Meinung und Analyse / Gastkommentar
Irak-Krise
Frieden ist das höchste Gut
Von HANS-CHRISTOF VON SPONECK *)
Von HANS-CHRISTOF VON SPONECK Die Bedrohung des Iraks wird konkreter. Wenn US-Präsident George W. Bush sagt, es sei "nicht ermutigend", was aus Bagdad zu hören ist, meint er damit nicht die bestehende menschliche Not, sondern die in seinen Augen mangelnde Kooperation des Iraks mit den Uno-Waffeninspekteuren und den von den Irakern übergebenen Waffenbericht mit "Löchern". Uno-Generalsekretär Kofi Annan und der Leiter der Abrüstungsbehörde, Hans Blix, sehen das anders. Im Gegensatz zu Washington ist man in New York nach den ersten drei Wochen der Wiederaufnahme der Waffeninspektionen mit der Zusammenarbeit am Ort zufrieden. Der abgegebene Bericht allerdings müsste ergänzt und erklärt werden.
Der Irak hat die am 8. November 2002 im Sicherheitsrat verabschiedete Resolution 1 441 bedingungslos akzeptiert, obwohl die darin enthaltenen Forderungen hart und auch demütigend sind. Der verlangte Zeitplan für die Übergabe einer Waffenbestandsaufnahme, das Verhören von Wissenschaftlern außerhalb des Landes und die Durchsuchung von Palästen stellen bewusste Provokationen dar. Im Gegensatz zu früheren Resolutionen wird eine Aufhebung der Wirtschaftssanktionen in dieser Resolution nicht mehr erwähnt.
In den kommenden Wochen wird die amerikanische Regierung die Irak-Politik weiterhin zweigleisig ausbauen. Zum einen wird sie die Kriegsvorbereitungen zügig weiterverfolgen. Die Absage einer Afrika-Reise von Bush zeigt, dass der Januar ein kritischer Monat werden wird. Die USA werden ihre diplomatischen Bemühungen fortsetzen, um eine Kriegskoalition zu Stande zu bringen. Im Sicherheitsrat und in Kontakten mit europäischen Regierungen wird "dual use" für Washington zu einem Schlüsselwort der Gespräche werden. Hier geht es um die Frage, ob irakische Industrieanlagen für friedliche oder militärische Zwecke gebraucht worden sind. Das vom Irak überreichte Kompendium über Massenvernichtungswaffen ist für die Amerikaner das Kernstück der Beweisführung, dass Anlagen für die Herstellung von Massenvernichtungswaffen weiterhin existieren und Informationen unterschlagen worden sind. Damit würde für sie ein "material breach", ein schwer wiegender Verstoß vorliegen. Das wäre eine Berechtigung, Krieg zu führen. Mit der Warnung der Amerikaner, dass sie eine Politik der "null Toleranz" verfolgen, sind diese Anlagen eine ernst zu nehmende Achillesferse für den Irak! Hans Blix und sein Team müssen zur Frage Stellung nehmen, ob diese Anlagen für die Herstellung von Massenvernichtungswaffen missbraucht worden sind. Die Aufmerksamkeit der Politiker und das Interesse der Medien stehen im Bann der Frage eines möglichen Krieges gegen den Irak. Dass hinter jeder Irak-Entscheidung, ob sie vom US-Kongress, dem Uno-Sicherheitsrat oder der Bundesregierung gefällt wird, Menschen mit Lebenshoffnungen und Gefühlen stehen, tritt in den Hintergrund.
In der Öffentlichkeit wenig bekannt und noch weniger diskutiert ist die Tatsache, dass die Bevölkerung durch die Repressalien im Inneren und die schwer wiegenden Folgen einer falschen internationalen Sanktionspolitik doppelt gestraft ist. In Berichten der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen wird immer wieder aufgezeigt, was seit langem in Regierungskreisen erkannt, aber nur zögernd zugestanden wird: Sanktionen und nicht die Diktatur allein sind für den Zusammenbruch der irakischen Gesellschaft verantwortlich. Eine solche Behauptung wird in Washington und London als nicht seriös abgetan und ignoriert.
Dennoch kam eine Uno-Untersuchungskommission im März 1999 zu folgendem Schluss: "Ohne die Beschränkungen des Uno-Sicherheitsrats und die Folgen des Golfkrieges wäre die irakische Bevölkerung nicht derartigem Leid und essenziellen Entbehrungen ausgesetzt."
Ein Jahr später sprach der ehemalige Leiter der Uno-Menschenrechtskommission, Marc Bossuyt, in einem Bericht der Vereinten Nationen davon, dass "Sanktionen einen Völkerrechtsbruch darstellen". Man kann schon lange nicht mehr so tun, als wisse man davon nichts. Wer als verantwortlicher Staatsmann solche Tatsachen ignoriert, macht sich mitschuldig. Die irakische Bevölkerung wird weiterhin dafür bestraft, dass sie ihren Diktator ertragen muss, wahrlich eine seltsame Logik.
Seit sechs Jahren gibt es im Irak das so genannte Öl-für-Nahrungsmittel-Programm. Seit Beginn dieses Programms bis zum 4. Dezember 2002 sind im Irak lebenswichtige Güter im Wert von 24 Milliarden Euro eingetroffen. Diese Zahl allein beinhaltet eine Anklage, denn sie bedeutet für eine Bevölkerung von 23 Millionen Menschen einen jährlichen Einfuhr-Wert von etwa 175 Euro pro Kopf. Niemand kann behaupten, dass ein solches "humanitäres" Programm menschlich ist und selbst minimalen Bedürfnissen an Nahrungsmitteln, Medikamenten und Wasser sowie der Abwasserentsorgung, Elektrizität und anderem gerecht werden kann. Das Trauma der jahrelangen Bombardierungen in den Flugverbotszonen und die Kriegsdrohungen haben die menschliche Tragödie vergrößert.
Zwei Beispiele über Tod und Leben im Irak, über Kindersterblichkeit und Schulbildung, verdeutlichen, wie schlimm die Lebensbedingungen sind: Im Jahr 1990, zu Beginn der Sanktionen, sind im Irak laut Unicef 56 Kinder unter fünf Jahren pro Tausend Einwohner gestorben. Neun Jahre später, 1999, war die Kindersterblichkeit auf 131 pro Tausend angestiegen. In nur einer Dekade kam ein Land, das eines der modernsten Gesundheitssysteme im Mittleren Osten besaß, damit auf den letzten Platz der 188 Länder, deren Daten ausgewertet worden waren. Verschmutztes Wasser, fehlende Medikamente und Unterernährung werden als Ursachen angeführt. Zum Vergleich: Die Zahl der Kinder unter fünf Jahren, die jährlich in Deutschland sterben, liegt bei fünf auf Tausend!
Die Iraker sind seit jeher stolz auf die alte Zivilisation des Zweistromlands. Bildung hat in ihrem Land immer eine wichtige Rolle gespielt. Vor dem Golfkrieg studierten junge Menschen aus dem gesamten islamischen Mittleren Osten im Irak. Im Jahr 1987 bekam das Land eine Auszeichnung von der Unesco, weil die Regierung das Analphabetentum auf 20 Prozent gesenkt hatte. Unicef schätzt, dass heute nur noch etwa die Hälfte der schulpflichtigen Kinder des Lesens und Schreibens kundig ist. Sanktionen bestrafen also alle; auch die jungen Menschen, die sich auf ein verantwortungsvolles Leben vorbereiten sollten. Die Uno-Menschenrechtserklärung spricht von dem Recht eines jeden auf Bildung. In einer Welt, in der das Recht immer mehr auf der Seite der Mächtigen steht, wird den jungen Irakern, die in einem "bösen" Land leben, dieses Recht verweigert.
"Krieg ist die humanere Alternative zu Saddam Hussein", meinte kürzlich eine Völkerrechtlerin der Yale-Universität. Daraus spricht, wie wenig verstanden wird, was ein Krieg für die irakische Bevölkerung bedeuten würde. Der Krieg wird sich nicht auf die Wüste beschränken. Die urbanen Zentren des Iraks, besonders Bagdad, Basra, Mossul und Kirkuk werden flächendeckend bombardiert werden. Hochtechnologisierter Krieg ist ein Krieg der Feiglinge. Erst wenn am Boden große Zerstörung erfolgt ist, werden die Angreifer es wagen, Bodentruppen einzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt wird es schon viele tote irakische Soldaten und noch mehr tote Zivilisten gegeben haben. Für die darauf folgenden Straßenkämpfe müssen dann für die amerikanischen Truppen Leichensäcke bereitstehen.
Die Opfer sind ein Grund, gegen diesen Krieg zu sein. Wichtiger jedoch ist es, die Berechtigung für einen solchen Krieg generell in Frage zu stellen. Der Irak kooperiert mit den Waffeninspekteuren, und eine internationale Bedrohung durch den Irak gibt es nicht, Präventivkrieg verstößt gegen das Völkerrecht. Ein alleiniger Angriffskrieg der USA würde auch zur Bedeutungslosigkeit des Uno-Sicherheitsrats beitragen und der Welt vor Augen führen, was aus den Begriffen "Demokratie" und "Menschenrechte" nicht nur in Bagdad, sondern auch in Washington gemacht worden ist.
Europa hat immer noch die Wahl, den "amerikanischen Freund" zur Räson zu bringen und ihn von einem erneuten Griff zur Waffe abzuhalten. Dazu wird eine gemeinsame politische Aussage dringend gebraucht. "Ohne eine solche wird Europa keinen wirklichen Einfluss auf die internationalen Irak-Entscheidungen haben", sagt der Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi. Er und der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa, sollten zusammen für eine politische Lösung des Irak-Konflikts eintreten.
Europa und der Mittlere Osten müssen verstärkt das Gespräch suchen. Dies wäre ein Beitrag zum Frieden und ein Weg, um Vorurteile abzubauen. Die Ursachen des Terrorismus müssen bekämpft werden. Frieden als höchstes Gut, nicht nur als Zeit zwischen zwei Kriegen, zu verteidigen, das ist die Herausforderung des Augenblicks.
*) Hans-Christof von Sponeck war von 1998 bis 2000 Uno-Koordinator für den Irak.