Von Arundhati Roy
Mesopotamien. Babylon. Euphrat und Tigris. Wie viele Kinder in wie vielen Schulen sind seit wie vielen Jahrhunderten auf den Flügeln dieser Wörter in die Vergangenheit gesegelt! Und nun wird diese uralte Zivilisation bombardiert, verbrannt, gedemütigt. Jugendliche amerikanische Soldaten malen in kindlicher Schrift anschauliche Botschaften auf ihre Raketen: "For Saddam, from the Fat Boy Posse." Ein Gebäude wird getroffen, ein Marktplatz, ein Wohnhaus. Ein Mädchen, das einen Jungen liebt. Ein Kind, das nur mit den Murmeln seines älteren Bruders spielen wollte.
Am 21. März, einen Tag nach Beginn des völkerrechtswidrigen Einmarschs amerikanischer und britischer Soldaten in den Irak, interviewte ein "eingebetteter" CNN-Journalist einen amerikanischen Soldaten. "Ich will da rein und mitmischen", sagte der Gefreite AJ. "Ich will den 11. September rächen." Dem Journalisten muß man zugute halten, daß er, obschon "eingebettet", immerhin andeutete, daß eine Verbindung zwischen der irakischen Regierung und den Anschlägen vom 11. September nicht nachgewiesen worden sei. Der Gefreite AJ streckte die Teenagerzunge weit hinaus und sagte: "Ah, das ist mir jetzt zu hoch."
Laut einer Umfrage von "New York Times" und CBS News sind 42 Prozent der Amerikaner davon überzeugt, daß Saddam Hussein für die Anschläge auf World Trade Center und Pentagon unmittelbar verantwortlich ist. Und laut einer Umfrage von ABC News sind 55 Prozent der Amerikaner davon überzeugt, daß Saddam Hussein Al Qaida direkt unterstützt. Wie viele amerikanische Soldaten an diese Märchen glauben, kann man sich leicht ausmalen. Den britischen und amerikanischen Truppen, die im Irak kämpfen, wird vermutlich nicht bewußt sein, daß ihre Regierungen Saddam selbst während seiner schlimmsten Exzesse politisch und finanziell unterstützt haben.
Aber warum sollte man den armen AJ und seine Kameraden mit derlei Einzelheiten behelligen? Es bringt doch nichts mehr. Hunderttausende Soldaten, Panzer, Schiffe, Hubschrauber, Bomben, Munition, Gasmasken, proteinangereicherte Lebensmittel, Transportflugzeuge voller Toilettenpapier, Insektenschutz, Vitaminpillen und Wasser sind in Bewegung. Die phänomenale Logistik macht die Operation "Irakische Freiheit" zu einer eigenen Welt. Sie muß sich nicht mehr rechtfertigen. Sie existiert.
Präsident George W. Bush, Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte, hat die eindeutige Anweisung gegeben: "Der Irak. Wird. Befreit." (Vielleicht meint er, daß man, selbst wenn Iraker sterben, ihre Seelen befreien werde.) Amerikaner und Briten schulden es ihrem Oberkommandierenden, nicht mehr nachzudenken, sondern ihre Soldaten zu unterstützen. Ihre Länder führen Krieg. Und was für einen Krieg.
Nachdem man den Irak mit freundlicher Hilfe der UN-Diplomatie (Wirtschaftssanktionen, Waffeninspektionen) in die Knie gezwungen und erreicht hatte, daß die Bevölkerung hungerte, eine halbe Million Kinder gestorben und die Infrastruktur des Landes erheblich zerstört war, und nachdem man - in einem Akt historisch beispielloser Feigheit - dafür gesorgt hatte, daß die meisten Waffen zerstört waren, schickten die
"Alliierten"/"Die Koalition der Willigen" (besser bekannt als die Koalition der Genötigten und Gekauften) eine Invasionsarmee ins Land. Operation "Irakische Freiheit"? Wohl eher eine Operation nach dem Motto "Wir machen einen Wettlauf, aber vorher breche ich dir die Knie".
Bislang hat es die irakische Armee, mit ihren hungrigen, schlecht ausgerüsteten Soldaten, ihren alten Gewehren und Panzern, irgendwie geschafft, die "Alliierten" zeitweilig zu verwirren und gelegentlich sogar zu überlisten. Im Kampf gegen die reichsten, bestausgerüsteten, stärksten Streitkräfte, die die Welt je gesehen hat, beweist der Irak spektakulären Mut und leistet sogar Widerstand. Den Bush & Blair sofort als
"hinterlistig" und "feige" bezeichnet haben. (Bei uns Eingeborenen hat List jedoch eine lange Tradition. Wenn wir überfallen/kolonisiert/besetzt und unserer Würde beraubt werden, greifen wir auf Tricks und Opportunismus zurück.) Selbst wenn man berücksichtigt, daß der Irak und die "Alliierten" Krieg führen - die Sprache der Alliierten und ihrer Medienkohorten ist bemerkenswert, fast schon kontraproduktiv.
Als Saddam Hussein nach dem Scheitern des aufwendigsten Attentatversuchs in der Geschichte im Fernsehen erschien, um zur irakischen Bevölkerung zu sprechen, bezeichnete der britische Verteidigungsminister Geoff Hoon ihn als Feigling, der sich lieber verstecke, als mutig aufzustehen und sich töten zu lassen. Dann setzte auf seiten der Koalition eine Flut von Spekulationen ein - war es wirklich Saddam oder doch sein Double? Vielleicht Usama Bin Ladin, der sich den Bart abgenommen hatte? War es aufgezeichnet? War es Schwarze Magie? Wird er sich in einen Schwächling verwandeln, wenn wir es nur genug wollen?
Nachdem nicht Tausende von Bomben auf Bagdad gefallen und irrtümlich ein Marktplatz getroffen und Zivilisten ums Leben gekommen waren, gab ein Sprecher der amerikanischen Armee zu verstehen, daß die Iraker sich selbst in die Luft sprengen. "Sie verwenden uraltes Gerät. Ihre Raketen gehen hoch und fallen wieder runter." Da wüßte man doch gern, wie sich das mit der Anschuldigung verträgt, das irakische Regime
gehöre zur Achse des Bösen und sei eine Gefahr für den Weltfrieden.
Wenn der arabische Fernsehsender Al Dschazira zivile Opfer zeigt, wird das als "emotionale" arabische Propaganda kritisiert, die eine feindselige Stimmung gegenüber den "Alliierten" schüren soll - so als stürben Iraker nur, damit die "Alliierten" schlecht dastehen. Dagegen werden die ehrfurchterregenden, atemberaubenden Bilder von Flugzeugträgern, Tarnkappenbombern und Marschflugkörpern, die in den Wüstenhimmel amerikanischer und britischer Fernsehsender aufsteigen, als "furchtbare Schönheit" des Krieges bezeichnet.
Wenn gefangengenommene amerikanische Invasionssoldaten (der Armee, die "nur gekommen ist, zu helfen") im irakischen Fernsehen vorgeführt werden, ist das für George W. Bush ein Verstoß gegen die Genfer Konvention, in dem sich der böse Kern des Regimes zeige. Aber es ist völlig normal, wenn amerikanische Fernsehsender Gefangene zeigen, die auf dem Stützpunkt Guantanamo gehalten werden, auf der Erde kniend,
die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Augen verbunden und die Ohren zugestopft. Werden Vertreter der amerikanischen Regierung darauf angesprochen, bestreiten sie keineswegs, daß diese Leute schlecht behandelt werden. Aber sie bestreiten, daß es sich um "Kriegsgefangene" handelt. Sie bezeichnen sie als "irreguläre Kombattanten", was heißen soll, daß ihre schlechte Behandlung legitim ist. (Wie sieht eigentlich die offizielle Sprachregelung in bezug auf das Massaker an den Gefangenen in Mazar-i-Sharif aus? Vergeben und Vergessen?)
Als die "Alliierten" den irakischen Fernsehsender bombardierten (auch das übrigens ein Verstoß gegen die Genfer Konvention), erhob sich vulgärer Jubel in den amerikanischen Medien. Fox TV hatte diesen Angriff schon eine ganze Weile gefordert. Er wurde als legitimer Schlag gegen die arabische Propaganda angesehen. Die meisten amerikanischen und britischen Fernsehsender bezeichnen ihre Berichterstattung als "ausgewogen", obwohl ihre Propaganda halluzinatorisches Niveau erreicht hat.
"Eingebettete" westliche Journalisten gelten als heldenhafte Frontberichterstatter. Nicht "eingebettete" Journalisten (wie BBC-Korrespondent Rageh Omaar, der aus Bagdad berichtet, sichtlich betroffen vom Anblick toter Kinder und Verwundeter) müssen sich vor ihren Reportagen die Einschränkung gefallen lassen: "Wir weisen darauf hin, daß unser Korrespondent von den irakischen Behörden überwacht wird."
Immer öfter werden irakische Soldaten im britischen und amerikanischen Fernsehen als "Milizen" (das heißt Pöbel) bezeichnet. Ein BBC-Reporter sprach ominös von "Quasi-Terroristen". Die irakische Verteidigung ist "Widerstand" oder, noch schlimmer, "vereinzelter Widerstand", die Strategie der irakischen Militärführung ist Hinterlist. (Wenn die amerikanische Regierung, wie vom "Observer" berichtet, die Telefone der Mitglieder des Sicherheitsrats anzapft, ist das Pragmatismus.) Aus Sicht der Alliierten gibt es für die irakische Armee nur eine einzige moralisch akzeptable Strategie: hinaus in die offene Wüste marschieren und von den Bomben der B-52 getroffen oder von Maschinengewehrfeuer niedergemäht werden. Alles andere ist Hinterlist.
Nun die Belagerung von Basra. Etwa anderthalb Millionen Menschen, vierzig Prozent davon Kinder. Kein sauberes Wasser, wenig Lebensmittel. Wir warten noch immer auf den "Aufstand" der Schiiten, darauf, daß Menschenmassen die Armee der "Befreier" mit Hosianna-Rufen begrüßen. Wo sind die Massen? Wissen sie nicht, daß die Fernsehredaktionen strenge Termine einhalten müssen? (Wenn das Regime Saddam Husseins fällt, könnte es durchaus sein, daß in den Straßen von Basra getanzt wird. Sollte das Regime Bushs fallen, würde freilich auf der ganzen Welt getanzt.)
Nachdem die Alliierten die Bevölkerung Basras tagelang zu Hunger und Durst verurteilt haben, wird beschlossen, Lebensmittel heranzuschaffen. Ein paar Lastwagen parken verlockend am Stadtrand. Verzweifelte Menschen drängen sich um die Fahrzeuge, um etwas zu ergattern. (Das Wasser, so ist zu hören, wird verkauft. Um die schwächelnde Wirtschaft zu beleben, verstehen Sie.) Auf den Lastwagen rangeln verzweifelte
Fotografen miteinander, um Bilder von verzweifelten Menschen zu machen, die um Lebensmittel kämpfen. Die Aufnahmen gehen über Bildagenturen an Zeitungen und Hochglanzmagazine, die gut dafür bezahlen. Die Botschaft: Die Messiasse sind gekommen und verteilen Gaben.
Im Juli letzten Jahres wurden Hilfslieferungen an den Irak im Wert von 5,4 Milliarden Dollar von Bush & Blair blockiert. In den Nachrichten wurde nicht groß darüber berichtet. Doch nun trafen auf der "Sir Galahad", von Fernsehreportern aufmerksamst begleitet, 450 Tonnen Hilfsgüter ein - ein Bruchteil des tatsächlichen Bedarfs, eine Film-Requisite, könnte man sagen. Einen ganzen Tag lang berichtete das Fernsehen über die Ankunft des britischen Schiffs in Umm Qasr. Spucktüte gefällig?
Nick Guttmann, Direktor von Emergencies for Christian Aid, schrieb im "Independent on Sunday", daß 32 Sir Galahads pro Tag notwendig wären, um auf das Niveau der Nahrungsmittellieferungen zu kommen, die der Irak vor Kriegsbeginn erhielt.
Doch wir sollten nicht überrascht sein. Es handelt sich um eine alte Taktik. Nehmen Sie nur diesen bescheidenen Vorschlag von John McNaughton aus den Pentagon Papers, der während des Vietnam-Kriegs gemacht wurde: "Angriffe auf bewohnte Ziele werden nicht nur eine kontraproduktive Welle der Empörung im In- und Ausland auslösen, sondern das Risiko, daß China oder die Sowjetunion in den Krieg eingreifen, erheblich verstärken. Die Zerstörung von Dämmen und Schleusen könnte dagegen, sofern richtig ausgeführt, . . . erfolgversprechend sein. Bei solchen Zerstörungen werden keine Menschen getötet. Wenn die Reisfelder unter Wasser gesetzt sind, führt das mit der Zeit zu großer Hungersnot, sofern keine Lebensmittel geliefert werden - was wir ,am Konferenztisch' anbieten könnten."
Seitdem hat sich nicht viel geändert. Aus der Technik ist eine Doktrin geworden. Sie heißt "Die Menschen gewinnen". Und das sind die Zahlen: Schätzungsweise zweihunderttausend Iraker sollen im ersten Golfkrieg getötet worden sein. Hunderttausende Tote wegen der Wirtschaftssanktionen. (Ihnen zumindest blieb Saddam Hussein erspart.) Jeden Tag kommen weitere hinzu. Zehntausende amerikanische Soldaten, die im Golfkrieg gekämpft haben, gelten aufgrund des Golfkriegsyndroms (einer Krankheit, die teilweise durch Berührung mit abgereichertem Uran ausgelöst wurde) offiziell als "kriegsversehrt". Die Alliierten hält das nicht davon ab, auch weiterhin abgereichertes Uran zu verwenden.
Und nun wird wieder von der Aufgabe der United Nations gesprochen. Doch es zeigt sich, daß das alte Mädchen UN nicht mehr das ist, was sie einmal war. Sie ist degradiert worden (bezieht aber weiterhin ein üppiges Gehalt). Jetzt ist sie der Hausmeister der Welt. Sie ist die philippinische Putzfrau, die indische Jamadarni, die thailändische Katalogbraut, die mexikanische Haushaltshilfe, das jamaikanische Au-pair-Mädchen. Ihre Aufgabe ist es, anderer Leute Müll zu beseitigen. Sie wird nach Belieben benutzt und mißbraucht.
Trotz Tony Blairs ernster Ergebenheitsadressen hat George W. Bush klargestellt, daß die Vereinten Nationen keine eigenständige Rolle in der Verwaltung eines Nachkriegs-Irak spielen werden. Amerika wird entscheiden, wer die lukrativen Wiederaufbau-Verträge bekommt. Bush hat an die internationale Gemeinschaft appelliert, das Thema humanitäre Hilfe nicht zu "politisieren". Am 28. März, nachdem der amerikanische
Präsident zur sofortigen Wiederaufnahme des UN-Programms "Öl für Lebensmittel" aufgerufen hatte, stimmte der Sicherheitsrat geschlossen für die Resolution. Es sind also alle der Meinung, daß irakisches Geld (aus dem Verkauf von Öl) zur Ernährung der irakischen Bevölkerung verwendet werden sollte, die wegen der Sanktionen und wegen des völkerrechtswidrigen Krieges Hunger leidet.
Verträge für den "Wiederaufbau" des Irak könnten der Weltwirtschaft wichtige Impulse geben. Merkwürdig, daß die Interessen von amerikanischen Konzernen so oft, so erfolgreich und so bewußt mit den Interessen der Weltwirtschaft verwechselt werden. Während letztlich das amerikanische Volk die Rechnung für den Krieg bezahlen muß, werden die Ölgesellschaften, die Rüstungsproduzenten, die Waffenhändler und die am Wiederaufbau beteiligten Firmen unmittelbar vom Krieg profitieren. Viele von ihnen sind alte Bekannte der Bush/Cheney/Rice-Clique. Bush hat den Kongreß bereits um 75 Milliarden Dollar ersucht. Über Verträge für den Wiederaufbau wird schon verhandelt. In den Nachrichten erfährt man davon nichts, weil die meisten amerikanischen Medien ebenjenen Konzernen gehören.
Bei der Operation "Irakische Freiheit", versichert uns Blair, gehe es darum, das irakische Öl dem irakischen Volk zurückzugeben. Will sagen: auf dem Umweg über multinationale Konzerne wie Shell, Chevron, Halliburton. Oder haben wir da etwas falsch verstanden? Ist Halliburton vielleicht ein irakisches Unternehmen? Ist Vizepräsident Dick Cheney (früher Chef von Halliburton) vielleicht heimlich ein Iraker?
Der Riß zwischen Europa und Amerika wird immer tiefer, und einiges deutet darauf hin, daß die Welt vor einer neuen Ära von Wirtschaftsboykottmaßnahmen steht. CNN berichtete, wie Amerikaner französischen Wein auf die Straße kippten und dazu riefen: "Wir wollen euer Gesöff nicht!" Auch deutsche Waren sollen in Amerika wohl bald boykottiert werden. Am meisten werden allerdings die Amerikaner selbst unter den Folgen des Krieges zu leiden haben. Ihr Land können sie mit Grenzpatrouillen und Atomwaffen schützen, aber ihre Wirtschaft erstreckt sich über den ganzen Globus. Die ökonomischen Vorposten sind ungeschützt und in jeder Hinsicht angreifbar. Schon gibt es im Internet detaillierte Listen amerikanischer und britischer Produkte und Unternehmen, die boykottiert werden sollen. Abgesehen von den üblichen Zielen - Coke, Pepsi und McDonald's -, könnten sich auch staatliche Agenturen wie der amerikanische und britische Entwicklungsdienst, britische und amerikanische Banken, Arthur Andersen, Merrill Lynch, American Express, Unternehmen wie Bechtel, General Electric und Firmen wie Reebok, Nike und Gap belagert sehen. Diese Listen werden von Aktivisten auf der ganzen Welt immer weiter vervollständigt. Sie könnten ein praktischer Führer sein, mit dessen Hilfe die amorphe, aber wachsende Empörung der Welt kanalisiert und dirigiert wird. Plötzlich scheint die "Unvermeidlichkeit" der Globalisierung doch mehr als nur ein wenig vermeidbar.
Es hat sich gezeigt, daß es bei dem Krieg gegen den Terrorismus in Wahrheit nicht um den Terrorismus geht und bei dem Krieg gegen den Irak nicht nur um Öl. Es geht um das selbstzerstörerische Streben einer Supermacht nach Dominanz, nach uneingeschränkter Macht, nach globaler Hegemonie. Manche sagen, daß Argentinier und Iraker Opfer des gleichen Prozesses seien. Nur die eingesetzten Waffen unterschieden sich -
in dem einen Fall das Scheckbuch des Internationalen Währungsfonds, im anderen Fall Marschflugkörper.
Ach ja, und dann müssen wir noch über die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein reden. In den Kriegswirren ist eines klar - wenn Saddam Hussein tatsächlich Massenvernichtungswaffen besitzt, reagiert er angesichts äußerster Provokation erstaunlich verantwortungsbewußt. Wäre unter ähnlichen Bedingungen (sagen wir, irakische Truppen bombardieren New York und belagern Washington) ähnliches von George W. Bush zu erwarten? Würde er Tausende atomarer Sprengköpfe in ihrer Verpackung lassen? Und die chemischen und biologischen Waffen? Nun?
Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt lache.
In den Kriegswirren müssen wir spekulieren: Saddam Hussein ist entweder ein äußerst verantwortungsbewußter Tyrann. Oder hat einfach keine Massenvernichtungswaffen. Ganz gleich, was in der nächsten Zeit passiert, am Ende dieser Auseinandersetzung wird der Irak angenehmer riechen als die amerikanische Regierung.
Der Irak - Schurkenstaat, ernste Bedrohung für den Weltfrieden, Teil der Achse des Bösen. Überfallen, bombardiert, belagert, genötigt, gedemütigt, die krebskranken Kinder chancenlos, die Menschen auf der Straße zerfetzt. Und wir schauen zu, bis spät in die Nacht. Wir ertragen das Grauen des Krieges, das Grauen der Propaganda und den Mord an einer Sprache, die wir kennen und verstehen. Freiheit heißt jetzt Massenmord. Wenn jemand "humanitäre Hilfe" sagt, halten wir automatisch Ausschau nach herbeigeführtem Hunger.
Fast überall auf der Welt wird der Irak-Krieg als rassistischer Konflikt angesehen. Die wahre Gefahr eines rassistischen Krieges, der von rassistischen Regimes entfesselt wird, besteht darin, daß er alle zu Rassisten macht - Täter, Opfer, Zuschauer. Dieser Rassismus prägt die Debatte, er legt das Fundament für eine bestimmte Sichtweise. Aus dem alten Herzen der Welt schlägt den Vereinigten Staaten eine Flut des Hasses entgegen. In Afrika, Lateinamerika, Asien, Europa, Australien begegnet er mir tagtäglich. Manchmal kommt er aus den erstaunlichsten Ecken. Banker, Geschäftsleute, Yuppie-Studenten mit ihren plumpen, konservativen, unliberalen Standpunkten. Diese absurde Unfähigkeit, zwischen Regierung und Bevölkerung zu unterscheiden. Amerika, sagen sie, ist eine Nation von Trotteln, von Mördern. (Ebenso unbekümmert sagen sie: "Alle Muslime sind Terroristen.") Und plötzlich stelle ich fest - ausgerechnet ich, der man "Antiamerikanismus" und eine "antiwestliche" Haltung vorwirft -, daß ich mich in der ungewöhnlichen Situation befinde, die Amerikaner zu verteidigen. Und die Briten.
Diejenigen, die so schnell in den Abgrund rassistischer Verunglimpfung hinabsteigen, sollten sich an die Hunderttausende Amerikaner und Briten erinnern, die gegen das Atomwaffenarsenal in ihren Ländern protestierten. An die Tausende amerikanischer Kriegsdienstverweigerer, die ihre Regierung zum Rückzug aus Vietnam zwangen. Sie sollten wissen, daß die differenzierteste, schärfste, unbändigste Kritik an der amerikanischen Regierung und dem amerikanischen way of life von Amerikanern selbst geübt wird. Und daß die bittersten Urteile über Blair von den britischen Medien kommen. Und schließlich sollte man sich daran erinnern, daß gerade jetzt Hunderttausende Briten und Amerikaner gegen den Krieg demonstrieren. Die Koalition der Genötigten und Gekauften besteht aus Regierungen, nicht aus Völkern.
Während die Alliierten in der Wüste auf einen Aufstand der Schiiten in Basra warten, findet der wahre Aufstand in Hunderten von Städten auf der ganzen Welt statt. Es ist die bislang spektakulärste Demonstration öffentlichen Moralbewußtseins. Tatsächlich gibt es nur eine Institution, die mächtiger ist als die amerikanische Regierung - die amerikanische Öffentlichkeit. Die Amerikaner tragen eine große Verantwortung. Wie können wir diejenigen nicht ehren und unterstützen, die diese Verantwortung nicht nur akzeptieren, sondern auch demgemäß handeln? Sie sind unsere Verbündeten, unsere Freunde.
Abschließend bleibt mir nur noch die Feststellung, daß Diktatoren wie Saddam Hussein und all die anderen Despoten im Nahen Osten, in den zentralasiatischen Republiken und Lateinamerika - installiert, unterstützt und finanziert zumeist von der amerikanischen Regierung - eine Bedrohung für ihre eigenen Völker sind. Im Grunde kann man mit ihnen nur umgehen, indem man die Zivilgesellschaft stärkt und sie nicht schwächt, wie im Fall Irak. (Merkwürdigerweise bringen gerade jene, die die Friedensbewegung als utopisch abtun, die absurdesten Gründe vor, weshalb sie Krieg führen: um den Terrorismus auszumerzen, um Demokratie zu bringen, um den Faschismus zu beseitigen und, besonders amüsant, um "die Welt vom Bösen zu befreien".)
Ganz gleich, was die Propagandamaschine uns weismachen will - die größte Bedrohung der Welt sind nicht die schäbigen Diktatoren. Die wahre Gefahr, die allergrößte Bedrohung ist die Kraft, die die politische und ökonomische Lokomotive der amerikanischen Regierung antreibt, die gegenwärtig von Bush gelenkt wird. Auf ihn einzudreschen macht Spaß, weil er ein so lohnendes Ziel ist. Gewiß, er ist ein gefährlicher, geradezu selbstmörderischer Lokomotivführer, aber viel gefährlicher als er selbst ist die Maschine, an deren Hebeln er sitzt.
Trotz der Düsternis, die uns zur Zeit umgibt, möchte ich vorsichtig zu Hoffnung aufrufen. In Kriegszeiten sieht man am liebsten seinen schwächsten Feind an der Spitze seiner Truppen. Und das ist Präsident Bush zweifellos. Jeder andere, auch nur halbwegs intelligente amerikanische Präsident hätte vermutlich nicht viel anders gehandelt, aber er hätte sein Vorgehen geschickt getarnt. Vielleicht hätte er sogar die Vereinten Nationen mit auf den Weg genommen. Bushs taktlose Dummheit und seine unverschämte Überzeugung, die Welt mit seinen Bereitschaftspolizisten beherrschen zu können, haben das Gegenteil bewirkt. Er hat erreicht, was Intellektuelle und Aktivisten seit Jahrzehnten versuchen. Er hat die Schaltwege freigelegt. Er hat in aller Öffentlichkeit Aufbau und Funktionsweise der apokalyptischen Maschinerie des amerikanischen Imperiums vorgeführt.
Nun, da die Konstruktionszeichnung (Das Imperium - eine Anleitung für gewöhnliche Menschen) massenhafte Verbreitung gefunden hat, könnte es sehr viel schneller, als von den Experten prophezeit, funktionsuntüchtig gemacht werden. Greifen wir zu den Schraubenschlüsseln.
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork.
Die indische Schriftstellerin und politische Aktivistin Arundhati Roy, geboren 1960, gilt seit Veröffentlichung ihres Romans "Der Gott der kleinen Dinge" als eine der wichtigsten Autorinnen des Subkontinents. Immer wieder hat sie die Wut vieler Menschen im Atomgürtel Indien/Pakistan auf die Vereinigten Staaten geschildert und die Taten und Qualen der Globalisierung angeprangert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.04.2003, Nr. 79 / Seite 48