Wie Imperien funktionieren

Die Handlungslogik der USA und das Erstaunen ihrer früheren Bewunderer
Von Herfried Münkler,
Frankfurter Rundschau v. 12.02.2003

Man mag den bevorstehenden Dritten Golfkrieg und die US-Politik, die in ihn hineingeführt hat, für eine politische Katastrophe halten oder die Distanz der Bundesregierung gegenüber der amerikanischen Irak-Politik als eine Hypothek ansehen, aus der Deutschland noch erhebliche Probleme und Kosten erwachsen werden - eines hat die gegenwärtige Entwicklung in jedem Fall für sich: Sie gibt den Blick frei auf das Funktionieren von Imperien und die Handlungslogik seiner Akteure. Das ist vor allem darum bemerkenswert, weil beides normalerweise im Dunkeln und Verborgenen bleibt.

Es ist dies ein Vorgang der Desillusionierung all derer, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts auch das Ende der Machtpolitik erwartet hatten. Und bitter enttäuscht sind auch diejenigen, die geglaubt hatten, ihre universalistischen Ideale würden nun von den Vereinten Nationen mit den USA als erstem Zugpferd realisiert werden. Mancher Beiklang von Antiamerikanismus, der dieser Tage zu hören ist, ist ins Negative umgeschlagene Amerika-Bewunderung.

Der Autor
Herfried Münkler ist Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Imperien unterliegen anderen Gesetzmäßigkeiten als Staaten: Schon ihre Grenzziehung erfolgt nach anderen Prinzipien, und auch die Mechanismen gesellschaftlicher und politischer Integration gehorchen anderen Vorgaben. Und dies wiederum hat Folgen für die Bereitschaft zum Krieg und die Art der Kriegführung: Staaten, die in eine Staatenwelt eingebettet sind, sind für die Forderungen eines friedlichen Interessenausgleichs empfänglicher als Imperien, die sich in einer weitgehend als feindlich wahrgenommenen Umwelt behaupten zu müssen meinen. Tatsächlich sind Imperien in ganz anderer Weise als Staaten das Objekt von Feindschaft wie Bewunderung. In aller Welt scheiden sich an ihnen die Geister: in Freunde und Unterstützer sowie Hasser und Feinde. Die Staatenwelt dagegen ist so angelegt, dass sie unter den Gefühlsverhältnissen der Indifferenz verbleiben kann.

Es ist darum nicht verwunderlich, dass unter den Europäern die Briten den Amerikanern in der Irak-Politik am nächsten stehen: Ihnen sind die Funktionsmechanismen eines Imperiums noch gut in Erinnerung, während Deutsche und Franzosen trotz einiger imperialer Anläufe sich eher an den Prinzipien der Staatlichkeit orientieren. Sie verfolgen die imperialen Handlungslogiken, wie sie gegenwärtig im Vorfeld des nächsten Golfkrieges viel deutlicher sichtbar werden als sonst, mit einer Mischung aus Entsetzen und Verachtung. Die Erklärungen für die daraus erwachsenen Missverständnisse greifen so lange zu kurz, wie sie die spezifischen Selbsterhaltungsimperative von Imperien außer Acht lassen.

In Territorialstaaten hat die Machtausübung an jedem Ort und zu jeder Zeit in gleicher Weise zu erfolgen, und das gilt umso mehr, je stärker die Staatsmacht Rechtsprinzipien unterworfen ist, der Staat sich also zum Rechts- und Verfassungsstaat fortentwickelt hat. Imperiale Machtausübung dagegen ist nach einem System von Kreisen und Ellipsen geordnet, die vom Zentrum zur Peripherie auseinander laufen. Dementsprechend verändern sich auch die rechtlichen Selbstbindungen der Macht; sie sind im Zentrum stärker und weitergehend. Hier sind sie denen der Staatlichkeit gleich. Aber zur Peripherie hin nehmen sie immer stärker ab, ohne dass dies ein Verstoß gegen die Funktionsprinzipien eines Imperiums darstellen würde. Im Gegenteil: Während Staaten ihre Stabilität und Funktionsfähigkeit aus der Herstellung einheitlicher Rechtsräume gewinnen, ist dies bei Imperien gerade nicht der Fall. Sie gewinnen Flexibilität und Handlungsfähigkeit aus dem Wechsel von Rechts- und Machtzonen. Die Behandlung der gefangenen Taliban in Guatánamo ist dafür ein Beispiel: Indem sie nicht auf amerikanischem Boden, aber im Machtbereich der Amerikaner erfolgt, ist hier möglich, was sonst ein Rechtsverstoß wäre. Man kann darin eine besonders infame Strategie der Rechtsbeugung sehen. Ebenso gut kann man es aber auch als eine Form des Schutzes der Rechtsprinzipien des Zentrums durch Problembearbeitung in den äußeren Zonen beschreiben.

Über vier Jahrzehnte stellte die Nato eine Form politisch-militärischer Selbstbindung der USA dar, die deren imperialem Charakter eigentlich widersprach. Zwar übten die USA den bei weitem größten Einfluss aus und stellten prinzipiell den militärischen Oberkommandierenden, aber andere wichtige Positionen wurden von den kleineren und schwächeren Verbündeten besetzt, die so einen ihre Größe weit überschießenden Einfluss erlangten. Vor allem aber führten die langwierigen, nicht selten auf Einstimmigkeit beruhenden Abstimmungsprozeduren der Nato dazu, dass die Verbündeten einen erheblichen Einfluss auf die Politik des Bündnisses ausübten. Dieser unverhältnismäßig große Einfluss der kleinen und mittleren Nato-Mitglieder war den Verhältnissen des Kalten Krieges geschuldet, und er war der Preis, den die USA lange Zeit für die Stabilität des Bündnisses zu zahlen bereit waren.

Das hat sich mit dem Ende des Ost-West-Konflikts geändert. Unter der Hand und von den meisten Europäern zunächst unbemerkt haben die Amerikaner die Nato aus einem Militärbündnis in eine politische Allianz verwandelt, die ihnen dazu dient, West- und Mitteleuropa mit starker Ausstrahlung nach Osteuropa unter ihrer Kontrolle zu halten, ohne sich dabei größeren Selbstbindungen und Selbstverpflichtungen unterwerfen zu müssen. An die Stelle der Nato ist im Krieg gegen den Terror eine coalition of the willings getreten, und das heißt, dass die USA die Fesseln der Multilateralität abgestreift haben und in die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des Unilateralismus zurückgekehrt sind. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat kürzlich, als er nicht ohne Häme das neue gegen das alte Europa ausspielte, wohl etwas zu ungeniert die imperiale Sicht auf die Verbündeten ausgeplaudert: Es ist die einer Suche nach den für die eigene Sache Nützlichen, die für den Rest Gleichgültigkeit bis Verachtung übrig hat. Mehr wird man aus den Zentren der imperialen Macht nicht erwarten dürfen.


Aber die deutsch-amerikanische Freundschaft, die gerade der Bundespräsident wieder beschworen hat? Die Übertragung von Begriffen des privaten Lebens auf die Politik hat seit jeher ihre Tücken gehabt. Sie verschleiert mehr, als dass sie klärt. Es sind vor allem unpolitische Menschen wie Völker, die sich an solchen Begriffen erfreuen und die es genießen, wenn die Herrschaftskonstellationen verdeckt bleiben. Mit Blick auf die Irak-Politik der Bundesregierung hört man gelegentlich, Deutschland sei den USA gegenüber zu Dankbar-keit verpflichtet. In der Politik ist Dankbarkeit aber nur ein anderes Wort für Vasallität.
Es gehört zur politisch-militärischen Logik von Imperien, dass sie eine Überdehnung ihrer Kräfte, der sie infolge ihrer Ausdehnung permanent ausgesetzt sind, unter allen Umständen vermeiden müssen. Dabei heißt Überdehnung der Kräfte nicht unbedingt, dass die peripheren Zonen des Imperiums zu weit hinausgeschoben worden sind. In der Regel besteht die Gefahr der Überdehnung eher darin, dass in einem begrenzten Bereich dauerhaft große Kräfte gebunden sind und dies zu einer wachsenden Inflexibilität der imperialen Macht führt. Die Golfregion könnte hierfür ein Beispiel sein, wo die USA seit Mitte der 80er Jahre erhebliche Kräfte gebunden haben. Entgegen einer verbreiteten antiimperialistischen Vermutung haben sie dies nicht aus eigenem Entschluss getan, etwa, um die dort lagernden Energievorräte unter ihre Kontrolle zu bringen, sondern um zu verhindern, dass es einer Macht der Region, dem islamistischen Iran oder dem nationalistischen Irak, gelingt, mit militärischen Mitteln zur Vormacht aufzusteigen und die Golfstaaten mitsamt ihrem Erdöl-Reichtum unter ihre politische Kontrolle zu bringen. Mehr als die Massenvernichtungswaffen hat die drohende Hegemonialposition des Irak die Weltmacht USA dazu gezwungen, seit bald zwanzig Jahren einen erheblichen Teil ihres Militärapparats und einen nicht geringeren Teil ihrer politischen Aufmerksamkeit am Golf zu konzentrieren. Es ist das vitale Interesse der USA, in dieser Region nicht dauerhaft mit starken Kräften gebunden zu sein, und sie folgen nur den Selbsterhaltungsimperativen imperialer Macht, wenn sie sich durch einen Krieg nunmehr aus dieser Festlegung zu befreien suchen. Die Einwände und Warnungen der europäischen Staaten mögen noch so überzeugend sein - das Einzige, was die USA am Krieg noch hindern kann, ist ein Militärputsch im Irak, also der Sturz des gegenwärtigen Regimes von innen. Demgemäß dürfte das eigentliche Kriegsziel der USA lauten: Durch die Anwendung militärischer Gewalt in der Region Verhältnisse herzustellen, die auf Sicht eine deutliche und dauerhafte Reduzierung der US-Militärpräsenz am Golf ermöglichen. Nur so kann das Imperium die Flexibilität und Elastizität bewahren, deren es bedarf.

Nun hat die amerikanische Macht dadurch, dass sie see- und nicht landgestützt ist, große Flexibilitätsvorteile. Ein Flugzeugträger mit Begleitverband lässt sich viel leichter und schneller an die neuralgischen Zonen der Peripherie verlegen als eine Panzer- oder Motschützendivision. Das sowjetische Imperium ist unter anderem auch an dieser Inflexibilität zu Grunde gegangen: Es musste auf Dauer an seiner gesamten Peripherie einen zu großen und kostenintensiven Militärapparat unterhalten. Dagegen sind Flugzeugträger als die wichtigsten imperialen Instrumente des US-Militärapparats geradezu Symbole politisch-militärischer Flexibilität. Aber wenn ein Großteil von ihnen dauerhaft im Persischen Golf gebunden ist, hat dies Flexibilitätsverluste zur Folge, die für das Imperium bedrohlich werden können. Davon profitiert im Augenblick etwa Nordkorea. Die Logik imperialer Selbsterhaltung verlangt also, dass das Irak-Problem einer Lösung zugeführt wird. Weil man das jedoch so offen nicht sagen kann, wird vor allem von Terrorunterstützung und Massenvernichtungswaffen gesprochen.

Imperien sind auf harte und auf sanfte Machtfaktoren gegründet, und die Austarierung ihres Verhältnisses dürfte das Geheimnis der Dauer oder des Scheiterns imperialer Macht sein. Bei den harten Faktoren der Macht handelt es sich in erster Linie um den Militärapparat, mit dem man auch gegen den Widerstand der Gegenseite den eigenen politischen Willen durchzusetzen vermag. Die sanften Faktoren setzen dagegen nicht auf Zwang und Gewalt, sondern auf Zustimmung und innere Folgebereitschaft. Es ist im Falle von Imperien in der Regel deren zivilisatorische Attraktivität, die ihnen Unterstützung und Akzeptanz bei denen sichert, die nicht im Zentrum, aber doch in der engeren Peripherie des Imperiums leben. Vor allem technologische Überlegenheit, größerer Wohlstand und ein bewunderter Lebensstil sind wichtige Elemente für die Anerkennung des imperialen Zentrums und damit die Selbstplatzierung der Anerkennenden in den engeren oder weiteren Zonen der Peripherie.

Imperien funktionieren umso reibungsloser und kostengünstiger, je mehr sie sich auf die Wirkung der sanften Faktoren der Macht verlassen und auf den Gebrauch der harten Faktoren verzichten können. Unter den Bedingungen einer bipolaren Weltordnung und des permanenten Vergleichs der beiden imperialen Alternativen, der USA und der Sowjetunion, konnten sich die USA in hohem Maße auf die sanften Faktoren der Macht verlassen. Sie spielten die Rolle des gütigen Hegemon. Nie mussten sie, wie die Sowjetunion im Falle der DDR, Ungarns und der Tschechoslowakei, Panzer einsetzen, um in den engeren Peripheriezonen der imperialen Ordnung die Folgebereitschaft der Menschen wieder herzustellen. Nur in den äußeren Zonen des Imperiums, etwa in Lateinamerika oder Indochina, waren auch die USA dazu gezwungen, und mit Ausnahme Vietnams haben sie es verstanden, die harten Faktoren der Macht schon bald wieder gegen die sanften Faktoren auszutauschen.

Das hat sich seit dem Ende der bipolaren und der Entstehung einer monopolaren Weltordnung geändert. Zunehmend sind die USA nun mit Akteuren konfrontiert, die gerade die sanften Faktoren ihrer Machtausübung als eine Form der Korrumpierung eigener Lebensweisen ablehnen und so den Gebrauch der harten Faktoren imperialer Macht erzwingen. Speerspitze dieser neuen Akteure sind die Islamisten, die den gesamten amerikanischen Lebensstil als verdorben und korrupt ablehnen. Der dadurch erzwungene Gebrauch der harten Machtfaktoren des Imperiums in den äußeren Zonen seiner Peripherie aber erschreckt die in den inneren Zonen Lebenden, die so sehr an die sanften Machtfaktoren gewöhnt sind, dass sie das Erfordernis der harten Faktoren vergessen haben. Die Folge ist ein sich schlagartig ausbreitendes Misstrauen gegen die imperiale Macht, der man sich bis vor kurzem noch nicht genug anverwandeln konnte.

Im Zentrum der Macht wiederum reagiert man auf das sich wellenförmig ausbreitende Misstrauen irritiert, vor allem dann, wenn dieses auf die Bevölkerung im inneren Kreis des Imperiums überzugreifen droht. In dieser Situation neigen Teile der imperialen Eliten dazu, die Bewohner der inneren Peripheriezonen zu behandeln, als stünden sie an den äußersten Rändern des Imperiums. Genau das ist Donald Rumsfeld jetzt mehrfach passiert. Nichts ist für Imperien aber verheerender, als wenn sich dies wiederholt. Es steigert die Kosten der Beherrschung und leitet so das ein, was doch unter allen Umständen vermieden werden sollte - eine Überdehnung der Kräfte.


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Dokument erstellt am 11.02.2003 um 15:56:01 Uhr
Erscheinungsdatum 12.02.2003

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