"Dramatischer Anstieg der Leukämie in Basra"

ND Interview mit Dr. Sami Al-Araj

(Dr. Sami Al-Araj ist Vorsitzender des "Komitees zur Untersuchung der Folgen von abgereicherter Uranmunition (DU)" und Mitglied im Ausschuss für Umweltfragen des Irakischen Nationalparlaments.)

Neues Deutschland vom 5.4.2001

Wann haben Sie festgestellt, dass abgereicherte Uranmunition (DU) während des 2. Golfkrieges gegen den Irak eingesetzt wurde?

Unsere Kommandeure haben sofort gemerkt, dass eine neue Waffe eingesetzt wurde. Was es aber genau war, haben wir erst nach dem Waffenstillstand erfahren. Nach Bodenuntersuchungen mußten wir 1993 verschiedene Gebiete im Süden des Irak sperren. Soweit wir wissen, wurde DU-Munition im Irak zum ersten Mal in einem Krieg eingesetzt. Die Folgen trafen nicht nur die irakischen Soldaten, sondern auch die Amerikaner, die Briten und andere Soldaten der Alliierten. Diese Munition verstößt gegen die Haager Landkriegsordnung.

In welchen Gebieten haben Sie DU-Munition gefunden?

Vor allem in den Provinzen Basra und Nazarija, im Süden. Auf der Straße zwischen Kuwait und Safwan (kuwaitisch-irakische Grenze) wurde DU-Munition massiv gegen die irakischen Soldaten eingesetzt, die sich zurückzogen. Im Westen nannte man das die "Straße des Todes". Die USA gibt an, 300 Tonnen eingesetzt zu haben. Andere, z.B. das Haager Institut in Holland, sprechen von mehr als 800 Tonnen DU-Munition. Selbst wenn wir von den amerikanischen Zahlen ausgehen, wurden 900 000 Geschosse unterschiedlicher Größe eingesetzt. Nehmen wir die Zahlen des Haager Instituts wären es 2 750 000 DU-Geschosse, die abgefeuert wurden. Das war vor allem während des Bodenkrieges, vom 21. Februar bis zum 3. März 1991. Der Waffenstillstand begann zwar schon am 28. Februar, doch auch beim Rückzug wurden die irakischen Truppen weiter massiv beschossen.

Westliche Quellen sagen, die Geschosse wurden nur gegen die irakischen Truppen und deren schweres Gerät eingesetzt. Gibt es Beweise, dass auch zivile Ziele getroffen wurden?

Ja, zum Beispiel wurde das Kontrollsystem einer Ölförderanlage an der irakisch-saudischen Grenze durch DU-Munition zerstört. Das war keine militärische Anlage, von dort wurde Öl über Saudi-Arabien zum Roten Meer geliefert.

Was geschieht bei Kontakt mit DU-Munition?

Die Munition explodiert und der aufsteigende Rauch vermischt sich mit der Luft. Diese Luft ist verstrahlt und chemisch verseucht. Das Einatmen führt zu einer inneren Verseuchung der Organe - aber natürlich sind auch Boden und Grundwasser betroffen. In den südlichen Provinzen ist die Krebsrate heute vier- bis fünfmal so hoch wie vor dem Krieg. Bei Kindern tritt vor allem Leukämie auf, meist nach 4,5 Jahren. In Basra sind diese Fälle um das Siebenfache angestiegen. Bei Frauen finden wir Brustkrebs, es gibt Lungenkrebs, Gehirntumore usw. Wir haben Missbildungen bei Neugeborenen - drei- bis viermal mehr, als vor dem Krieg - nie zuvor haben wir so etwas im Irak gesehen.

In Agenturmeldungen hieß es, die WHO hätte mit einer Untersuchung der DU-Verseuchung des Südirak begonnen?

Nein, es gab bisher nur Gespräche. Im Februar besuchte eine WHO-Delegation den Irak und im April wird es ein weiteres Treffen geben. Es geht darum, sich auf ein Vorgehen zu einigen. Außerdem informierte uns die WHO, dass sowohl UNDP als auch die IAEA (Internationale Atomenergiebehörde) an gemeinsamen Gesprächen in der Angelegenheit interessiert sind.

Hat die Diskussion über die Folgen der DU-Munition im Kosovo den Blick für die Lage im Irak geschärft?

Ja, es hat geholfen, das Bewußtsein der Menschen zu schärfen, auch wenn es sehr spät ist. Wir haben unsere Informationen seit 1994 weiter gegeben. Wir haben zwei internationale Konferenzen zu dem Thema durchgeführt: 1994 und 1998. Seit zehn Jahren gibt es das Problem im Irak, niemand hat es hören wollen. Jetzt, wo es im Kosovo aufgetreten ist, wird Tag und Nacht darüber gesprochen.

Gibt es auch in Kuwait und Saudi-Arabien Folgen der DU-Munition?

Natürlich machen die verseuchten Wolken nicht an den Grenzen Halt. Ein britischer Soldat, Raymond Bristol, bei dem DU im Blut nachgewiesen wurde, war in Hafr al-Batin in Saudi-Arabien stationiert. Wir haben ihn auf der Konferenz 1998 kennengelernt.

Haben Kuwait oder Saudi-Arabien etwas gegen die DU-Verseuchung unternommen?

Sie reden nicht darüber, es ist ein heißes Eisen. Die Amerikaner und die Briten haben Angst vor den Forderungen nach Entschädigung, die auf sie zu kommen, wenn es zu Gerichtsverfahren kommt.

Das Interview führte Karin Leukefeld im März in Bagdad