Die Schule »Geschenk der Revolution« im Slumviertel von Hay Tarik wurde nie fertiggestellt
Karin Leukefeld, Bagdad, junge Welt vom 12.05.2003
Das früher als »Saddam City« bekannte Armenviertel am Westrand von Bagdad hat seit dem Fall der alten Regierung einen neuen Namen. Heute heißt die Gegend »Sadr City«, benannt nach zwei unter irakischen Schiiten sehr angesehenen Geistlichen aus der Al-Sadr-Familie. In Sadr-City leben vor allem Schiiten, die seit den 60er Jahren aus dem Süden Iraks in die Hauptstadt zogen, weil sie sich hier Arbeit und ein besseres Leben erhofften. Ihre Hoffnung hat sich nicht erfüllt, Hilfe finden sie im engen Zusammenhalt der schiitischen Gemeinschaft.
Seit dem Zusammenbruch der alten Regierung übernahmen die schiitischen Geistlichen offiziell das Kommando in dem Armenviertel. Als erstes wurden Plünderungen verboten, dann wurde der Stadtteil umbenannt. Nun hängen Bilder der beiden geistlichen Namensgeber gut sichtbar an vielen Gebäuden. Schon unter dem alten Regime war die Sadr-Familie die eigentliche Ordnungsmacht in dieser Gegend Bagdads. Die sonst allgegenwärtigen Porträts und Statuen von Saddam Hussein waren eher sparsam verteilt.
Mohammad Bakir al Sadr wird vor allem als Philosoph und Denker verehrt, der Anfang der 80er Jahre mit seinen Lehren nicht nur der schiitischen Gemeinde im Irak einen »Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus« aufzeigen wollte. Seine Analysen und Ideen stießen in der neuen Baath-Partei auf Mißtrauen, er wurde im Jahre 1981 hingerichtet.
Sein Enkel, Mohammad Sadiq al Sadr, war weniger Denker als politisch-religiöser Agitator, der sich mit der repressiven Linie der alten Regierung unter Saddam Hussein nicht abfinden wollte. Entgegen den Gesetzen des säkularen Irak reaktivierte er die politische Botschaft der Freitagsgebete und kam 1998 schließlich ums Leben. Wenn die Umstände seines Todes auch ungeklärt sind, die Schiiten sind überzeugt, daß auch er auf Veranlassung der politischen Führung des Irak getötet wurde.
Am Westrand des Slumgebiets erstrecken sich die üblen Wohnverhältnisse über Sadr-Stadt hinaus, und hinter einer Bodenwelle aus Schutt und Abfall taucht ein weiteres, noch ärmeres Viertel auf: die Hay-Tarik-Stadt oder, wie manche sagen, die Stadt hinter dem Damm. Viele Einwohner Bagdads haben nie von der Existenz dieser Gegend erfahren. Die Leute selber nennen ihr Viertel auch Al-Mehdi-Stadt, nach dem verschwundenen 12. Imam der Schiiten, Muhammad al Muntazar. Dem schiitischen Glauben entsprechend soll dieser eines Tages als »Mehdi« wiederkehren und eine Herrschaft der Gerechtigkeit einführen. Eine »Herrschaft der Gerechtigkeit« könnten die Menschen in diesem verlassenen Winkel Bagdads tatsächlich gut gebrauchen, sie leben in tiefster Armut. Kein Wunder also, daß viele von hier auszogen, um sich an den Plünderungen zu beteiligen, die seit dem 7. April in Bagdad stattfanden.
Also nennen alteingesessene Bagdadis dieses Viertel auch abfällig »Stadt der Diebe« und wollen nicht viel mit den Menschen hier zu tun haben. »Die Leute sind nicht gebildet, sie denken, jedes Ministerium gehörte Saddam Hussein«, sagt Imad, ein junger Iraker, der selbst aus Sadr-Stadt stammt. Er arbeitet heute bei der deutschen Hilfsorganisation »Architekten für Menschen in Not« und kennt die Gegend wie seine Westentasche. »Hier wurden die Leute von der Zentralregierung völlig vergessen«, sagt er. Die einzige Schule, die es in Hay Tarik gibt, sei nur eine halbe Primärschule, mit den Klassen eins bis drei. Normalerweise gehen die Grundschulen im Irak bis zur sechsten Klasse. Die Schule in Hay Tarik heißt »Geschenk der Revolution« ? gemeint ist die Revolution der Baath-Partei vor 35 Jahren. »Es ist also eigentlich nur eine halbe Schule, so wie die Revolution auch nur eine halbe Revolution war«, meint Imad. »Die waren mit Kriegen und dem Aufbau ihrer Armee so beschäftigt, daß sie vergaßen, den Menschen hier Wasser, Krankenhäuser und Schulen zu bringen.«