VOR kurzem war in einer kurzen Pressemeldung zu lesen, dass der saudische Prinz Ibn al-Walid der American University in Kairo 10 Millionen Dollar für die Gründung eines Amerikanistik-Instituts gespendet hat. Man sollte aus diesem Anlass daran erinnern, dass der junge Milliardär Walid bereits kurz nach den Attentaten vom 11. September 2001 auch der Stadt New York ungebeten 10 Millionen schenken wollte - begleitet von einem Brief, in dem er die stattliche Summe als Tribut an New York bezeichnete, vor allem aber auch anregte, die Vereinigten Staaten möchten ihre Politik gegenüber dem Nahen Osten überdenken. Offensichtlich dachte er dabei an die absolute und bedingungslose Unterstützung der USA für Israel, aber sein höflich vorgetragenes Bedenken zielt offenbar auch auf die US-amerikanische Politik der Verunglimpfung oder zumindest demonstrativen Geringschätzung des Islam.
Empört und wütend ließ Rudolph Giuliani, der damalige Bürgermeister von New York, den Scheck des Prinzen Walid zurückgehen. Und zwar kommentarlos und mit einer Geste der äußersten und, wie ich finde, auch rassistischen Verachtung, die gleichermaßen beleidigend und schadenfroh wirken sollte. Im Namen eines bestimmten Selbstbildes von New York stand er persönlich für den Mut und die Tapferkeit der Stadt und verwahrte sich gegen jedwede Einmischung von außen. Und natürlich wollte er sich - in der Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil der Welt (außerhalb Israels) - bei der vorgeblich geschlossenen jüdischen Wählerschaft beliebt machen.
Das ruppige Verhalten Giulianis passt gut zu einer anderen Provokation, die er sich einige Jahre zuvor geleistet hatte: 1995, also lange nach der Unterzeichnung der Osloer Friedensverträge, verweigerte er Jassir Arafat den Zutritt zu einem Konzert in der New Yorker Philharmonie, zu dem alle UN-Delegationen eingeladen waren. Dergleichen ist bezeichnend für die billige Effekthascherei mittelmäßiger amerikanischer Großstadtpolitiker. Insofern war Giulianis Reaktion auf das Geschenk des jungen Saudis auch durchaus vorhersehbar, obwohl das Geld für humanitäre Zwecke gedacht war und in einer Stadt, die Opfer einer furchtbaren Gräueltat geworden war, auch dringend benötigt wurde. Dennoch hatte der Faktor Israel für die amerikanische Politik und deren wichtigste Akteure auch in diesem Fall höchste Priorität - unabhängig davon, ob die äußerst aktive und wohlhabende israelische Lobby sich wie Giuliani verhalten hätte oder nicht. Zumindest kann niemand sagen, was geschehen wäre, wenn Giuliani die Spende nicht abgelehnt hätte. Dessen Verhalten war im Endeffekt ein Akt des vorauseilenden Gehorsams gegenüber der hoch effektiven proisraelischen Lobby.
Wie die bekannte Autorin und Essayistin Joan Didion in der New York Review of Books vom Januar 2003 schrieb, gilt seit Franklin D. Roosevelt für die US-Außenpolitik ein Prinzip, das Amerika in einen ausweglosen Widerspruch stürzt: Wider jede Logik hält man an der Unterstützung sowohl der saudischen Monarchie als auch des Staates Israel fest. Nach Didion geht diese Unterstützung so weit, dass "wir heute nicht mehr in der Lage sind, über irgendein Thema zu diskutieren, das irgendwie unsere Beziehungen zur derzeitigen Regierung Israels berühren könnte".
Die beiden Geschichten über Prinz Walids Spenden zeugen von einer Konsequenz und Weitsicht, wie sie in der arabischen Wahrnehmung der USA sehr selten sind. Seit mindestens drei Generationen formulieren arabische Staatsoberhäupter und Politiker - wie auch ihre zuweilen in den USA ausgebildeten Berater - für ihre Länder politische Positionen, die auf einem weitgehend fiktiven und fantastischen Bild der USA beruhen. Dieses Bild ist in sich widersprüchlich und besteht im Wesentlichen darin, dass "die Amerikaner" in Wirklichkeit alles kontrollieren. Die Vorstellungen reichen von der extremen Auffassung, dass Amerika nichts als eine jüdische Verschwörung sei, bis zum anderen Extrem, dass Amerika eine unerschöpfliche Quelle des Mitgefühls und der Hilfsbereitschaft für die Unterdrückten der Erde sei. Nicht ungewöhnlich ist auch die Idee, Amerika befinde sich ganz und gar in der Gewalt eines weißen Mannes von unumschränkter Macht, der wie ein Olympier in seinem Weißen Haus sitzt.
Während meiner langen Bekanntschaft mit Jassir Arafat habe ich bei vielen Gelegenheiten versucht, ihm zu erklären, dass Amerika eine komplexe Gesellschaft mit einer Vielzahl von Strömungen, Interessen und Zwängen ist. Und dass die Geschichte des Landes voll von inneren Widersprüchen ist, dass man also zum Verständnis der USA ein anderes Modell von Macht und Autorität wird heranziehen müssen, denn das Land werde nun einmal nicht so regiert wie zum Beispiel Syrien. Ich bat auch meinen inzwischen verstorbenen Freund Eqbal Ahmad, mit Arafat zu sprechen. Eqbal war ein genauer Kenner der amerikanischen Gesellschaft und zugleich der vielleicht beste Experte, was Theorie und Geschichte der antikolonialen Befreiungsbewegungen betrifft. Gemeinsam mit anderen Experten sollte er den Palästinensern im Hinblick auf ihre ersten Kontakte mit der US-Regierung in den späten 1980er-Jahren zu einer differenzierteren und genaueren Vorstellung von den USA verhelfen. Aber es war alles umsonst.
Ahmad hatte die Beziehungen der algerischen FLN zu Frankreich während des Krieges von 1954 bis 1962 ebenso akribisch untersucht wie die der Nordvietnamesen zu den USA während der Verhandlungen mit Henry Kissinger in den 1970ern. Der Unterschied zwischen den gründlichen und detaillierten Kenntnissen, die diese Widerstandsbewegungen von der urbanen Gesellschaft ihres französischen bzw. amerikanischen Gegners hatten, und dem fast karikaturhaft verzerrten Wissen der Palästinenser über die USA war frappierend. Arafat war von der Vorstellung besessen, dass er sich persönlich einen Weg ins Weiße Haus bahnen und mit Bill Clinton sprechen müsse, diesem weißesten aller weißen Männer. In einem solchen Gespräch, meinte er, könnte man die Dinge ungefähr so problemlos regeln wie mit Mubarak in Ägypten oder mit Assad in Syrien. Doch es kam anders für Arafat und seine Männer: Clinton erwies sich als ein Spitzenprodukt der amerikanischen Politik und trieb mit seinem Charme und seiner perfekten Beherrschung der politischen Klaviatur die Palästinenser in die Enge. Deren einfältiger Blick auf Amerika blieb unverändert monolithisch, bis heute. Für die Aussichten von Widerstand und die politischen Spielregeln in einer Welt, in der nur mehr eine alles beherrschende Supermacht übrig geblieben ist, hat sich in fünfzig Jahren praktisch nichts verändert. Die Leute werfen wie enttäuschte Liebhaber verzweifelt die Arme in die Luft und sagen: Amerika ist ein hoffnungsloser Fall, nie wieder wollen sie dorthin fahren. Aber zugleich merkt man, dass die Green Card nach wie vor ebenso begehrt ist wie US-Studienplätze für die Kinder.
Die andere, zuversichtlicher stimmende Seite dieser Geschichte hat mit Prinz Walid und seiner Spende an die American University zu tun. Bislang existiert in der gesamten arabischen Welt - abgesehen von ein paar Lehrveranstaltungen und Seminaren über amerikanische Literatur und Politik an einigen wenigen Universitäten - keinerlei akademisches Zentrum, an dem Amerika, seine Bevölkerung, seine Gesellschaft und Geschichte systematisch erforscht und gelehrt würde. Das gilt selbst für US-Institutionen wie die American Universities in Kairo und Beirut. Dabei wäre es geradezu lebensnotwendig, über die atemberaubende Dynamik in den USA so viel wie nur irgend möglich zu lernen und sich auch gute Englischkenntnisse anzueignen, über die bezeichnenderweise nur wenige arabische Politiker verfügen. Es mag ja sein, dass die USA McDonald's, Hollywood, Blue Jeans, Coca-Cola und CNN hervorgebracht haben und dass all diese Produkte infolge der Globalisierung, der internationalen Konzerne und des offenbar weltweiten Appetits nach leicht konsumierbaren Waren weltweit verfügbar sind. Aber wir müssen auch ein Bewusstsein dafür entwickeln, woher diese Waren stammen. Wir müssen die kulturellen und gesellschaftlichen Prozesse kennen, aus denen sie hervorgegangen sind - zumal die Gefahren eines allzu schlichten, reduktiven oder statischen Denkens über Amerika auf der Hand liegen.
Während ich dies schreibe, sieht sich ein Großteil der Welt zu widerwilliger Unterordnung unter die USA gedrängt. Amerika bereitet sich auf einen höchst unpopulären Krieg gegen den Irak vor. Aus der Sicht derer, die in aller Welt gegen diesen angekündigten Krieg demonstrieren, wäre er eine unverschämte, zynische und unwidersprochene Herrschaftsgeste.
Im Folgenden will ich kurz das ungewöhnliche Panorama skizzieren, das Amerika heute bietet - und zwar aus der Sicht eines Amerikaners, der seit vielen Jahren komfortabel in diesem Land lebt und ein Insider ist, der sich aber aufgrund seiner palästinensischen Herkunft den Blickwinkel eines Außenseiters erhalten hat. Ich will versuchen, einige Möglichkeiten aufzuzeigen, dieses Land zu verstehen, zu beeinflussen oder gar - falls das Wort nicht zu hoch gegriffen ist - ihm Widerstand entgegenzusetzen, und zwar als einem Land, das wenig mit dem Monolithen zu tun hat, als der es, zumal in der arabischen und muslimischen Welt, oft gesehen wird.
Bis jetzt hat noch jedes Imperium behauptet, einzigartig zu sein und auf keinen Fall die überzogenen Ambitionen der imperialen Vorgänger zu wiederholen. Der Unterschied zwischen den USA und den historischen Weltreichen besteht darin, dass die US-Amerikaner solche Beteuerungen mit der erstaunlichen Überzeugung vorbringen, dass sie mit unanfechtbarem Altruismus, wohlmeinend und in aller Unschuld handeln. Für diese alarmierende Selbsttäuschung gibt es neuerdings die mindestens ebenso alarmierenden Beispiele einer ganzen Schar ehemals linker oder progressiver Intellektueller, die früher gegen US-Kriege im Ausland waren, heute aber bereit sind, dem Imperium der Tugend das Wort zu reden, wobei sie ein breites Spektrum zwischen polterndem Patriotismus und abgebrühtestem Zynismus abdecken. Bei dieser geistigen Kehrtwende haben die Ereignisse vom 11. September sicher eine wichtige Rolle gespielt. Aber es muss doch überraschen, dass dabei die Anschläge auf die Twin Towers und das Pentagon, so schrecklich sie waren, als etwas wahrgenommen werden, das aus dem Nichts aufgetaucht ist.
Was diese "progressiven Falken" der USA vor allem ausblenden, ist die christliche Rechte in ihrem Land. Diese in ihrer selbstgerechten Inbrunst dem islamischen Extremismus sehr ähnlichen Fundamentalisten sind in der Politik der USA mittlerweile stark verankert, ja sogar eine entscheidende Größe. Ihre Visionen beziehen sie überwiegend aus dem Alten Testament, ganz wie ihre israelischen Partner. Die Allianz zwischen den einflussreichen neokonservativen Lobbyisten Israels und den christlichen Extremisten ist insofern eine höchst merkwürdige Sache, weil Letztere den Zionismus als eine Bewegung unterstützen, die alle Juden im Heiligen Land versammeln will, was angeblich der Wiederkunft des Messias den Weg ebnen wird. Doch wenn es so weit ist, werden die Juden entweder zum Christentum konvertieren müssen oder der Vernichtung anheim fallen. Diese blutrünstigen und antisemitischen Endzeitvisionen werden allerdings selten erwähnt - schon gar nicht von den proisraelischen Einflussgruppen.
Kein anderes Land der Welt bekennt sich so zu seiner Religiosität wie die USA. Der Verweis auf Gott prägt das gesamte öffentliche Leben, von den Münzen über die Gebäude bis hin zu den alltäglichen Redensarten: In God wie trust, God's own country, God bless America usw. Die Machtbasis von George Bush besteht aus 60 bis 70 Millionen fundamentalistischen Christen. Sie glauben wie der Präsident selbst, dass sie Jesus Christus geschaut haben und dass ihnen aufgetragen ist, das Werk Gottes in Gottes eigenem Land zu vollenden. Einige Soziologen und Journalisten (wie Francis Fukuyama und David Brooks) behaupten, die heutige Religiosität in den Vereinigten Staaten drücke die Sehnsucht nach Gemeinschaft aus und nach einem längst vergangenen Gefühl von Stabilität. Die Belege für eine solche Sehnsucht überzeugen jedoch nur zum Teil. Denn in der amerikanischen Religion zählen vor allem die prophetische Erleuchtung und das unerschütterliche Vertrauen in eine - womöglich apokalyptische - Mission, das sich von Fakten und Komplikationen nicht beirren lässt. Das erklärt sich zum einen durch die enorme geografische Distanz zwischen den Vereinigten Staaten und der krisengeschüttelten Welt, zum andern durch die Tatsache, dass die kanadischen und mexikanischen Nachbarn auf dem Kontinent kaum in der Lage sind, den amerikanischen Überschwang einzudämmen.
All diese Faktoren fügen sich zu der Vorstellung, Amerika bedeute Rechtschaffenheit, Güte, Freiheit, wirtschaftliche Prosperität und gesellschaftlichen Aufstieg. Diese Vorstellung ist so tief im täglichen Leben verwurzelt, dass sie kaum noch als Ideologie erkennbar ist und eher wie eine naturgegebene Tatsache wirkt: Amerika ist gut und verdient vollkommene Loyalität und Liebe. Eine ähnlich bedingungslose Verehrung wird für die Gründerväter und die Verfassung gepflegt, wobei Letztere zwar ein erstaunliches Dokument, aber gleichwohl nur von Menschenhand verfasst ist. Das tiefe Gefühl amerikanischer Authentizität macht sich an der frühen Neuzeit fest. Ich kenne kein anderes Land, in dem die wehende Flagge eine so zentrale Ikone ist. Man sieht sie überall: an Taxis und Revers, an Fassaden, Fenstern und auf den Dächern der Häuser. Die Flagge verkörpert auf einmalige Weise das Selbstbild der Nation. Sie steht für heldenhafte Ausdauer und die Überzeugung, von unwürdigen Feinde umgeben zu sein. Noch immer ist der Patriotismus die Primärtugend in den USA, in enger Verbindung mit der Religion, einem starken Zugehörigkeitsgefühl und der festen Überzeugung, nicht nur zu Hause das Richtige zu tun, sondern überall in der Welt. Patriotismus kann selbst beim Einkaufsverhalten eine Rolle spielen - wie etwa nach dem 11. September, als die Amerikaner aufgefordert wurden, den bösen Terroristen durch eifriges Shopping zu trotzen. Bush und seine Mitarbeiter Rumsfeld, Powell, Rice und Ashcroft schöpfen aus dieser Quelle des Patriotismus, um das Militär für einen Krieg 10 000 Kilometer weiter östlich zu mobilisieren und Saddam (wie er nur noch genannt wird) "zu kriegen". All das gründet auf einem Typ von Kapitalismus, der gerade einen radikalen und destablisierenden Wandel durchläuft.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Julie Schor(1) hat nachgewiesen, dass die US-Bürger heute viel länger arbeiten als noch vor drei Jahrzehnten - und relativ weniger verdienen. Dennoch stellt niemand systematisch und ernsthaft die Dogmen in Frage, die immer von den "Chancen des freien Marktes" reden. Niemanden scheint es zu beschäftigen, dass die wirtschaftlichen Strukturen und ihre Allianz mit der US-Regierung dringender Veränderung bedürfen, wo doch der Staat nicht einmal in der Lage ist, den meisten Amerikanern eine allgemeine Gesundheitsversorgung und eine anständige Ausbildung zu bieten.
Doch gibt es in der erstaunlich komplexen Gesellschaft der USA auch den anderen Pol zu entdecken: die vielen Gegenströmungen und Alternativen, die den etablierten Konsens zwischen Politik und Wirtschaft ständig durchkreuzen oder sich ihm entziehen. Aus diesem anderen, nicht offiziellen Amerika erwächst der zunehmende Widerstand gegen den Krieg, den Präsident Bush kleinreden will oder einfach nicht wahrzunehmen vorgibt und der von den großen Medien regelmäßig übertüncht und verschwiegen wird.
Dabei handelt es sich um eine Komplizenschaft zwischen den Nachrichtensendern und einer unverfroren kriegslüsternen Regierung. Jeder durchschnittliche Nachrichtensprecher bei CNN oder einem anderen der großen Sender echauffiert sich heute über die Schandtaten Saddams und fordert, dass "wir" ihm das Handwerk legen müssen, bevor es zu spät ist. Und in den Fernseh- und Rundfunkstudios geben sich Exmilitärs, Terrorismusexperten und so genannte Nahostspezialisten die Klinke in die Hand, die in der Regel keine der erforderlichen Sprachen beherrschen und vielleicht noch nie persönlich im Nahen Osten waren. Diese Sorte Experten dürfen also ihre Phrasen herunterbeten und uns darüber belehren, dass "wir" jetzt unbedingt im Irak durchgreifen müssen. Und dass wir zu Hause mindestens unsere Fenster verkleben und unsere Autos für die bevorstehenden Giftgasattacken fit machen müssen.
Dieser öffiziöse US-amerikanische Grundkonsens operiert in einer Art zeitloser Gegenwart. Die Geschichte scheut er wie der Teufel das Weihwasser: im Sprachgebrauch der USA ist allein schon das Wort "Geschichte" Synonym für das Nichts oder das zu Staub Gewordene. Auf der anderen Seite ist Geschichte das, was wir Amerikaner über Amerika kritiklos glauben sollen - freilich nicht über den Rest der "alten", also zurückgebliebenen, also bedeutungslosen Welt. Hier tut sich ein erstaunlicher Widerspruch auf: Einerseits steht für den durchschnittlichen Amerikaner sein Land über oder jenseits der Geschichte, andererseits gibt es im ganzen Land ein unersättliches Interesse an der Geschichte von allem und jedem, von den kleinen lokalen Belangen bis zu den großen Weltreichen. Dieser prekären Balance widersprüchlicher Auffassungen entspringen auch viele Kulte, die vom ausländerfeindlichen Patriotismus bis zum weltfernen Spiritualismus und der Reinkarnationslehre reichen.
IN diesem Zusammenhang lohnt es sich vielleicht, auf eine sehr viel weltlichere Episode im Streit um die Rolle und Funktion der Geschichte zu verweisen. Vor zehn Jahren tobte in den USA eine hitzige Debatte über die Frage, in welcher Form Geschichte an unseren Schulen unterrichtet werden sollte. Der intellektuelle Schlagabtausch ging über viele Wochen. Eine Seite wünschte sich die US-Geschichte als ein heroisch vereinheitlichtes nationales Narrativ, das die jungen Gemüter erbauen soll. Sie beurteilt Geschichte weniger nach ihrem Wahrheitsgehalt als vielmehr danach, ob ihre Inhalte geeignet sind, die Schüler zu frommen Bürgern zu erziehen. Das heißt dazu zu bringen, einige Grundkonstanten fraglos zu übernehmen, die das Verhältnis der USA zu sich selbst und zum Rest der Welt interpretieren sollen. Aus diesem essenzialistischen Geschichtsbild war folglich alles zu tilgen, was man als "Postmoderne" und als "Zwietracht säende" Geschichte bezeichnete (also die Geschichte der Minderheiten, der Frauen, der Sklaverei usw.). Interessanterweise endete dieser Vorstoß der Konservativen aber mit einer Niederlage. Wie Linda Symcox schreibt, war der neokonservative Ansatz in Sachen kultureller Bildung "ein kaum verhohlener Versuch, den Schülern und Studenten ein relativ konfliktfreies und harmonisierendes Geschichtsbild einzutrichtern. Aber das Vorhaben entwickelte sich in eine völlig andere Richtung. Unter den Händen der Sozial- und Welthistoriker, die in Zusammenarbeit mit den Lehrern die so genannten Standards verfassten, entstand ein Medium für genau jenes pluralistische Bild, gegen das die Regierung ankämpfte. Im Endeffekt wurde die Konsensgeschichte oder kulturelle Reproduktion von den Historikern unterlaufen, denn sie waren überzeugt, dass soziale Gerechtigkeit und eine Umverteilung der Macht nach komplexeren Erzählweisen der Vergangenheit verlangt."(2)
Im öffentlichen Raum, der von den großen Massenmedien auf vielfältige Weise kontrolliert wird, gibt es also eine Reihe von thematischen Konstanten, die man als Narrathemen bezeichnen könnte. Sie ordnen, verpacken und kontrollieren jede öffentliche Debatte, ohne den Eindruck von Vielfalt und Verschiedenheit zu beeinträchtigen. Ich kann im Folgenden nur einige wenige dieser Narrathemen diskutieren, die mir im Moment als besonders brisant erscheinen. Da ist zuallererst natürlich das kollektive amerikanische "Wir". Es bezeichnet eine nationale Identität, wie sie scheinbar völlig widerspruchslos von unserem Präsidenten, von unserem Außenminister im UN-Sicherheitsrat und von unseren Soldaten in der Wüste vertreten wird. Dasselbe "Wir" äußert sich auch in "unseren Interessen", die regelmäßig völlig defensiv dargestellt werden, das heißt völlig ohne eigene Interessen oder Hintergedanken und überhaupt in einem Stande der Unschuld, den man nur noch im traditionellen Frauenbild wiederfindet: unschuldig, rein und frei von Sünde.
Ein anderes Narrathema ist die Irrelevanz der Geschichte und die Unzulässigkeit illegitimer "Verknüpfungen". Dazu gehört etwa die Erwähnung der Tatsache, dass die USA selbst Saddam Hussein und Ussama Bin Laden hochgepäppelt und aufgerüstet haben, oder das Eingeständnis, dass der Vietnamkrieg Amerika selbst geschadet habe - bis heute sind Jimmy Carters Worte von einer Art "wechselseitiger" Zerstörung unvergesslich. Noch erstaunlicher ist die fortgesetzte und institutionalisierte Leugnung von zwei konstitutiven Kapiteln der US-Geschichte: der Versklavung des afroamerikanischen Volkes und der Enteignung und nahezu vollständigen Ausrottung der amerikanischen Urbevölkerung. Zwar gibt es in Washington D. C. ein großes Holocaust-Museum, aber nach einem Mahnmal für Afroamerikaner oder amerikanische Ureinwohner sucht man bis heute vergeblich.
Ein drittes Narrathema ist die niemals hinterfragte Überzeugung, dass jeder Widerstand gegen "unsere" Politik bereits eine Spielart des "Antiamerikanismus" darstelle. Einer Art Eifersucht also, die auf zweierlei Weise zu erklären ist: entweder mit dem bloßen Neid auf unsere Demokratie und Freiheit, unseren Reichtum und unsere Größe oder einfach mit der schieren Bösartigkeit von Ausländern - wie im Fall des französischen Widerstands gegen einen Krieg im Irak. Die Europäer werden in diesem Zusammenhang immer wieder daran erinnert, dass Amerika sie im vergangenen Jahrhundert zweimal gerettet hat. Dabei schwingt irgendwo auch die Vorstellung mit, die meisten Europäer hätten ihre Hände in den Schoß gelegt, während die GIs für sie den Krieg gewonnen haben. Für Regionen wie den Nahen Osten oder Lateinamerika wiederum, wo die USA seit mindestens fünfzig Jahren intensiv mitmischen, greift man auf das Narrathema vom "ehrlichen Makler" und unparteiischen Schiedsrichter zurück. Dem Selbstbild der USA als einer wohlmeinenden internationalen Macht des Guten ist praktisch nichts entgegenzusetzen. In dieser Wahrnehmung ist kaum Platz für Fragen nach Machtinteressen und Geldgier, nach dem Zugriff auf Rohstoffvorkommen, nach ethnischer Interessenpolitik, nach gewaltsamen bzw. subversiven Regimewechseln wie im Iran und in Chile. Und selbst wenn solche Fragen zuweilen gestellt werden, lassen sie das amerikanische Selbstbild völlig unerschüttert. Einer realistischen Wahrnehmung am nächsten kommt da noch der euphemistische Jargon, in dem diverse Thinktanks und auch die Regierung von "sanfter Macht" und deren "Projektion", oder von der "amerikanischen Vision" reden. Noch seltener findet man eine Darstellung besonders grausamer oder zynischer Politik, für die Amerika direkt verantwortlich ist. Man denke etwa an Scharons militärischen Feldzug gegen das zivile Leben der Palästinenser, an die Wirtschaftssanktionen gegen den Irak und ihre entsetzlichen Opfer unter der Zivilbevölkerung oder an die US-Unterstützung für unmenschliche Strafaktionen des türkischen und des kolumbianischen Regimes gegen ihre wehrlosen Bürger.
Ein viertes, ständig reproduziertes Narrathema betrifft die unantastbare moralische Weisheit, die sich angeblich in öffentlichen Figuren wie Henry Kissinger, David Rockefeller und maßgeblichen Funktionsträgern der heutigen Regierung verkörpern. Die Tatsache etwa, dass Bush zwei rechtmäßig verurteilte Verbrecher der Nixon-Ära (Elliott Abrams und John Poindexter) vor kurzem mit hohen Regierungsämtern betraut hat, ist den Medien kaum eine Erwähnung wert, von Protesten ganz zu schweigen. Die blinde Wertschätzung von Autoritäten - historischen wie aktuellen, ehrbaren wie anrüchigen - zeigt sich in vielerlei Gestalt. Sie reicht von der hochachtungsvollen, ja unterwürfigen Anrede, der sich Kommentatoren und Akademiker befleißigen, bis zur kategorischen Weigerung, die Autoritätsperson jenseits ihrer gepflegten Erscheinung wahrzunehmen. Diese Weigerung hat meines Erachtens mit dem amerikanischen Pragmatismus zu tun, also einem Umgang mit der Wirklichkeit, der antimetaphysisch, antihistorisch und kurioserweise sogar antiphilosophisch ist. Unterstützt wird dies durch einen postmodernen Antinominalismus, der alles auf Satzstrukturen und sprachlichen Kontext reduziert. Auch er hat sich zu einem einflussreichen Denksystem entwickelt, das neben der analytischen Philosophie an den Universitäten Amerikas seinen Platz behauptet. Und zwar im Gegensatz zu Denkern wie Hegel und Heidegger: Sie werden etwa an der Princeton University kaum noch von Philosophen unterrichtet, sondern hauptsächlich von Historikern und Literaturwissenschaftlern.
Die beschriebenen narrativen Grundmuster sind also erstaunlich zählebig. Sie werden von der neu organisierten und mobilisierten US-Kommunikationsmaschine ohne jegliche Hemmungen unters Volk gebracht. Dabei fällt die Tradition abweichenden Denkens, das sozusagen inoffizielle Gegengedächtnis Amerikas, einfach unter den Tisch. Das Dissidententum, das vor allem von der Tatsache herrührt, dass es sich hier um eine Gesellschaft von Einwanderern handelt, lebt außerhalb wie innerhalb der beschriebenen Narrathemen weiter. Die meisten ausländischen Beobachter nehmen die vielen abweichenden Meinungen kaum zur Kenntnis. Dabei stellen diese progressiven wie auch regressiven Gruppen die eigentlich unsichtbaren Verbindungslinien zwischen den großen Blöcken der Narrathemen her und machen sie für den geschulten Beobachter sichtbar.
Würde man zum Beispiel die einzelnen Komponenten des mächtigen Widerstands gegen George Bushs Irakkrieg untersuchen, so hätte man ein ganz anderes, dynamisches Bild von den USA, das im Übrigen von der Bereitschaft zur internationalen Zusammenarbeit, zum Dialog und zu folgenreichem gemeinsamem Handeln zeugt. Ich will hier jetzt nicht von den vielen Menschen sprechen, die den Krieg wegen der vielen potenziellen Opfer, der exorbitanten Kosten und der katastrophalen Folgen für die ohnehin zerrüttete Wirtschaft ablehnen. Ich will auch nicht auf das breite und wirre Spektrum der Meinungen am äußersten rechten Rand eingehen, wo die USA bereits als Opfer eines Verrats von perfiden Ausländern, gottlosen Kommunisten und der Vereinten Nationen gesehen werden. Auch die libertären und isolationistischen Kreise mit ihrer eigenwilligen Kombination linker und rechter Grundsätze kann ich hier so wenig kommentieren wie die vielen idealistischen Studenten, die Amerikas Außenpolitik in fast allen ihren derzeitigen Formen ebenso misstrauisch beäugen wie den gesamten Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung. Diese moralisch aufrechten, bisweilen fast anarchischen Studenten haben an den Universitäten der USA über lange Zeit die Auseinandersetzung über Themen wie den Vietnamkrieg, die südafrikanische Apartheid und die Bürgerrechte im eigenen Land am Leben erhalten.
ICH will mich im Folgenden auf einige wichtige und zum Teil recht erhebliche Wählergruppen konzentrieren, die jeweils ihre eigene Geschichte und ein spezifisches politisches Bewusstsein haben. Diese Kreise zählen sich im Allgemeinen zur Linken in der europäisch-asiatischen Bedeutung des Wortes. Wobei klar ist, dass es in den USA seit 1945 keine nennenswerte parlamentarisch organisierte Linke gegeben hat, weil der Apparat der beiden etablierten Parteien dafür zu stark war. Die Demokratische Partei gleicht derzeit einem Scherbenhaufen und dürfte so bald nicht wieder auf die Beine kommen. Zu dem hier interessierenden Spektrum zählt also zunächst der enttäuschte und immer noch recht radikale Flügel der afroamerikanischen Bewegung, also die vorwiegend städtischen Aktionsgruppen, die gegen die brutalen Methoden der Polizei, gegen die Diskriminierung am Arbeitsplatz und für bessere Wohnverhältnisse und Bildungseinrichtungen kämpfen. Ihre führenden Vertreter sind charismatische Persönlichkeiten wie Reverend Al Sharpton, der Jurist Cornel West, Muhammed Ali, Jesse Jackson (der als Politiker wohl ausgedient hat). Die meisten von ihnen sehen sich in der Tradition von Martin Luther King jr.
Mit dieser Bewegung verbündet sind viele ethnische Aktionsgruppen etwa von Latinos, Indianern und Muslimen. All diese Gruppen haben energisch versucht, sich in den politischen Mainstream einzufädeln: Sie streben nach politischen Ämtern auf lokaler und nationaler Regierungsebene, sie drängen in die Talkshows und in die Leitungsgremien von Stiftungen, Universitäten und Unternehmen. Gleichwohl ist die wichtigste Triebfeder bei den meisten dieser Gruppen nach wie vor weniger der individuelle politische Ehrgeiz als vielmehr das Gefühl, diskriminiert und ungerecht behandelt zu werden. Das dürfte auch erklären, warum sie nicht bereit sind, voll auf den vorwiegend vom weißen Mittelstand verfolgten "amerikanischen Traum" vom sozialen Aufstieg zu setzen. Interessant an Figuren wie dem Bürgerrechtler Al Sharpton (oder auch Ralph Nader als Führer der immer noch ums Überleben kämpfenden Grünen Partei) ist denn auch, dass sie zwar weithin wahrgenommen werden und angesehene Persönlichkeiten sind, dass sie aber dennoch Außenseiter bleiben. Diese prinzipienfesten Leute sind gegen eine Vereinnahmung durch das Establishment resistent, weil ihnen die gängigen gesellschaftlichen Gratifikationen einigermaßen gleichgültig sind.
Die kritische Strömung in der US-amerikanischen Gesellschaft wird auch durch den progressiven Flügel der Frauenbewegung gestärkt. Auch ein Teil der eher zurückhaltenden, interessen- und aufstiegsorientierten Berufsverbände (etwa der Ärzte, der Rechtsanwälte, der Wissenschaftler und vor allem der Hochschullehrer) sowie einige Gewerkschaften und manche Umweltaktivisten tragen zur Dynamik der oppositionellen Strömung bei.
Auch die großen organisierten Kirchen sind stets ein potenzieller Nährboden für oppositionelles Denken und politischen Wandel. Ihre Mitglieder muss man klar von den oben geschilderten fundamentalistischen und teleevangelistischen Bewegungen unterscheiden. So haben sich katholische Bischöfe, Laien und Kleriker der Episkopalkirche sowie die Synoden der Quäker und Presbyterianer vor der Alternative Krieg oder Frieden überraschend progressiv geäußert. Sie waren auch bereit, gegen die Missachtung der Menschenrechte auf internationaler Ebene, gegen die enorm aufgeblähten Militärbudgets und gegen eine neoliberale Wirtschaftspolitik zu protestieren, die seit den 1980er-Jahren die öffentlichen Haushalte austrocknet. In der organisierten jüdischen Gemeinde gab es traditionell ein Milieu, das sich für fortschrittliche Kampagnen zugunsten von Minderheitenrechten im In- und Ausland engagiert. Doch der Handlungsspielraum für progressive Juden in diesem Land hat sich seit der Regierungszeit Reagans erheblich eingeengt. Das ist vor allem eine Folge des Aufstiegs der Neokonservativen, der Allianz zwischen Israel und der religiösen Rechten und einer hektischen, von zionistischen Kreisen organisierten Kampagne, die jede Kritik an Israel als Antisemitismus bezeichnet und sogar mit der Angst vor einem neuen, amerikanischen Auschwitz spielt.
Schließlich haben sehr viele Menschen durch ihre Teilnahme an Versammlungen, Protestmärschen und friedlichen Demonstrationen dem geisttötenden Patriotismus, der nach dem 11. September dominierte, die Gefolgschaft gekündigt. Solche Proteste entzündeten sich zum Beispiel an der Beschneidung von Bürgerrechten durch Gesetze wie den Terrorist Act oder den Patriot Act. Sie äußern sich in der Kampagne gegen die Todesstrafe, in sporadischen Protesten gegen die verfassungswidrigen Zustände im Gefangenenlager von Guantánamo, im allgemeinen Misstrauen gegenüber zivilen und militärischen Instanzen, im wachsenden Unbehagen angesichts der Privatisierung eines Gefängnissystems, das prozentual mehr Menschen - bekanntlich überwiegend Schwarze - wegsperrt als in jedem anderen Land der Welt. Diese und andere Themen und Auseinandersetzungen sind dazu angetan, den herrschenden Mittelklassenkonsens in der amerikanischen Gesellschaft dauerhaft und empfindlich zu beeinträchtigen. Ein Nebenschauplatz ist dabei natürlich auch der Dschungel des Cyberspace, in dem das offizielle und das inoffizielle Amerika unnachgiebig um die Vorherrschaft kämpfen.
Die aktuelle Lage, die durch eine zweifellos tief greifende Rezession herbeigeführt wurde, entzaubert auch einige der hochgejubelten Vorzüge des US-Kapitalismus. Man denke nur an die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die skandalöse Verschwendung und Korruption unter Amerikas Wirtschaftsführern oder die Bedrohung der sozialen Sicherungssysteme durch Privatisierungspläne.
Steht Amerika wirklich einig hinter diesem Präsidenten, hinter seiner aggressiven Außenpolitik und seinen gefährlich einfältigen ökonomischen Visionen? Steht die amerikanische Identität ein für allemal fest? Bleibt der übrigen Welt, die sich mit der Tatsache der weltweit agierenden US-Militärmacht abfinden muss, wirklich nichts anderes übrig, als in dieser Macht ein monolithisches Monster zu sehen, das unkontrolliert durch die Welt torkelt und dabei auf die volle Unterstützung aller "Amerikaner" zählen kann?
Ich habe versucht, eine andere Sichtweise anzuregen. In dieser anderen Perspektive ist Amerika ein Land in Schwierigkeiten, dessen aktuelle Situation viel uneinheitlicher ist als gemeinhin wahrgenommen. Genau besehen, sind die USA ein Land mit ernsthaften Konflikten zwischen konkurrierenden Identitäten. Sie mögen den Kalten Krieg gewonnen haben. Was dieser Sieg im Lande selbst für Folgen haben wird, ist noch kaum abzusehen. Wenn man sich zu sehr auf die militärische und politische Macht der amerikanischen Exekutive konzentriert, übersieht man leicht diese andauernde innere Dialektik. Sowohl Francis Fukuyamas These vom "Ende der Geschichte" als auch Samuel P. Huntingtons "Kampf der Kulturen" liegt ein großer Irrtum zugrunde: Beide verstehen die Kulturgeschichte als klar umgrenztes Feld, als zeitliche Abfolge von Anfang, mittlerer Phase und Ende. Tatsächlich aber gleicht das kulturell-politische Feld viel eher einer Arena, in der sich die Kämpfe um Identität, Selbstdefinition und Zukunftsvisionen abspielen. In Anbetracht der flüchtigen, ständigen Veränderungen unterliegenden Kulturen erweisen sich die genannten Theoretiker als Fundamentalisten. Denn sie versuchen, starre Grenzen und Regeln zu verordnen, wo es in Wirklichkeit keine geben kann.
Kulturen überschneiden sich stets mit anderen Kulturen, und das gilt zumal für die amerikanische, die ja eine Einwandererkultur ist. Als Folge der Globalisierung gibt es heute Staaten übergreifende Gemeinschaften mit weltumspannenden Interessen, z. B. eine Frauenbewegung, eine Friedensbewegung, eine Menschenrechtsbewegung. Amerika kann sich von solchen Bewegungen nicht abschotten. Doch erst wenn man die einschüchternde Einheitsfassade durchdringt, kann man sehen, was dahinter liegt. Erst dann kann man sich in politische Auseinandersetzungen einmischen - und eine Perspektive entwickeln, die Mut macht und neue Hoffnung weckt.
deutsch von Herwig Engelmann
Fußnoten:
(1) Julie Schor, "The Overworked American: the unexpected decline of leisure", New York (Basic books) 1991.
(2) Linda Symcox, "Whose history?: the Struggle for national Standards in American classrooms", New York (Teachers College Press) 2002.
Le Monde diplomatique Nr. 7004 vom 14.3.2003, 85 Zeilen, EDWARD W. SAID