Irak: Viel Krebs, wenig Medikamente
Sogar die Kamelherden leiden unter den Folgen des Golfkrieges. Ein Augenzeugenbericht aus Basra
Ein Augenzeugenbericht von Karion Leukefeld über die dramatische Situation im Irak, deren Bevölkerung seit fast 12 Jahren unter scharfen Wirtschaftssanktionen leidet.
Von Karin Leukefeld, Basra, WoZ, 23. Mai 2002
... Das Gebäude des Kinderkrankenhauses von Basra wird mithilfe des Internationalen Roten Kreuzes renoviert, es wird gehämmert und gestrichen. Darum seien zurzeit von den 400 Betten nur deren 200 belegt, erklärt Oberarzt Firas Abdul Abbas. Einen der Patienten, den neunjährigen Ali Hamit, kennt Firas seit 1997, als er noch gesund war. Jetzt ist Alis linkes Auge dick angeschwollen und aus der Augenhöhle herausgetreten. Auch die Adern am blau angelaufenen Kopf sind geschwollen. «Es handelt sich um Neuroblastoma, eine Krebserkrankung des Nervengewebes»,diagnostiziert Firas. Schon bei Säuglingen gebe es eine Fülle von Krebsarten, inzwischen lautet bei bis zu vierzig Prozent der PatientInnen die Diagnose Krebs. Darunter finden sich auch Krebserkrankungen bei Jugendlichen, die man sonst nur bei Erwachsenen kennt - Firas nennt einen Fall von Brustkrebs bei einem 13-jährigen Mädchen. «Wir sind alle frustriert, wenn wir diesen Kindern nicht helfen können», gibt Firas zu. Therapie sei nutzlos, immer fehle irgendein Medikament in der Liste. «Eine ganze Generation wird zu Krüppeln gemacht.» So gut es gehe, versuchen die MedizinerInnen in Basra, die Veränderungen statistisch zu erfassen. So lautet bei über sechzig Prozent der erfassten Krankheitsfälle im Stadtzentrum von Basra die Diagnose Krebs, in 31 Fällen wurden zwei verschiedene Krebsarten diagnostiziert. Besonders Knochenkrebs hat stark zugenommen.
Missbildungen bei Föten und Neugeborenen gehören für die ÄrztInnen in Basra inzwischen zum Alltag. Bei einem allgemeinen Geburtenrückgang hat die Zahl der Totgeburten zugenommen - in Basra in den letzten zehn Jahren auf das Siebenfache, von 37 auf 254. Auch normale Kinderkrankheiten wie Masern oder Röteln hätten wieder drastisch zugenommen, erwähnt Kinderarzt Firas.
Die Unicef gibt an, dass von 1000 Neugeborenen derzeit 131 sterben. Die Zahl der Kinder, die vor dem fünften Lebensjahr sterben, hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Für diese Entwicklung geben die ÄrztInnen zwei Gründe an: Zum einen schwächen Mangel- und Unterernährung das Immunsystem der Menschen. Zwar erlaubt das im Dezember 1996 etablierte «oil for food»-Programm dem Irak, Öl zu exportieren und dafür Nahrungsmittel und Medikamente zu kaufen. Doch Lebensmittel bleiben rationiert: Nach Unicef-Angaben bekommt derzeit jede Person Lebensmittel von 2230 Kilokalorien pro Tag. Eine Monatsration umfasst Weizen, Reis, Zucker, Tee, Öl, Milchpulver, Hülsenfrüchte und Salz - Frischprodukte wie Fleisch oder Käse können nicht verteilt werden, weil Kühllastwagen fehlen. Die meisten Familien klagen, die Ration sei nicht ausreichend. Sie kostet den Staat pro Person und Monat umgerechnet 40 Franken vom «oil for food»-Geld. Die irakischen Familien zahlen eine symbolische Gebühr von 250 irakischen Dinar (knapp 20 Rappen oder der Preis von fünf Fladenbroten) als Beitrag an die Kosten der Verteilung. Im kurdischen Norden, der der Kontrolle durch die Regierung in Bagdad entzogen ist, verteilt das Uno-Welternährungsprogramm die Nahrungsmittel. Im Rest des Landes erfolgt die Verteilung in Zusammenarbeit mit den zahlreichen lokalen Beratungsstellen der regierenden Baath-Partei.
Uno-VertreterInnen sind des Lobes voll: «Sie sind sehr effizient», sagt der Uno-Sprecher in Bagdad von den Irakern, und der Verwalter des «oil for food»-Programms spricht vom «möglicherweise besten Verteilsystem der Welt». Beide bestätigen: «Die Nahrung kommt dorthin, wo sie hinsoll - wir haben nichts gefunden, das an den falschen Ort geliefert worden wäre.» Die einzige Gefahr, die der Unicef-Koordinator in Bagdad, Carel de Rooy, sich vorstellen kann, ist eine «gewollte oder ungewollte» Unterbrechung der Lieferungen durch einen Militärschlag gegen den Irak. Die ersten Opfer wären «schwangere und stillende Mütter sowie Kleinkinder», so de Rooy.
Für die Häufung der Krebsfälle sehen die ÄrztInnen den Grund in der radioaktiven Verseuchung der Gegend durch Munition mit abgereichertem Uran (DU). Dieses sehr dichte und radioaktive Material wird verwendet, um besonders durchschlagskräftige Munition herzustellen. «Die alliierten Streitkräfte setzten mindestens 400 Tonnen DU-Munition gegen die irakische Armee ein», sagt General Abdul Wahab Dschaburi, irakischer Verbindungsoffizier zu den Uno-Truppen in der entmilitarisierten Zone, «300 Tonnen davon allein im Westen von Basra.» Tatsächlich finden sich in der entmilitarisierten Zone zwischen Irak und Kuweit, die von Uno-Truppen der Unikom (Uno-Irak-Kuweit-Observationsmission) kontrolliert wird, zahlreiche Wracks von Panzern und etliche DU-Geschosse, die immer noch strahlen, wie der Geigerzähler zeigt. Bei Aufräumarbeiten hätten sich unzählige SoldatInnen und ArbeiterInnen verseucht, berichtet General Abdul, und niemand wisse wohin mit dem Sondermüll.
Unter den Spätfolgen des Krieges leiden auch die Kamelherden im Südirak. Der Beduine Faisal Turki weidet hier seine Kamele von Januar bis Mai trotz Verseuchung. Er wurde zwar von der Armee und vom Roten Kreuz über die Gefahren in diesem Gebiet informiert. Doch die Tiere müssen geweidet werden. Bei einigen Jungtieren seien in den letzten Jahren Missbildungen aufgetreten, sagt er. Und nach kurzem Schweigen fügt er hinzu, dass seit einigen Jahren auch Kinder krank geboren werden. Der Irak versucht seit Jahren, die internationale Öffentlichkeit über die Folgen der DU-Munition zu informieren, was jedoch als Propaganda abqualifiziert wird. Eine Untersuchung durch die Weltgesundheitsorganisation WHO scheiterte bisher am Einspruch der USA.
Erschien am 23. Mai 2002 in der Schweizer Wochenzeitung WoZ (www.woz.ch)