im Unterschied zu anderen, die den Reichtum ihrer Länder dazu nutzen, Privatkonten in der Schweiz und den USA anzuhäufen, habe Saddam Iraks Ölreichtum von Anfang an eingesetzt, um allen Schichten der Bevölkerung ein Leben zu ermöglichen, das fast dem in westlichen Industrienationen entsprach. Jeder, der Saddam nicht von der Macht verdrängen wollte, habe ein interessantes Leben führen können, wozu auch kostenlose Studien und Fortbildungskurse im Ausland gehörten. Die Dankbarkeit vieler Iraker sei daher nicht gespielt.
Aber ist Saddam nicht selbst an dem heutigen Elend schuld? Hat er mit der Invasion in Kuweit nicht erst das Unglück über die Bevölkerung Iraks gebracht? Nein, lautet die Antwort des Professors. Die UN-Resolution sei erfüllt, Irak habe sich hinter seine Grenzen zurückgezogen, sich inzwischen mit Kuweit ausgesöhnt und dessen Grenzen anerkannt. Den USA gehe es mit dem Embargo nicht um die Erzwingung von Waffeninspektionen, sondern um einen Regimewechsel in Bagdad, um die Einsetzung eines ihnen genehmen neuen Diktators. Das Embargo solle die irakische Bevölkerung dazu veranlassen, den Job der USA zu tun und Saddam Hussein zu stürzen. Zu diesem Zweck habe Washington das ganze Volk in Geiselhaft genommen. Das sei nicht nur ein Verbrechen, sondern bewirke, wie wir selbst gesehen hätten, genau das Gegenteil: Die irakische Bevölkerung schare sich mehr denn je um ihren Präsidenten.
(ND 13.05.02)
© ND GmbH 2001
Kontakt zur Redaktion redaktion@nd-online.de