DIE Fundamentalisten stehen irgendwo in den Bergen von Afghanistan. Ihr Anführer spricht ein kurzes Gebet, dann gelobt er sich und seinen Kameraden: "Wir werden Tod und Gewalt in alle Ecken der Welt exportieren, um unsere Große Nation zu verteidigen." Die zu allem entschlossenen Männer sind keine al-Qaida-Terroristen, sondern Soldaten einer US-Spezialeinheit, die islamistische Feinde in ihren Höhlen ausräuchern sollten, wie der Befehl ihres obersten Kriegsherrn lautet. Beschrieben ist die Szene von Bob Woodward in seinem Buch über den Kriegspräsidenten George W. Bush.
"The game is over", erklärte Bush, der den "Kampf gegen den Terrorismus" demnächst am Persischen Golf fortsetzen will, am 6. Februar. "The game is over." In diesem Satz ist die neue Weltordnung kodifiziert: im Urteilsspruch einer Regierung, die vor dem Weltforum zugleich als Ankläger und Richter auftritt. Einer Regierung, die durch den Mund von George W. Bush verkündet, man werde alles Nötige unternehmen "um uns gegen das irakische Regime zu verteidigen".
Dass "Verteidigung" durch Angriffskrieg gegen das Völkerrecht verstößt, tut nichts zur Sache. Umso schlimmer für das Völkerrecht, lautet die Botschaft der US-Regierung. Mit ihrer neuen Verteidigungsdoktrin vom 17. September 2002 hat sie den Präventivkrieg zum wichtigsten Instrument ihrer Weltmachtpolitik deklariert. Die unilaterale Willkür, mit der sie die internationale Rechtsordnung aus den Angeln hebt, macht heute vielen Menschen in aller Welt (und nicht nur im "alten Europa") ebenso viel Angst wie die Bedrohung durch Terroristen - was eine bemerkenswerte Leistung ist, wo doch die Weltmacht USA nach dem 11. September 2001 der Sympathie zumindest der demokratischen Welt sicher sein konnte. Die Fortsetzung des "Antiterrorkrieges" als Feldzug gegen den Irak ist glaubwürdig nicht zu begründen, doch dies ficht die Regierung Bush nicht an. Sie hat ihre Absichten dankenswert klar formuliert - und zwar lange vor dem 11. September 2001.
Im September 2000 publizierte ein konservativer Thinktank im Auftrag von Richard Cheney, Donald Rumsfeld und Paul Wolfowitz eine Denkschrift mit dem Titel: "Grundlegendes zur Aufrechterhaltung der weltweiten US-Vorherrschaft". Das war zwei Monate vor dem Wahlsieg der Republikaner, der die Troika Cheney-Rumsfeld-Wolfowitz an die Macht brachte. In dem Dokument heißt es: "Die USA versuchen seit Jahrzehnten, eine dauerhaftere Rolle für die Sicherheit der Golfregion zu spielen. Der ungelöste Konflikt mit dem Irak liefert zwar die unmittelbare Rechtfertigung, aber die Notwendigkeit für eine massive Präsenz von US-Streitkräften am Golf ist ein Thema, das weitreichender ist als das Problem des Saddam-Hussein-Regimes."
Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer dem Hinweis, dass auch die Entscheidung für den Irakkrieg viel weitreichender ist als das Ziel, die Golfregion zu kontrollieren. Das strategische Projekt der Cheney-Rumsfeld-Wolfowitz-Gruppe läuft unter dem Titel: Demontage des Völkerrechts. Was das bedeutet, lässt sich an der Behandlung des Irakkriegs im Weltsicherheitsrat studieren.
Da gibt es die Resolution 1441, die dem Irak "serious consequences" androht, falls das irakische Regime nicht hinreichend mit den Waffeninspektoren kooperiere. Dass diese Formulierung ein einzelnes UN-Mitglied ermächtigen soll, den Irak militärisch anzugreifen, kann nur behaupten, wer die UN-Charta nicht gelesen hat oder für unerheblich hält. Das Erste gilt für viele Journalisten, das Zweite für die Regierung in Washington. Wer beiden Instanzen misstraut, sollte das Grundgesetz der Völkergemeinschaft im Wortlaut lesen.
Die Voraussetzungen militärischer Gewaltanwendung der UN werden in Kapitel VII der Charta behandelt. Artikel 42 nennt den Akteur, der "die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen" kann. Das ist der UN-Sicherheitsrat, und niemand anderes. Entsprechend heißt es auch in Artikel 44: "Hat der Sicherheitsrat die Anwendung von Gewalt beschlossen "
Damit ist ein weiterer Punkt klargestellt: Der Einsatz von Gewaltmitteln muss explizit beschlossen werden. Eine dunkle Formulierung wie "ernste Konsequenzen" reicht nicht aus. Der Schweizer Völkerrechtler Daniel Thürer erläutert, die Ermächtigung zu Gewaltanwendung müsse "explizit gemacht und mit einem Minimum an Klarheit ausgesprochen werden". Die Auffassung der USA, die bewusst unklar gehaltene Formulierung in 1441 stelle bereits eine Kriegsermächtigung dar, ist schlicht völkerrechtswidrig.
Und noch etwas steht in der UN-Charta: Der Sicherheitsrat muss bei einem militärischen Einsatz Herr des Verfahrens bleiben, und zwar als Kollektivorgan. Diese Kompetenz kann nicht pauschal an einzelne Staaten delegiert werden. Schon gar nicht an einen Staat, der in seiner offiziellen strategischen Doktrin den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zum Programm erhoben hat. Wo in Artikel 48 die mögliche Rolle der einzelnen UN-Mitglieder beschrieben wird, heißt es eindeutig, dass Maßnahmen "zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit je nach dem Ermessen des Sicherheitsrats von allen oder von einigen Mitgliedern der Vereinten Nationen getroffen" werden. Diese Formulierung schließt aus, dass die USA - mit oder ohne eine "Koalition der Bereitwilligen" - ihre eigenmächtig beschlossene Militäraktion mit dem blauen UN-Fähnchen drapieren kann.
Die Verbindlichkeit der UN-Charta wird zuweilen mit dem Argument angezweifelt, Kapitel VII ginge von der idealen, aber irrealen Voraussetzung aus, dass die UN über einen eigenen Generalstabsausschuss verfügt, der auf stehende Kontingente der Mitgliedstaaten zurückgreifen kann. Eine eigene militärische Infrastruktur konnte die UN in der Tat nie aufbauen, die Großmächte haben im Kalten Krieg jeden Ansatz dazu im Keim erstickt. Erst nach 1989 wurde es möglich, die UN zu einer Art "globalen Interventionsmacht" auszubauen. Darum bemühte sich UN- Generalsekretär Butros Ghali in den frühen 1990er-Jahren. Doch seine Initiativen scheiterten vor allem an den USA. Zehn Jahre später will sich ausgerechnet diese Macht aus der UN-Charta bedienen wie aus einem Picknickkorb. Um sich das Recht zu greifen, das die Völkergemeinschaft nie an Einzelstaaten abgetreten hat: die Entscheidung über Zeitpunkt, Ziele und Mittel eines Angriffskriegs.
Die Anmaßung der USA wird auch dadurch nicht legitimer, dass eine Aushöhlung dieses Prinzips bereits erfolgt ist. Der einschlägige Sündenfall war die Ausweitung der Flugverbotszone über dem südlichen Irak, die von den USA und Großbritannien im Herbst 1996 ohne Konsultation mit der UNO um einen Breitengrad nach Norden erweitert wurde. Aber dieser ungerügte Präzedenzfall kann keinen neuen, ungleich gravierenderen Missbrauch von UN-Resolutionen begründen. Der würde dann vorliegen, wenn eine Kriegskoalition die in Resolution 1441 angedrohten "ernsthaften Konsequenzen" als Legitimation für einen Krieg kidnappen würde.
Die Regierung Bush macht aus ihrem zynischen Verhältnis zur Weltorganisation kein Geheimnis. Wenn der Sicherheitsrat sie zum Krieg ermächtigt: schönen Dank. Wenn nicht, wird der Präventivkrieg beginnen, den George W. Bush seiner Nation am 27. Januar versprochen hat: "Unsere Politik hängt nicht von den Entscheidungen anderer ab. Welche Aktion immer erforderlich ist, wann immer Handeln nötig ist, werde ich die Freiheit und Sicherheit des amerikanischen Volkes verteidigen."
Dies ist die Proklamation einer Freiheit, die nur die einzig verbliebene Weltmacht hat. Und die sich - da sie eine "gutartige Weltmacht" ist - guten Gewissens an die Stelle der internationalen Rechtsordnung setzt. Dieser paternalistisch daherkommende Zynismus scheint unüberbietbar, ist es aber nicht. Denn die Bush-Regierung will der UNO einreden, sie schaffe sich selbst ab, wenn sie den US-Plänen ihren Segen verweigere. Dabei ist es genau umgekehrt: Die UN macht sich überflüssig, wenn sie zum Notar von Entscheidungen degradiert wird, die längst ohne sie gefallen sind. Es wäre die bedingungslose Kapitulation der Weltorganisation. So sehen es auch hohe UN-Vertreter, die sich freilich nur anonym äußern, wie diese Stimme in der Neuen Zürcher Zeitung: "Eine militärische Intervention der USA im Irak ohne klare Ermächtigung durch den Sicherheitsrat hätte für die UNO ähnliche Konsequenzen, wie sie der Krieg Italiens 1935/36 gegen Abessinien für den Völkerbund hatte: den tragischen, totalen Zusammenbruch eines ambitiösen Systems einer rechtlichen Weltordnung."
Der Tod der UN wäre angesichts eines drohenden "terroristischen Zeitalters" noch folgenreicher als der Zusammenbruch des Völkerbundes. Die klügsten Analysen nach dem 11. September deuten das Selbstmordattentat mit kalkulierter globaler Wirkung als Kampfhandlung in einem asymmetrischen Krieg. Diese Bedrohung ist deshalb asymmetrisch, weil die Terroristen die Logik der militärischen Macht unterlaufen, indem sie mit minimalistischen Mitteln zivile Ziele angreifen. Es ist die barbarisch scharfsinnige Botschaft an einen Gegner, der auf militärischer Ebene unschlagbar ist. Es ist die qualitativ neue Form eines billigen Krieges in der quantitativen Welt von Hightech-Waffensystemen, die nur für die Supermacht finanzierbar sind.
Die einzige Ebene der Weltpolitik, auf der das Prinzip der Symmetrie, des fairen Ausgleichs von Interessen, zumindest der Idee nach anerkannt wird, ist das System der Vereinten Nationen. Sie ist auch die einzige Instanz, die für die Einhaltung des Völkerrechts sorgen kann, wie unvollkommen und realpolitisch verzerrt auch immer. Der Grundgedanke des Völkerrechts ist darauf gerichtet, Macht zu bändigen, die Rechte der Schwachen gegen die Starken zu schützen. Wer dieses System zerstört oder beschädigt, verstärkt die Asymmetrie im globalen Maßstab. Und verstärkt damit zugleich den Gegenpol zu der unangreifbar scheinenden Supermacht.
Allein die Eindämmung und Entwaffnung des Saddam-Hussein-Regimes unter UN-Verantwortung entspricht der Logik des geltenden Völkerrechts. Wer diese abändern will, soll dies offen verlangen und die Welt überzeugen. Doch die USA wollen diese Veränderung über den Präzedenzfall eines Präventivkriegs durchsetzen. Daran wird sie niemand hindern können. Aber dann sollte die neue Weltordnung auch so deutlich wie möglich hervortreten, ohne das Feigenblatt einer erpressten UN-Ermächtigung. Damit die Fronten wenigstens klar sind, für das alte Europa wie für die schöne neue Welt.
Le Monde diplomatique Nr. 6980 vom 14.2.2003, 273 Zeilen, NIELS KADRITZKE