10 Jahre nach dem Golfkrieg: Irak im Februar 2001
von Dr. Eva-Maria Hobiger, FA für Strahlentherapie, KH Lainz
OMEGA, (IPPNW-Österreich)
Im Irak stand die Wiege der menschlichen Kultur, im Land zwischen Euphrat und Tigris vermuten wir das biblische Paradies. Heute, 10 Jahre nach dem Golfkrieg, ist das Land des ehemaligen Paradieses auf die Stufe eines Entwicklungslandes gesunken. Originalzitat des UNHCR-Beauftragten Ahmed Gubartalla in Bagdad: „Iraq now is one of the last five developed countries“, was bedeutet, daß sich das ehemalige reiche Ölland sozioökonomisch in etwa auf der gleichen Stufe mit dem Sudan befindet. Mehr als 10 Jahre des rigorosesten Wirtschaftsembargos, das je gegen ein Land verhängt wurde und das beispiellos ist in der Geschichte, ließen den Irak in einen Abgrund von Elend, Hunger und Krankheit versinken. Eine Tragödie, die sich vor den Augen der Welt abspielt, oder besser gesagt, vor der die Welt die Augen verschließt.
Lokalaugenschein in irakischen Spitälern
Ende Februar besuchte ich vier irakische Spitäler in Bagdad und Basra, wobei mein Hauptinteresse der Onkologie galt. Der Irak hatte vor dem Golfkrieg einen medizinischen Standard erreicht, der den westeuropäischen Normen durchaus gerecht wurde und der Bevölkerung stand das Gesundheitssystem kostenlos zur Verfügung. Vom vormaligen hohen Standard zeugt heute noch die technische Ausrüstung der Spitäler, die Geräte sind jetzt aber nahezu ausnahmslos außer Funktion – mangels Servicemöglichkeiten, mangels Ersatzteilen. Der Import von medizinischen Geräten und Ersatzteilen aber wird verhindert durch die Auflagen des UN-Sanktionenkomitees, die sich nach Vorgaben einer sogenannten „double-use-list“ richten. Auf dieser Liste finden sich Ultraschallgeräte und Sterilisatoren, genauso wie Nitroglycerintabletten und Bleistifte, ja selbst Plastikbeutel für Bluttransfusionen – die Begründung: alle diese Artikel könnten militärisch genützt werden. Dem Einfallsreichtum der UN-Beamten ist keine Grenze gesetzt: auch Chlor zur Wasserdesinfektion darf nur in streng limitierter Menge importiert werden. Sauberes Trinkwasser aber ist im Irak nach wie vor Mangelware, die Filter- und Kläranlagen wurden während des Golfkrieges systematisch zerstört und konnten - mangels technischer Ausrüstung - noch nicht in ausreichendem Maße wiederaufgebaut werden. In Basra, wo im Sommer Temperaturen bis zu 55 Grad herrschen, sterben dann unzählige Kinder an Diarrhoe und Exsiccose, denn Infusionen und deren Zusätze, wie z.B. Kaliumampullen sind ebenfalls nicht verfügbar. Engpässe gibt es bei allen Medikamenten, ebenso bei Impfstoffen.
Eine Fachrichtung der Medizin leidet darunter besonders: die – kostenaufwendige - Onkologie und das ist umso tragischer, als es im Lauf der letzten Jahre zu einem drastischen Anstieg an Malignomen kam. Im Al-Mansour-Hospital in Bagdad erzählt Dr. Mazin Al-Jadiry, Kinderonkologe: „In unserem Krankenhaus wurden im Jahr 1999 150 Fälle mit akuter lymphoblastischer Leukämie diagnostizert, im Jahr 2000 waren es bereits 254 Fälle. Die Abteilungen werden zu klein für die vielen Patienten.“. Und Frau Professor Dr. Janan Ghalib Hassan vom Maternity Hospital for Women and Children in Basra berichtet: „Die Inzidenz an kindlichen Leukämien hat sich zwischen 1994 und 1998 verdoppelt, zwischen 1998 und 2000 stieg die Rate auf das fünffache!“ Ob in Bagdad oder in Basra – beide Ärzte sind sich einig, daß es eine hohe Dunkelziffer gibt, denn die Beduinen bringen ihre Kinder nicht in die Spitäler. Und auch die Medikamentensituation ist gleich katastrophal: Kein einziger Chemotherapiezyklus kann vollständig gegeben werden, da die Zytostatika fehlen. Es mangelt an der Möglichkeit, die Komplikationen einer zytostatischen Behandlung in Griff zu bekommen, die Folge ist, daß 80 % der Kinder bereits während des ersten Therapiezyklus an Blutungen oder Infektionen sterben! Hochpotente Antibiotika fehlen ebenso wie die Möglichkeit, die Blutungen durch die Gabe von Thrombozytenkonzentraten zu verhindern, Antiemetika, Antimykotika, Virostatika, G-CSF sind nicht vorhanden. Die übereinstimmende Auskunft aller befragten Ärzte lautet: nur 20 % des tatsächlichen Medikamentenbedarfs sind verfügbar. Es gibt im gesamten Irak keinen Zellseparator, ebenso keine Knochenmarkstransplantionseinheit. Die hygienischen Verhältnisse sind äußerst schlecht, es mangelt an Bettwäsche und Reinigungsmittel. Die Klimaanlagen sind seit Jahren mangels Ersatzteilen außer Betrieb und bei den im Sommer herrschenden Temperaturen sowie durch eine Unzahl von Fliegen und Moskitos steigt die Infektionsgefahr noch zusätzlich. Die etwa 70 Kinder der pädiatrischen Abteilung in Basra werden von zwei (!!) Krankenschwestern betreut. Ein etwa 8jähriges Mädchen ist moribund, die Mutter verliert bereits ihr viertes Kind an Leukämie .... Die Frage an Frau Professor Hassan, ob Kinder mit Leukämie hier auch geheilt werden können, wird durch stummes Kopfschütteln verneint.
An der Radioonkologie in Bagdad, die modernste des gesamten Mittleren Osten im Jahr 1990, stehen drei Linearbeschleuniger mangels Servicemöglichkeiten schon seit Jahren still, ein Kobaltgerät wurde 1990 geliefert, der Vertrag für die Kobaltquelle war unterzeichnet, dann kam das Embargo, radioaktives Material ist vom Import ausgenommen und so konnte das Gerät bis heute nicht in Betrieb genommen werden. Die verbleibenden zwei Kobaltgeräte arbeiten mit einer Quelle aus den 80er Jahren, die Folge: die Bestrahlungsdauer für zwei Felder beträgt eine halbe Stunde! Therapieplanung, CT und Simulator sind ebenfalls außer Betrieb, den Bestrahlungsplan berechnet der Physiker mittels Lineal und Bleistift.
Nicht nur die Inzidenz von Leukämien steigt, auch Lymphome, Neuroblastome und Retinoblastome finden sich bei Kindern gehäuft. Bei Erwachsenen sind es neben der Leukämie ebenfalls Lymphome, Bronchus- und Mammacarcinome. Kinder erkranken an Tumoren, die sonst nur im späteren Erwachsenenalter auftreten: Uterus-, Ovarial- und Hauttumoren oder auch chronisch-myeloische Leukämie. Seit der Mitte der 80er Jahre besteht für Malignome Meldepflicht an das Gesundheitsministerium, die Tumormeldeblätter werden exakt ausgefüllt. Die Diagnostik kommt meist zu spät: CT und Mammographiegeräte sind funktionslos, Blutbilder müssen im Mikroskop ausgezählt werden, Serumchemiebestimmungen sind nicht möglich. Nachdem man Augenzeuge von all dem geworden ist, läßt ein von der WHO im November 2000 herausgegebener Bericht kein großes Vertrauen in diese Organisation aufkommen. In dem Bericht heißt es: Die Einrichtungen in vielen irakischen Spitälern konnten soweit erneuert werden, daß wieder ein annähernd normaler Betrieb ermöglicht wurde. Ich frage mich: War der Verfasser dieses Berichtes je in einem irakischen Spital? Dr. Al Jadiry meint: „Unser Standard ist derzeit schlechter als in den siebziger Jahren!“
Abgereichertes Uranium – Ursache von Leukämien, Krebs und Mißbildungen?
In Basra haben Frauen Angst davor, schwanger zu werden: Bis 1990 wurde bei einer Geburtenzahl von etwa 12.000 im Jahr etwa alle 14 Tage ein Kind mit Mißbildungen geboren. Heute sind es bei gleichbleibender Geburtenzahl 1-2 mißgebildete Kinder pro Tag! Die Fälle sind gut dokumentiert: schwerste Mißbildungen wie Anencephalie, Zyklopie, Phokomelien, „Kinder“ ohne Kopf oder Extremitäten, ohne Haut, Lippenkiefergaumenspalten, Vitien usw. Auch hier schätzt Professor Hassan, gibt es eine hohe Dunkelziffer. Eine Frau gebar innerhalb von zwei Jahren zwei mißgebildete Kinder, ihr Mann ließ sich scheiden, jetzt ist sie Patientin auf der psychiatrischen Abteilung.
Der frühere US-Justizminister Ramsey Clark hat kurz nach Ende des Golfkrieges den Irak besucht. In seinem Buch „Wüstensturm“, das von den Erfahrungen dieser Reise berichtet, schreibt er bereits 1991 über die radioaktive Bedrohung: „Das Uran-238, das zur Herstellung der Waffen diente, kann Krebs und Erbschäden hervorrufen, wenn es eingeatmet wird... Die Auswirkungen werden sich aber frühestens in fünf bis zehn Jahren zeigen.“ Ramsey Clark schrieb dies in Kenntnis verschiedener Geheimpapiere und es scheint zumindest, daß wir die Verwirklichung seiner Vorhersage jetzt erleben. Die Frauen der amerikanischen Golfkriegsveteranen haben in den letzten Jahren Kinder mit ähnlichen Mißbildungen geboren wie die Frauen in Basra und ein Teil der amerikanischen Soldaten, die ihre Panzer, welche versehentlich durch die eigene Armee mit Uranmunition beschossen wurden, dekontaminierten, sind mittlerweile an Malignomen verstorben. Die leidgeprüfte Bevölkerung Basras war unzweifelhaft verschiedenen toxischen Noxen ausgesetzt: Giftgas, brennende Ölfelder, sechswöchiger Dauerbeschuß mit insgesamt 300 Tonnen uranhältiger Munition – kein Wissenschaftler dieser Welt weiß um die Wechselwirkungen dieser Substanzen auf den Menschen. Die Radioaktivität a priori auszuschließen, halte ich für verantwortungs- und gewissenlos. Ein Medikament, bei dem sich nur der leiseste Verdacht ergibt, es könnte carcinogen oder teratogen sein, muß sofort vom Markt genommen werden. Warum gilt dies nicht auch für Munition?
Wirtschaftssanktionen verstoßen gegen die Genfer Konventionen
Hans von Sponeck, der frühere UN-Koordinator im Irak trat im Februar 2000 aus Protest gegen die Fortsetzung der Sanktionen von seinem Posten zurück (wie übrigens auch sein Vorgänger Dennis Halliday im Jahr 1998). Ende Februar 2001 gab er am Rand seiner Rede vor dem Europaparlament ein Interview: Daraus ein Zitat:
„Nach zehn Jahren sind die Beweise nun wirklich erdrückend, daß die Folgen der Sanktionen für die Bevölkerung im Irak verheerend sind. Das Europaparlament muß sich die große menschliche Tragödie im Irak heute vor Augen halten: Kindersterblichkeit, Unterernährung, Verhinderung jeder menschlichen Rechte, wie Recht auf Bildung, auf Leben, auf Entwicklung zu einer menschlichen Persönlichkeit. Der Öffentlichkeit wird im Zusammenhang mit dem Irak systemiatisch und organisiert die Unwahrheit gesagt....“
Die Aufgabe der Medien wäre es, die durch einseitige Berichterstattung und Dämonisierung eines ganzen Volkes unermeßliches Elend mitzuverantworten haben, zum Abbau von Feindbildern beizutragen. Sowohl Hans von Sponeck als auch der ehemalige Leiter der UNSCOM-Waffeninspekteure sind der Meinung, daß der Irak abgerüstet sei und keine Bedrohung seiner Nachbarländer mehr darstelle. Auch William Cohen, US-Verteidigungsminister bis zum Jänner d.J., vertritt diese Meinung. Wenn es wirklich nur um die Abrüstung geht, warum werden dann die Sanktionen nicht aufgehoben? Der Diktator wurde, was leicht vorhersehbar war, in seiner Position eher gefestigt, die Schwächsten der Gesellschaft aber zahlen den Preis: Eineinhalb Millionen Menschen starben an den Auswirkungen der Sanktionen innerhalb der letzten 10 Jahre, darunter vorwiegend Kinder. Eine Zahl, die zu groß ist, um uns Gefühle zu vermitteln. Aber hinter den Zahlen standen lebendige Menschen und keine Zahl kann den Schmerz, die Trauer und Furcht vermitteln, mit der diese Menschen leben mußten, mit der sie starben. „Krieg mit anderen Mitteln“ wurde das Embargo bezeichnet - ein politisch begründeter Krieg gegen Säuglinge und Kinder aber ist wohl das Abscheulichste, das die Menschheitsgeschichte je hervorgebracht hat.
ALADINS WUNDERLAMPE
Hilfe für krebskranke Kinder in Basra (Irak)
Als Zeugin einer unbeschreiblichen menschlichen Tragödie, über die die Weltöffentlichkeit nicht informiert ist, habe ich gemeinsam mit der Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen ein Projekt gegründet, dessen Ziel die Bereitstellung eines Zellseparators sowie der wichtigsten Medikamente zur Behandlung der leukämiekranken Kinder in Basra ist. Wenn uns das gelingen soll, bedarf es der Mithilfe vieler, um das Licht der „Wunderlampe“ zu entzünden.
Kontonummer zur Unterstützung dieses Projekts:
CREDITANSTALT-BANKVEREIN (BLZ 11.000)
Konto-Nr. 0055-52880/03
„Kinder im Irak“
Quelle: http://www.ippnw.at/presse/irakwar.htm