Kurden im Irak


Jochen Hippler

Kurdistan - Ein ungelöstes Problem im Mittleren Osten

  Quelle: http://www.jochen-hippler.de/Aufsatze/Kurden_im_Irak/kurden_im_irak.html

Die Probleme der Kurden und der kurdischen Siedlungsgebiete gehören zu den konfliktgeladensten und schwierigsten im Nahen und Mittleren Osten, in einer Region, die ohnehin an Konflikten überaus reich ist. Es handelt sich nicht einfach um einen politischen oder ethnischen Konflikt, sondern um ein ganzes Konfliktbündel: Fragen der Menschenrechte, der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und wirtschaftlichen Diskriminierung, militärische Auseinandersetzungen bis hin zum Einsatz von Giftgas, innerkurdische Auseinandersetzungen, Konkurrenz und offener Krieg der Staaten der Region in kurdischen Gebieten, all dies sind nur einige der sich überschneidenden Konfliktlinien. Es handelt sich darüber hinaus um Auseinandersetzungen, die seit Jahrzehnten immer wieder aufflammen und die von äußeren Mächten nicht selten zu eigenen Zwecken instrumentalisert wurden.

Das kurdische Siedlungsgebiet erstreckt sich über Teile der Türkei, des Irak und des Iran, in geringerem Umfang auch bis nach Syrien und in die Sowjetunion. Insgesamt dürfte die Gesamtzahl der Kurden heute bei über 15 Millionen Menschen liegen. In der öffentlichen Debatte ist die Existenz von Kurden zum Teil überhaupt bestritten worden - in der Türkei -, zum Teil wurden die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen einfach als klassischer Fall eines nationalen Befreiungskampfes interpretiert, was der Realität zwar wesentlich näher kommt als die glatte Leugnung des Problems, aber doch nicht ganz den Punkt trifft. Zum Verständnis der Konflikte um und in Kurdistan ist es nötig, sich ihre Genese zumindest seit dem Ende des Ersten Weltkrieges ins Gedächtnis zu rufen.

Nach dem Zusammenbruch des Omanischen Reiches im I. Weltkrieg schlossen Großbritannien und der Sultan im August 1920 den Vertrag von Sevres. Darin wurde unter anderem die Möglichkeit der Gründung eines unabhängigen, kurdischen Staates vorgesehen. Nach Artikel 64 des Vertrages konnten die kurdischen Bewohner der Türkei innerhalb eines Jahres für Unabhängigkeit votieren und diese beim Rat des Völkerbundes beantragen. Wenn dieser zustimmte, hatte sich die Türkei zur Gewährung der Unabhängigkeit verpflichtet.(1) Dieses Recht sollte sich auch auf die Provinz Mosul beziehen. Aufgrund zweier miteinander verbundener Entwicklungen kam es nicht zur Durchführung dieser Bestimmungen: einmal entfielen durch den Aufstieg Mustafa Kemals (Atatürks) innerhalb der Türkei die Voraussetzungen. Kemal war zur Gewährung der Unabhängigkeit nicht bereit, er konzentrierte sich vielmehr mit allen Mitteln auf die Konservierung des noch bestehenden türkischen Territoriums und eine Türkisierung der Minderheiten. Zugleich verlor Großbritannien das Interesse an einem unabhängigen kurdischen Staatswesen: während es zuvor an der Stimulierung kurdischen Selbständigkeitsstrebens gegen das Osmanische Reich interessiert gewesen war, galt es nun, den neuen irakischen Staat zu unterstützen, der unter britischer Kontrolle war. Und in der Provinz Mosul lagerten beträchtliche Ölvorkommen, die die britische Regierung unter irakische Herrschaft zu bringen gedachte - und damit unter ihre eigene. Ein kurdischer Staat würde da nur hinderlich sein. Angesichts der Machtinteressen von beiden Seiten war damit die Entscheidung gegen ein unabhängiges Kurdistan gefallen, auch wenn der Völkerbund Ende September 1924 eine dreiköpfige Kommission ernannte, um in der türkischen Provinz Mosul ein Referendum durchzuführen. Ein Jahr später entschied die Kommission für eine Eingliederung von Mosul in den Irak, der Völkerbundrat beschloß entsprechendes zum Jahresende, was die Türkei Mitte 1926 widerwillig akzeptierte.(2)

Die nächste Chance kurdischer Staatlichkeit entstand als Folge des II. Weltkrieges. Sowjetische Truppen hatten im Krieg Teile des nördlichen Irans besetzt und dadurch eine Machtstellung im Iran erreicht. Die UdSSR förderte die Selbständigkeitsbestrebungen der iranischen Minderheiten, insbesondere der Aseris und der Kurden - in dem nicht eben selbstlosen Versuch, die iranische Regierung zur Vergabe einer Erdölkonzession zu veranlassen. Im Zuge dieser Situation entstand ein neuer Kleinstaat im iranischen Aserbaidschan und ein noch kleinerer, kurdischer Staat in der Stadt Mahabad. Diese Kurdenrepublik war der erste und einzige kurdische Staat in der Geschichte, sein Einfluß reichte über die Stadtgrenzen kaum heraus. Selbst die kurdischen Stämme der Umgebung konnten nur mühsam zur Loyalität gebracht werden. Der irakisch-kurdische Stammesführer Mullah Mustafa Barzani hatte zur gleichen Zeit mit seinen Kriegern aus dem Irak fliehen müssen, wo er mit rivalisierenden Stämmen und der irakischen Armee in Konflikt gelegen hatte. Er bot der Kurdenrepublik seine militärische Unterstützung an. Als die sowjetischen Truppen sich Ende 1946 aus dem Iran zurückzogen, verloren die beiden neuen Staaten ihre Existenzgrundlage, sie wurden noch im Dezember von iranischen Truppen besetzt, die Anführer hingerichtet.(3)

Nun ist es nicht so, daß es ansonsten in Kurdistan bis zum Ende des II. Weltkrieges ruhig und konfliktfrei gewesen wäre. Widerstand, Zusammenstöße und Kämpfe hatte es in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren reichlich gegeben, und zwar in der Türkei, dem Iran und dem Irak. Allerdings würde eine Interpretation in die Irre führen, die dies von Anbeginn an oder vorwiegend als einen nationalen Befreiungskampf deuten wollte. Davon kann erst einmal nur sehr indirekt die Rede sein. Kurdistan war traditionell von seinen Stammesverbänden geprägt, im neunzehnten Jahrhundert waren dann deutliche Feudalisierungstendenzen dazugekommen, die die Stammesgesellschaften geschwächt, aber nicht völlig aufgelöst hatten. Die Osmanen, vor allem aber der britische Einfluß führte dann zusätzlich zur Herausbildung bürgerlich kapitalistischer Gesellschaftssektoren. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß die Kurden sehr lange über kein "nationales" Bewußtsein, über keinen "Nationalismus" verfügten, der einen Nationalstaat gefordert hätte. Zwar waren sich viele Kurden ihrer ethnischen Identität und ihrer Verschiedenheit von Arabern oder Persern bewußt, dies führte aber erst sehr spät zur Entwicklung "nationaler" Identität. Lange galt die Loyalität und die Identifikation der meisten Kurden ihrem Stamm, vielleicht ihrem Grundherrn und ihrer jeweiligen Region.(4) Sprachliche und kulturelle Unterschiede machten die Herausbildung nationaler Identität im Gegensatz zur Stammesbindung nicht eben leichter.(5) Konflikte und bewaffnete Auseinandersetzungen in Kurdistan waren häufig, fast die Regel, aber sie erfolgten lange aus Gründen, die mit denen einer Nationalen Befreiungsbewegung" kaum etwas zu tun hatten: Kämpfe zwischen den Stämmen um Einfluß oder Beute, Kämpfe gegen die Briten, gegen die türkische, irakische oder iranische Regierung, wenn diese jeweils in die Autonomie der einzelnen Stämme eingriffen, waren keine Seltenheit. Selbstbestimmung war durchaus ein traditionelles Ziel, aber es war Selbstbestimmung des Stammes, der Region, des Grundherrn, nicht Selbstbestimmung eines Volkes. Diese Tatsache war der Ausgangspunkt dafür, daß die Kurden praktisch nie gemeinsam gegen äußere Einmischung oder Dominanz kämpften, sondern daß sich immer genug konkurrierende Stämme oder Gruppen fanden, die auf Seiten der türkischen, irakischen oder iranischen Truppen gegen andere Kurden kämpften. Unter - oft nicht anwendbaren - "nationalen" Kriterien waren fast alle Kriege der Kurden gegen die Regierungen der Region immer zugleich Bürgerkriege.

Die Enttribalisierung Kurdistans seit der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts ging einher mit der Herausbildung einer Schicht städtischer Intellektueller, deren Schwerpunkt die Stadt Sulaymaniyah war. Die kurdischen Intellektuellen brachen zwar in der Regel nicht jeden Kontakt zu ihren Stammesgenossen ab, entwickelten aber doch Ideologien, die vom europäischen Vorbild oder dem ihrer türkischen, arabischen oder persischen Nachbarn inspiriert, so etwas wie "nationales Bewußtsein" in Kurdistan einführten. Dieser neu entstehende kurdische Nationalismus war zuerst ein städtisch-mittelständisches Phänomen, machte dann aber auch auf dem Land Fortschritte. Dort jedoch, insbesondere in den unwegsamen Bergregionen, blieben Stammesbindungen sehr lange dominant.

Diese beiden Strömungen lassen sich deutlich an der Geschichte der Kurden im Irak ablesen. Auf der einen Seite stand die kurdische Autonomiebewegung unter dem Stammesführer Mullah Mustafa Barzani, der seit den zwanziger Jahren in vorderster Reihe stand. Dem gegenüber standen die eher intellektuell-national geprägten politischen Parteien, bis zur Mitte der 70er Jahre im wesentlichen die Demokratische Partei Kurdistan (KDP), später vor allem die Patriotische Union Kurdistans (PUK). Dieser Gegensatz wurde durch die Tatsache etwas verschleiert, daß Barzani zugleich Parteichef der KDP war, seine intellektuellen, progressiv-nationalistischen Opponenten um Jalal Talabani wurden 1964 aus der Partei herausgesäubert. Van Bruinessen stellt fest: "Barzani gelang es schließlich, sowohl die anderen Stämme, als auch die KDP zu dominieren; er und seine Söhne einerseits, sein Hauptrivale Talabani andererseits haben in den letzten zwanzig Jahren die entgegengesetzten Pole der kurdischen Bewegung repräsentiert."(6) Der Konflikt im irakischen Kurdistan verlief also nicht einfach zwische Kurden und der irakischen (arabischen) Regierung, sondern zugleich zwischen dem Flügel der kurdischen Stammesautonomie und den intellektuell geprägten Parteien (bzw. Parteiflügeln), sowie zwischen den verschiedenen Stämmen und zwischen verschiedenen Parteien. Diese Konstellation war die Voraussetzung dafür, daß die irakische Regierung trotz aller Schwierigkeiten die Kontrolle über den kurdischen Landesteil nie endgültig verlor.

Nach dem Fall der Kurdenrepublik in Mahabad und der damit verbundenen Niederlage Barzanis war jede Aussicht auf grundsätzlich Besserung der Situation der Kurden in allen drei wichtigsten Staaten gering. Dies änderte sich erst 1958, als im Irak eine progressive Revolution die haschemitische Monarchie stürzte und den britischen Einfluß brach. Mustafa Barzani durfte aus dem Exil zurückkehren, wurde im Irak als Held empfangen. Für eine kurze Zeit waren die kurdisch-irakischen Beziehungen gut, in der neuen Verfassung war gar von einer Partnerschaft von Arabern und Kurden im Irak die Rede. Im Verlauf der Jahre 1960 und 1961 verschlechtere sich das Klima erneut, insbesondere, weil die Regierung Kassem auch kurdische Stämme unterstützte, die mit Barzanis Stammesallianz verfeindet waren. Im September 1961 kam es zum Krieg, der allerdings zuerst im wesentlichen zwischen den Stämmen ausgefochten wurde. Barzani hatte sich bei der Eröffnung der Kampfhandlungen nicht einmal die Mühe gemacht, die KDP, die er offiziell ja leitete, auch nur zu informieren. Als sich die KDP nach internen Meinungsverschiedenheiten im Dezember ebenfalls für eine Beteiligung an den Kämpfen entschied, ließ Barzani sie nicht in die Kampfzone. Tatsächlich verhielt er sich wie ein traditioneller Stammeschef: es ging nur um die Ausnutzung der Schwäche der Regierung zur eigenen Machtausdehnung und um die Schwächung konkurrierender Stämme.(7) Die Kämpfe nahmen nach dem ersten Putsch der Baath-Partei 1963 an Heftigkeit zu, nach derem baldigen Fall wurde aber Anfang 1964 ein Waffenstillstand geschlossen. 1966 verkündete die Regierung ein 12-Punkte-Programm, das eine weitgehende Gleichstellung und Autonomie der Kurden zum Inhalt hatte, allerdings wegen interner Widerstände in Bagdad nicht umgesetzt wurde.

Nach dem zweiten Putsch der Baath-Partei begann diese Anfang 1969 eine neue militärische Kampagne gegen irakisch Kurdistan, die an Intensität über ihre Vorläufer deutlich hinausging. Trotzdem gelang es nicht, den kurdischen Widerstand zu zerschlagen, und die Regierung versuchte sich im folgenden Jahr mit einer politischen Lösung des Konfliktes, der an die 12 Punkte anknüpfte. Das Angebot lief praktisch darauf hinaus, den Kurden Autonomie anzubieten.

Die irakischen Kurden - was zum damaligen Zeitpunkt praktisch hieß: Barzani - lehnten ab und verspielten damit möglicherweise eine Chance. Der Grund dieser Ablehnung bestand einerseits in einer Reihe verdächtiger Manöver der Regierung, die nahelegten, daß sie es nicht wirklich ernst meine, andererseits in der Tatsache, daß Barzani zu diesem Zeitpunkt glaubte, überhaupt keinen Kompromiß nötig zu haben, sondern sich militärisch durchsetzen zu können. Der Schah des Iran lieferte wegen seiner Feindschaft zum Irak Waffen in größerem Umfang, außerdem hatten ihm die USA ihre Unterstützung zugesagt, die CIA angefangen, die Kurden zu unterstützen (16 Mill. $). Auch Israel trug einen Teil bei, was insgesamt die militärische Kraft Barzanis stärkte, aber zu einer übertriebenen Siegeszuversicht führte. Nach einigem Hin-und-Her kam es im März 1974 zu einem neuen Waffengang, der über die Kämpfe von 1969 noch hinausging. Im März 1975 erfolgte dann eine dramatische Wendung: der Iran und der Irak einigten sich bei einer OPEC-Konferenz in Algier darauf, ihre Konflikte zu beenden und schlossen einen entsprechenden Vertrag. Als Teil dieser Vereinbarung stellte der Schah plötzlich jede Unterstützung der irakischen Kurden ein und schloß die Grenze. Damit verloren Barzanis Kämpfer nicht nur ihren Nachschub, sondern auch ihre Rückzugsmöglichkeiten. Innerhalb kürzester Zeit mußte Barzani kapitulieren. Er stellte später fest: "Ohne die amerikanischen Versprechen hätten wir uns anders verhalten. Wenn es diese amerikanischen Versprechen nicht gegeben hätte, wären wir niemals so in die Falle gegangen."(8) Der US-Außenminister, Henry Kissinger, kommentierte trocken: "Geheimdienstoperationen sind keine Missionsarbeit". Damit war der kurdische Aufstand Mitte der siebziger Jahre völlig zusammengebrochen. Ursache dafür war der offensichtliche Fehler, sich völlig vom Iran und den USA abhängig zu machen, was eine politische Belastung war: der Iran war selbst gegen die Kurden seines eigenen Gebietes vorgegangen, und Barzani hatte dem Schah sogar gewaltsam bei der Pazifizierung der iranischen Kurden geholfen. Und als der Schah sich schließlich mit dem Irak verständigte, entfiel die materielle Möglichkeit, den Kampf fortzusetzen.

Trotz dieser einschneidenden Niederlage kam es überraschend schnell zu einem Wiederaufleben des kurdischen Widerstandes. Ausgangspunkt waren die Revolution im Iran(9) und der Golfkrieg. 1978 war die iranische KDP neu entstanden (die KDPI), und die iranischen Kurden hatten sich aktiv am Sturz des Schah beteiligt, wenn auch weniger unter nationalistischen, als unter sozialen und demokratischen Gesichtspunkten. Nach der Revolution brachten sie im März 1979 die Stadt Mahabad und deren Kaserne unter kurdische Kontrolle, bald auch Sarandaj, wo die Kaserne belagert wurde. Im Mai 1980 wurde ein Waffenstillstand vereinbart.(10) Im September 1980 begann der Golfkrieg durch den Einmarsch der irakischen Armee im südlichen Iran. Nachdem dort bald das Vordringen zum Stillstand kam, eröffnete der Irak im Dezember eine neue Front im Norden, im iranischen Teil Kurdistans. Der Irak unterstützte die iranischen Kurden gegen ihre Regierung, und bald kam es zu einer engen Form militärischer Kooperation. Umgekehrt arbeitete die irakische KDP unter den Söhnen Barzanis (Mullah Mustafa war inzwischen in den USA gestorben) mit dem iranischen Militär gegen Bagdad zusammen und stieß - zum Teil an der Seite iranischer Pasdaran - tief in irakisches Gebiet vor.(11) 1983 "begann Teheran eine einigermaßen erfolgreiche Großoffensive gegen die KDPI mit wesentlicher Hilfe durch die KDP, SPKI und ICP" [Sozialistische Partei Kurdistans im Irak und Kommunistische Partei Irak].(12) Die Mitte der siebziger Jahre gegründete Patriotische Union Kurdistans (PUK) des Jalal Talabani sah sich aus genau diesem Grund außerstande, ebenfalls mit dem Iran zu kooperieren, sie begann Gespäche mit der Regierung in Bagdad und bot an, den Irak militärisch gegen den Irak und die Kräfte der KDP zu verteidigen.(13) Insgesamt sollen Mitte der achtziger Jahre 150000 oder mehr Kurden auf Seite ihrer Regierung gegen die iranischen Streitkräfte und die irakisch-kurdische KDP gekämpft haben.(14) Damit war der Golfkrieg in Kurdistan zum großen Teil ein Stellvertreterkrieg, bei dem sich beide Regierungen unterschiedlicher kurdischer Hilftruppen bedienten.

Dafür bezahlten die kurdischen Bewegungen in beiden Ländern nach Kriegsende einen schweren Preis. Hatten die Zentralregierungen in den jeweiligen kurdischen Landesteilen bereits in der Vergangenheit nicht eben mit leichter Hand regiert und z.T. jahrelang Krieg gegen die Unabhängigkeits- oder Autonomiestrebungen der Kurden geführt, so hatten die jeweiligen kurdischen Organisationen in ihren Augen nun den Schritt von einer internen Opposition zur militärischen Hilftruppe des Kriegsgegners getan. Die KDP des Irak wurde nun als mindestens genau so schlimm wie der Iran betrachtet und sollte entsprechend behandelt werden. Eine Bereitschaft zu Zugeständnissen oder der Gewährung echter Autonomie war damit noch weiter gesunken.

Nach Ende der Kampfhandlungen zwischen Iran und Irak wurden in beiden Ländern umfangreiche Truppen frei, die zur Befriedung der jeweiligen kurdischen Landesteile eingesetzt werden konnten und auch eingesetzt wurden. Insbesondere im Irak wurde schnell und mit großer Härte von dieser Gelegenheit Gebrauch gemacht. Anfang 1988 kontrollierten kurdische Einheiten im Irak laut Anthony Hyman fast 10000 km² des Landes, ein gebirgiges Gebiet von etwa der Größe des Libanon.(15) Bei Operationen gegen iranische und kurdische Einheiten 1988 durch die irakische Armee ging dann alles sehr schnell. Im Juli standen etwa 15000 irakische Soldaten in Kurdistan, Mitte Juli bereits 60000.(16) In wenigen Monaten wurden beide im Wesentlichen zerschlagen. Dabei kamen praktisch alle denkbaren Waffensysteme zum Einsatz, bis zu chemischen Kampfstoffen. Auch dabei kamen die Kurden aufgrund ihrer Zweckbündnisse wieder zwischen alle Fronten: die Stadt Halabja beispielsweise wurde im Zuge schwerer Kämpfe im März 1988 nicht nur vom Irak - wie allgemein bekannt - sondern auch (und offenbar zuerst) vom Iran mit chemischer Munition beschossen. Etwa 5000 tote Zivilisten waren die Folge. Der kurdische Aufstand war Ende der achtziger Jahre - wieder einmal - vorläufig niedergeschlagen. Fast 130000 kurdische Flüchtlinge suchten in der Türkei Zuflucht, 30000 im Iran.

Strategisch dürfte gerade in irakisch-Kurdistan ein neuer Aufstand zunehmend schwierig werden: die Zwangsumsiedlung weiter Landstriche im kurdischen Siedlungsgebiet umfassen nicht nur das Grenzgebiet zu Iran und Türkei, sondern auch Gebiete tief im inneren, wovon sich der Autor im März 1990 überzeugen konnte. Zahllose zerstreut liegende Dörfer wurden nicht nur entvölkert, sondern dem Erdboden so gründlich gleichgemacht, daß man oft kaum noch etwas erkennen kann. Man trifft heute in völlig unbesiedeltem Gebiet auf kleine oder mittelgroße Friedhöfe, die früher einmal zu Dörfern gehört haben. Dabei geht es nicht nur darum, menschenleere Landstriche zu schaffen, in denen Guerilla sich kaum halten könnten, sondern auch um die Konzentration der Bevölkerung aus vielen kleinen, zerstreut und unübersichtlich liegenden Siedlungen in große, übersichtlich angelegte und unter Regierungskontrolle sich befindender Dörfer oder Städte. Die Lebensbedingungen in diesen Neuen Dörfern sind oft ungemein schlecht, die Wasser- und Energieversorgung oft ungenügend oder kaum vorhanden. Zugleich ist irakisch Kurdistan in einem kaum vorstellbaren Maße militarisiert: es ist kaum möglich, auch nur ein paar hundert Meter zu fahren, ohne einen kleineren oder größeren Militärposten zu sehen - und gesehen zu werden. Diese reichen von kleinen Aussichtspunkten für ein oder zwei Personen auf einem Hügel bis zu riesigen, burgartigen Festungen mit großer Besatzung, die an strategisch wichtigen Punkten in den Ebenen gelegen sind. Unter diesen Bedingungen ist an militärischen Widerstand in größerem Umfang zur Zeit nicht zu denken. Damit ist das Problem allerdings nicht gelöst.

Zur gleichen Zeit hat sich im türkischen Teil Kurdistans die Lage verschärft. Während sich dort nach Ansicht mancher Beobachter in den Jahren 1986/87 die Lage leicht zu entspannen schien - so gab es Hinweise auf eine beginnende etwas größere Toleranz beim Gebrauch der kurdischen Sprache - wird die Situation seit Ende der achtziger Jahre von einer vorher kaum erlebten Eskalation gekennzeichnet. Die türkische Armee tritt immer offener als bloße Besatzungsmacht auf und die kurdische Bevölkerung antwortet auf die Repression, die schon mit der palästinensischen Intifadah vergleichen worden ist. War die militante und zum Teil terroristische PKK noch vor zwei oder drei Jahren von der Bevölkerung eher distanziert bis kritisch bewertet und meist abgelehnt worden, so hat sich das zunehmend geändert: die brutale Unterdrückung durch das türkische Militär hat unter den Kurden die Bereitschaft gestärkt, sich nun auch mit radikalen und gewaltsamen Mitteln zu wehren. Die PKK ist heute auf dem Weg, in türkisch Kurdistan als Befreiungsbewegung akzeptiert zu werden, was dem intrangsingenten und brutalen Vorgehen der türkischen Armee geschuldet ist.

Insgesamt ist heute eine Lösung der "kurdischen Frage" nicht in Sicht, in keinem der beteiligten Länder, und weder auf politischem, noch auf militärischem Weg. Eine Lösung aus der Region selbst heraus ist höchst unwahrscheinlich, vermutlich unmöglich. Zu sehr sind die Probleme der Kurden in das regionale Konfliktfeld integriert, zu sehr sind auch existentielle wirtschaftliche Interessen der Akteure berührt, und zu sehr spielen zusätzlich immer wieder Großmächte die Regierungen und kurdischen Bewegungen der Region gegeneinander aus. Eine Lösung der kurdischen Frage ist trotz der offensichtlichen Schwierigkeiten notwendig und dringlich. Hier wäre eine internationale Initiative - etwa im Rahmen der UNO - denk- und wünschbar. In diesem Rahmen würden sich zumindestens die Spielräume für Teillösungen ausloten lassen.
 
 

Anmerkungen

 (1) Stephen C. Pelletiere, The Kurds: An Unstable Element in the Gulf, Boulder/Co., 1984, S. 57 f

(2) ebenda, S. 59 f, und: Nader Entessar, The Kurds in Post-revolutionary Iran and Iraq, in: Third World Quarterly, Vol. 6, October 1984, S. 916

 (3) Peter Sluglett, The Kurds, in: CARDRI (Ed.), Saddam's Iraq - Revolution or Reaction?, London 1989, S. 185

(4) Anthony Hyman, Elusive Kurdistan - The Struggle for Recognition, Centre for Security and Conflict Studies, London 1988, S. 3

(5) Martin van Bruinessen, The Kurds between Iran and Iraq, in: MERIP Middle East Report, July/August 1986, S. 16

(6) Martin van Bruinessen, The Kurds between Iran and Iraq, in: MERIP Middle East Report, July/August 1986, S. 16

(7) Stephen C. Pelletiere, The Kurds: An Unstable Element in the Gulf, Boulder/Co., 1984, S. 126 ff

(8) zit nach: Nader Entessar, The Kurds in Post-revolutionary Iran and Iraq, in: Third World Quarterly, Vol. 6, October 1984, S. 920

(9) Mohammed H. Malek, Kurdistan in the Middle East Conflict, in: New Left Review, May/June 1989, S. 81 ff

(10) zu den iranischen Kurden zur Zeit der Revolution siehe: Richard Sim, Kurdistan: The Search for Recognition, (Conflict Sudies, No. 124, November 1980), S. 4-9

(11) prägnant zu den innerkurdischen Konflikten während des Golfkrieges: Martin van Bruinessen, The Kurds between Iran and Iraq, in: MERIP Middle East Report, July/August 1986, S. 14

 (12) Mohammed H. Malek, Kurdistan in the Middle East Conflict, in: New Left Review, May/June 1989, S. 87

(13) Nader Entessar, The Kurds in Post-revolutionary Iran and Iraq, in: Third World Quarterly, Vol. 6, October 1984, S. 923

(14) Martin van Bruinessen, a.a.O., S. 19

(15) Anthony Hyman, Elusive Kurdistan - The Struggle for Recognition, Centre for Security and Conflict Studies, London 1988, S. 14

 (16) Mohammed H. Malek, Kurdistan in the Middle East Conflict, in: New Left Review, May/June 1989, S. 92
 
 

Quelle:
Kurdistan - Ein ungelöstes Problem im Mittleren Osten,
in: Vereinte Nationen (Bonn), Dezember 1990, S. 202-205