Voices in the Wilderness

Die Sanktionen gegen den Irak: Mythen und Realitäten*

(Voices in the Wilderness (Rufer in der Wüste) hat seit März 1996 etliche Hilfsdelegationen für Krankenhäuser und Kliniken im Irak organisiert, um die durch die Sanktionen verhängte Belagerung zu durchbrechen. Voices tritt für Gewaltlosigkeit als Strategie sozialer Veränderungen ein. Die Gruppe kämpft gegen die Entwicklung, Lagerung und Anwendung aller Massenvernichtungswaffen in jedem Land Dabei macht sie keinen Unterschied zwischen Massenvernichtungswaffen biologischer, chemischer, nuklearer oder wirtschaftlicher Art.)

Mythos 1: Die Sanktionen haben vorübergehende Härten für die irakische Bevölkerung mit sich gebracht, sind aber eine wirksame, gewaltlose Methode zur Eindämmung des Irak.

Sanktionen richten sich gegen die schwächsten und verletzlichsten Mitglieder der irakischen Gesellschaft – die Armen, die Alten, die Neugeborenen, die Kranken und die Kinder. In Verbindung mit dem durch US-amerikanische und britische Bombenangriffe zugefügten Leid haben die Sanktionen die irakische Infrastruktur so gut wie zerstört. Sauerstoffproduktionsanlagen, Klärwerke und Krankenhäuser sind nach wie vor in erbärmlichem Zustand. Gutachten des UN-Kinderhilfswerks UNICEF und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vermerkten eine deutliche Verschlechterung der Gesundheit und des Ernährungszustands überall im Irak. (1)

Während die Schätzungen hierüber variieren, vertreten viele unabhängige Beobachter die Meinung, daß seit 1990 mindestens 500.000 Kinder unter fünf Jahren zumindest zum Teil aufgrund der Sanktionen und der Auswirkungen des Golfkrieges gestorben sind. Laut einem UNICEF-Bericht vom August 1999 hat sich die Sterberate von Kindern unter fünf Jahren seit Verhängung der Sanktionen gegen Irak mehr als verdoppelt.(2) Der frühere UN-Verantwortliche für humanitäre Hilfe im Irak, Denis Halliday meinte, der Tribut an Todesopfern liege "mittlerweile wahrscheinlich näher an 600.000, und das gilt für die Jahre 1990-1998. Wenn man die Erwachsenen mitrechnet, handelt es sich um deutlich mehr als eine Million Menschen im Irak.(3)"

Von seiten der Vereinten Nationen hieß es kürzlich:

Außer auf die Ressourcenknappheit scheinen die Ernährungsprobleme auch auf die massive Verschlechterung der elementarsten Infrastruktur, darunter besonders die Wasserversorgung und die Fäkalien- und Müllbeseitigung zurückzugehen. Am härtesten betroffen sind die verwundbarsten Gruppen, insbesondere Kinder unter fünf Jahren, die vor allem in städtischen Zentren unter unhygienischen Bedingungen zu leiden haben. Quellen des Welternährungsprogramms (WFP) schätzen, daß der Zugang zu Trinkwasser gegenüber den Zahlen von 1990 heute in städtischen Gebieten auf 50 Prozent und auf dem Land auf nur 33 Prozent gesunken ist.(4)

Das in New York ansässige UN-Sanktionskomitee verweigert dem Irak auch weiterhin Bleistifte, Computerausrüstungen, Ersatzteile und klimatisierte Lastwagen, alles Güter die nötig wären, um die Menschen und die Gesellschaft des Irak am Leben zu erhalten.(5) Untersuchungen über die Landwirtschaft und die Umweltsituation im Irak weisen auf große Zerstörungen hin und deuten in vielen Fällen auf permanente und irreparable Schäden.(6)

Manche Leute haben argumentiert, daß Sanktionen vom US-amerikanischen Standpunkt aus gesehen wirtschaftlich billiger sind als militärische Angriffe, da Sanktionen die Vereinigten Staaten weniger kosten. Tatsächlich werden jährlich Hunderte von Millionen an US-Steuergeldern zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftssanktionen ausgegeben. Zu diesen Ausgaben gehören die Kosten für die Beobachtung der irakischen Import- und Exportpraxis, die Kontrolle der "Flugverbots"-Zonen und die Fortsetzung der aktiven militärischen Präsenz in der Golfregion.(7)

Sanktionen sind eine schleichende Form der Kriegführung und haben Hunderttausende unschuldiger Menschenleben gefordert.

Mythos 2: Der Irak besitzt Massenvernichtungswaffen und strebt den Bau weiterer solcher Waffen an. Wenn man ihn nicht unter anderem durch Wirtschaftssanktionen daran hinderte, könnteder Irak seine Nachbarn bedrohen und würde das auch tun.

Laut dem früheren UNSCOM-Chefinspekteur Scott Ritter "ist der Irak von einem qualitativen Standpunkt aus gesehen abgerüstet. Der Irak besitzt heute keine nennenswerten Massenvernichtungswaffen mehr." Während es sicherlich möglich ist, daß der Irak den Grundstock zum Wiederaufbau des ihm unterstellten Arsenals hat, verwies Ritter darauf, daß der Irak derzeit nicht zur Produktion oder Aufstellung chemischer, biologischer oder nuklearer Waffen imstande ist.(8)

Die Vereinigten Staaten fingen erst 1990, nach der Besetzung Kuwaits, an, sich über das militärische Potential des Irak Sorgen zu machen. Die meisten der Waffen des Irak stammen aus den USA. Nur einen Tag vor dem Einmarsch des Irak in Kuwait billigte und unterzeichnete der damalige Präsident George Bush eine Lieferung moderner Datenübermittlungssysteme an Bagdad. In den 80er Jahren waren die USA und Großbritannien die Hauptlieferanten chemischer und biologischer Waffen an den Irak – also während des Iran-Irak-Krieges, in dem die USA beide Seiten mit Waffenverkäufen unterstützten.(9)

Von all dem abgesehen besitzen die USA mehr jederzeit einsatzbereite Atomwaffen als der Rest der Welt zusammen. Viele Iraker halten es für unredlich von den USA – die doch selbst das weltweit größte Kernwaffenarsenal besitzen, sich weigern, internationale Abkommen einzuhalten oder ihr Waffenprogramm von internationalen Experten inspizieren zu lassen, und die außerdem das einzige Land der Welt sind, das je eine Atombombe eingesetzt hat –, dem Irak vorschreiben zu wollen, was er produzieren darf und was nicht. 1998 und 1999 bombardierten die USA vier Länder, nämlich Serbien, Irak, Sudan und Afghanistan. Jedesmal verletzten sie dabei das Völkerrecht.

Mythos 3: Im Gegensatz zu den USA hat der Irak UN-Resolutionen verletzt.

Paragraph 14 der UN-Resolution 687 fordert als Grundlage für die Reduktion des irakischen Arsenals eine Abrüstung der gesamten Region. Mit der Aufrüstung der nahöstlichen Nachbarn des Irak verstoßen die USA gegen eben die Resolution, mit der sie die Aufrechterhaltung der Sanktionen rechtfertigen. Israel besitzt mehr als 200 thermonukleare Waffen und hat gegen zahlreiche UN-Beschlüsse verstoßen, doch gegen diese Verletzung des internationalen Rechts haben die USA vor der UNO bisher nicht ihre Stimme erhoben.(10)

Während die USA behaupten, durch Vernichtung des irakischen Waffenarsenals den Frieden im Nahen Osten voranzubringen, setzen sie gleichzeitig die Aufrüstung der Nachbarn des Irak fort. Die Liste der Käufer amerikanischer Militärtechnologie – im Nahen Osten wie anderswo – liest sich wie ein "Who is Who" von internationalen Terroristen, Menschenrechtsverletzern und Diktatoren. Die USA versorgen Israel, Ägypten, Saudi-Arabien, die Türkei und Iran mit Waffen und Technologie. Sie alle sind Nachbarn des Irak und stellen eine potentielle Bedrohung seiner Grenzen dar. US-Firmen lieferten die meisten der Waffen, die vom indonesischen Militär bei der Invasion und Besatzung Osttimors verwendet wurden.(11)

Mythos 4: Die irakische Regierung hat, unter anderem durch die Ausweisung der Waffeninspekteure im Dezember 1998, das Waffeninspektionsprogramm der UN unterlaufen und sabotiert, was die USA und Großbritannien zu der "Operation Wüstenfuchs" zwang.

Die irakische Regierung ist sich darüber im klaren, daß die USA den Sturz Saddam Husseins anstreben und die Sanktionen bis zu einem "Regimewechsel" aufrechterhalten wollen. Sie hat daher keinen Anreiz, mit den USA zusammenzuarbeiten oder die Inspektionen sensibler Bereiche zu dulden. Führende Kräfte der Clinton-Administration – insbesondere Aussenministerin Madeleine Albright – haben öffentlich verkündet, die Sanktionen würden aufrecht erhalten, bis Saddam Hussein nicht mehr im Amt ist.(12) Das ist von den UN-Resolutionen, die Grundlage der Sanktionen sind, nicht gedeckt.

Im Gegensatz zu dem, was meist berichtet wird, zog UNSCOM-Direktor Richard Butler selbst die Inspektoren vor der Bombardierung vom Dezember 1998 aus dem Irak ab. Die US-Regierung behauptet, Irak habe die Inspektoren "hinausgeworfen". Tatsächlich war genau das Gegenteil der Fall. Laut Butlers eigenen Aufzeichnungen hat sein Team von Waffeninspektoren noch in der Woche vor den Dezemberbombardements zahlreiche ungehinderte Besuche durchgeführt. Nur bei einigen bewußt provokativen Durchsuchungsaktionen wurde er daran gehindert, den jeweiligen Ort zu inspizieren.(13)

Im Februar 1998 stellte der frühere Waffeninspektor Raymond Zilinskas fest, daß "95 Prozent der Arbeit (der UNSCOM) ungehindert ablaufen". Er schrieb in der Chicago Tribune: "Obwohl es für die Iraker theoretisch seit 1991 möglich gewesen wäre, sich erneut solche Waffen zu verschaffen, wäre dieses Doppelspiel riskant und teuer und die Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung sehr hoch gewesen.(14)

Butler selbst bestätigte, er sei in der Woche vor den Bombardemens in ständigem Kontakt mit dem US-Militär gewesen. In seinen Aktionen richtete er sich oft nach Washington. Außerdem hat die US-Regierung (auf einen ihr sehr peinlichen Artikel in der Washington Post hin) zugegeben, daß sie die UNSCOM genutzt hat, um Irak auszuspionieren. Irak hatte die UNSCOM schon zuvor der Spionage bezichtigt – eine Behauptung, welche die US-Regierung vehement bestritt (15). Die größte Ironie liegt darin, daß Bagdad die gesamte UN-Operation im Irak aus eigenen Öleinnahmen bezahlt und damit UN-Angestellte finanziert, damit diese für die USA spionieren.

Verhandlungs- und Schlichtungsbemühungen wie der Besuch von UN-Generalsekretär Kofi Annan im Februar 1998 führten zur Zusammenarbeit und zur Öffnung für einen Dialog. Die Etablierung eines klaren Zeitplanes für die Beendigung der Inspektionen sowie die Anerkennung der seitens der Regierung des Irak gemachten Fortschritte würden einen deutlichen Anreiz für weitere Dialoge und die Befolgung der UN-Resolutionen bieten.

Mythos 5: Die irakische Regierung hält Nahrungsmittel und Medikamente absichtlich zurück und hortet sie, um durch Verschärfung des menschlichen Leidens politische Sympathien zu gewinnen und die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit einer Aufhebung der Sanktionen zu lenken.

Das US-Außenministerium behauptet in seinem Bericht Saddam Husseins Irak vom September 1999, Irak lagere und horte offenbar in böswilliger Absicht Medikamente.(16)

Die Lagerhaltung von Medikamenten wird von den Vereinten Nationen intensiv überwacht, und Verwaltung und Personal der UN vor Ort bestätigen, daß sie auf logistische Problemen zurückgeht, die auf die seit zehn Jahren bestehenden Sanktionen und die Nachwirkungen der Zerstörungen des Golfkrieges zurückzuführen sind. Periodische UN-Berichte über die humanitären Programme im Irak führen zahlreiche technische Probleme auf, welche die Versorgung eines Landes mit 22 Millionen Einwohnern mit Medikamenten erschweren. Zu den Hindernissen für eine wirksame Verteilung gehören die niedrigen Löhne der irakischen Lagerarbeiter, unzureichende Transportmittel sowie der schlechte Zustand der irakischen Lagerhäuser in den Provinzen.

Die Vereinten Nationen führen bei den im Irak gelagerten Nahrungsmitteln und Medikamenten häufige Bestandsaufnahmen durch. Der frühere Koordinator für humanitäre Hilfe, Hans von Sponeck, und sein Stellvertreter Farid Zarif haben wiederholt eine "Entpolitisierung" der Verteilung gefordert und die Auffassung vertreten, daß die Lagerung der Güter Resultat der zerstörten Infrastruktur des Irak und nicht der Böswilligkeit der irakischen Regierung ist.(17)

Es gibt ein ernstes Problem, auf das von Sponeck als "fehlende Komplementarität" verwiesen hat. Der Irak muß in vielen Fällen Güter von ausländischen Firmen kaufen. Die Artikel kommen in Einzelteilen in den Irak. So treffen beispielsweise Zahnarztstühle dort ein, aber die zugehörigen Kompressoren müssen bei einer anderen Firma bestellt werden; oder Spritzen kommen an, während die passenden Nadeln noch nicht da sind. Darum müssen einige Lieferungen in Bagdad zurückgehalten werden, bis sie vollständig sind. Das ist, wie von Sponeck erklärte, bei etwa der Hälfte der Bestellungen der Fall. (18) Ferner braucht das UN-Sanktionskomitee für die Genehmigung einiger Bestellungen länger als für andere, weshalb Irak gezwungen ist, Medikamente auf Lager zu halten, bis die Bewilligungen für alle zusammengehörigen Artikel erteilt sind.

Im Sommer erreichen die Temperaturen im Irak oftmals 45 Grad. Deshalb sind klimatisierte Lastwagen für den Transport verderblicher Güter wie zum Beispiel Krebsmedikamente, chirurgische Handschuhe und Nahrungsmittel unerläßlich. Klimatisierte Lastwagen gibt es jedoch im Irak so gut wie gar nicht, seit das Sanktionskomitee sie wegen angeblicher militärischer Nutzbarkeit untersagt hat.(19) Während es natürlich stimmt, daß klimatisierte Lastwagen für militärische Zwecke benutzt werden können, sind sie darum nicht weniger notwendig für den Medikamententransport.

Die Infrastruktur im gesamten Irak ist mittlerweile in einem so schlechten Zustand, daß laut von Sponeck Medikamente und sogar Ersatzteile "nur ein Tropfen auf den heißen Stein" sind.(20) In jeder Stadt einschließlich Bagdads kommt es immer wieder zu Stromausfällen. Wasserversorgung und Kanalisation sind zusammengebrochen. Nach der Schätzung Denis Hallidays würde der Irak mindestens 50 Milliarden Dollar benötigen, um seine landwirtschaftliche, medizinische und soziale Infrastruktur wieder aufbauen zu können.(21)

Nach Entnahme der für die Finanzierung von Golfkriegs-Reparationen, UN-Verwaltungskosten und andere verbindliche Ausgaben vorgesehenen Anteile an den irakischen Öleinnahmen ist die Höhe der Gelder, die zu den einfachen Menschen im Irak durchsickern, absolut unzureichend. Unter dem Öl-für-Lebensmittel-Programm der UN ist es dem Irak unmöglich, seine Infrastruktur wieder aufzubauen. Kläranlagen, das Stromnetz, das Kommunikations- und Nachrichtenwesen sowie Trainings- und Ausbildungsressourcen werden in einem dauerhaft kläglichen Zustand bleiben, bis die Sanktionen aufgehoben sind.

Mythos 6: Die irakische Führung benutzt das für humanitäre Zwecke vorgesehene Geld, um Paläste zu bauen und sich selbst zu bereichern.

Die New York Times behauptet, Saddam Hussein habe sich "ungeachtet des Verbots von Ölverkäufen dafür entschieden, das wenige verfügbare Geld für verschwenderische Paläste und Bauprojekte auszugeben."(22) In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daran zu erinnern, daß in den Jahren vor dem Öl-für-Lebensmittel-Abkommen die irakische Regierung Lebensmittel an die Zivilbevölkerung verteilt hat. Über dieses im September 1990 begonnene Rationierungssystem hieß es von Seiten der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) 1995: "Der Korb an Lebensmitteln, der durch das Rationierungssystem verteilt wird, ist eine lebensrettende Ergänzung der Ernährung, die ferner eine erhebliche Subvention für die irakischen Einzelhaushalte darstellt."(23)

Der Irak fördert heute ebenso viel Öl wie vor dem Golfkrieg, erzielt aber aufgrund der Veränderung des Ölpreises und der seit 1990 dramatisch gestiegenen Inflation geringere Einnahmen. Wenn man bedenkt, daß man 1990 für drei irakische Dinar einen Dollar bekam, während der Kurs heute bei 2000 zu eins liegt, wird der Unterschied zwischen den Ölerlösen von 1990 und denen von heute sehr offensichtlich. Während Irak alle sechs Monate die Erlaubnis erhält, für mehr als 5,26 Milliarden Dollar Öl zu verkaufen, unterliegt der Erlös nicht der Verfügung Saddam Husseins, sondern wird über ein UN-Treuhandkonto bei der "Bank of Paris" in New York City verwaltet.

Während mit den Sanktionen die Absicht verfolgt wurde, die herrschende Elite des Irak zu schwächen, stärken sie in Wirklichkeit nur deren politische Hegemonie. Durch die Schwächung der irakischen Bevölkerung durch Hunger, Krankheiten und Furcht vor den Bomben der USA und Großbritanniens werden die Entwicklung einer zivilen Gesellschaft und die Aussichten auf pluralistische Verhältnisse stark eingeschränkt. Ein lukrativer Schwarzmarkt verleiht der irakischen Elite noch mehr Macht. Solange die Sanktionen monatlich Tausende von Leben kosten, kann die irakische Regierung um so besser Unterstützung in der Bevölkerung mobilisieren sowie Bitterkeit gegen die US-Regierung.

Mythos 7: Die Verteilung im Nordirak – wo die UN die stärkste Kontrolle über sie ausübt – ist besser als im Süden, was beweist, daß die irakische Regierung Lebensmittel und Medikamente nicht auf angemessene Weise an ihr Volk verteilt.

Die Sanktionen wirken im Norden und Süden des Landes sehr unterschiedlich. Die Unterschiede bei den Sterblichkeitsraten im Irak resultieren aus mehreren Faktoren: der kurdische Norden hat länger als andere Regionen des Irak humanitäre Hilfe erhalten; die landwirtschaftliche Situation im Norden ist besser; aufgrund der wesentlich größeren Durchlässigkeit der Grenzen im Norden sind die Sanktionen dort leichter zu umgehen; der Norden bezieht pro Kopf 22 Prozent mehr aus dem Öl-für-Lebensmittel-Programm als der Süden und die Zentralregion; und schließlich erhält der Norden UN-kontrollierte Geldhilfen, während der Rest des Landes ausschließlich Waren bekommt.(24)

Mythos 8: Die internationale Gemeinschaft ist sich in ihrer Gegnerschaft zum Irak einig und befürwortet die Wirtschaftssanktionen.

Frankreich, China und Rußland sind drei unter vielen Ländern, die die Wirtschaftssanktionen gegen Irak kritisiert haben. Als ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrates haben sie die US-amerikanische und britische Position hinsichtlich der Sanktionen angefochten und die militärischen Angriffe in Frage gestellt.(25) Der Papst, mehr als 50 US-Bischöfe, zahlreiche religiöse Führer und Hunderte von Organisationen haben sowohl die Sanktionen als auch die Militärschläge verurteilt und dagegen protestiert. Zwei Friedensnobelpreisträger und fünf Kongreßabgeordnete reisten 1999 in den Irak, um der internationalen Besorgnis über und dem Verständnis für die heutige Lage im Irak Ausdruck zu geben. Die Arabische Liga hat eine sofortige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gefordert.(26)

Mythos 9: Die Kampfflugzeuge der USA und Großbritanniens, die die "Flugverbots"-Zonen überwachen, schützen irakische Minderheiten. Seit Ende der Bombenkampagne vom Dezember 1998 gab es in diesen Regionen keine "Kollateralschäden".

Seit der "Bombenkampagne" gegen Irak im Dezember 1998 haben britische und US-Kampfflugzeuge angeblich zum Schutz der Kurden im Norden und der Schiiten im Süden Tausende von Einsätze über den nördlichen und südlichen "Flugverbots"-Zonen geflogen. Den Militärs zufolge überwachen sie den irakischen Luftraum, damit der Irak nicht wie während der 80er Jahre seine eigene Bevölkerung angreifen kann. Während die UN-Resolutionen in der Tat den Schutz irakischer Minderheiten fordern, gibt es dort keine Bestimmung zur militärischen Durchsetzung der Zonen.(27)

Nach Angaben des UN-Büros des Koordinators für humanitäre Hilfe im Irak haben die US-amerikanischen und britischen Flugzeuge Dutzende von unschuldigen Zivilisten getötet und eine Vielzahl von weiteren verletzt.(28) So tötete am 25. Januar 1999 eine Lenkrakete beim Einschlag in ein ziviles Wohnviertel in Basra mehr als zehn Menschen. Während das Pentagon sämtliche zivilen Opfer abstreitet, beschreiben Augenzeugenberichte Zusammenstöße, bei denen zahlreiche Kinder und Familien verletzt und getötet wurden, wenn britische und US-Bomber ihre Ziele verfehlten.(29)

Während die USA behaupten, die Kurden im Norden vor der irakischen Regierung zu schützen, rühren die USA keinen Finger, wenn die Türkei in die "Flugverbots"-Zone über Irak eindringt, um kurdische Dörfer zu bombardieren – denn die Türkei ist ja ein Verbündeter der USA.(30)

Die Bombardierung erschwert ferner auch die humanitären Bemühungen der Vereinten Nationen. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen mußten ihre Reisen in kurdische und schiitische Regionen stornieren. Außerdem wurden viele Zivilisten irrtümlicherweise verletzt, was eine weitere Belastung der Krankenhäuser darstellt, die ohnehin schon mit einer niederschmetternden Last von Krankheiten und vermeidbarem Leiden konfrontiert sind.

Übersetzung: Sonja Wallenborn/Michael Schiffmann

* Aus aus Joachim Guilliard, Rüdiger Göbel, Michael Schiffmann (Hg.), Der Irak - Ein belagertes Land
(Erscheinungstermin April 2001)
Original aus: Iraq Under Siege. The Deadly Impact Impact of Sanctions and War, Hrsg. Anthony Arnove (Cambridge: South End Press, 2000), Seiten 67 - 75.

  1. Siehe UNICEF und Gesundheitsministerium der irakischen Regierung, Child and Maternal Mortality Survey 1999: Preliminary Report (Bagdad: Unicef, 1999). Online unter http://www.unicef.org. Siehe auch WHO Resource Center, Health Conditions of the Population in Iraq Since the Gulf Crisis (Genf: WHO, 1996). Online unter http://www.who.int.
  2. Siehe Unicef-Presseerklärung, "Iraq Survey Shows `Humanitarian Emergency´," 12. August 1999 (Cf/doc/pr/1999/29).
  3. Matthew Rothschild, Interview mit Denis Halliday, The Progressive 63:2 (Februar 1999): 26.
  4. Vereinte Nationen, "Report of the Second Panel Pursuant to the Note by the President of the Security Council of 30 January 1999 (S/1999/100), Concerning the Current Humanitarian Situation in Iraq," Anhang II, S/1999/356, 30. März 1999, S. 6. Artikel 20.
  5. Für eine Liste der zurückgehaltenen Güter siehe http://www.un.org/Depts/oip/, die Website des UN-Büros für das Irakprogramm.
  6. Für Quellenverweise zu einigen Punkten dieser Studien siehe Dr. Peter L. Pellett, "Sanctions, Food, Nutrition, and Health in Iraq" und Dr. Huda S. Ammash, "Toxic Pollution, the Gulf War, and Sanctions", in Anthony Arnove Hg., Iraq Under Siege. The Deadly Impact of Sanctions and War, (Cambridge: South End Press, 2000).
  7. Allein für ihre Bombenkampagne gegen den Irak haben die USA 1999 mehr als eine Milliarde Dollar ausgegeben. Siehe Steven Lee Myers, "In Intense But Little-Noticed Fight, Allies Have Bombed Iraq All Year," New York Times, 13. August 1999, S. A6.
  8. Fellowship of Reconciliation, Interview mit Scott Ritter, Fellowship 65: 9-10 (September-Oktober 1999):13.
  9. Siehe Noam Chomsky, "‘What We Say Goes’: The Middle East in the New World Order," in Collateral Damage: The "New World Order"at Home and Abroad, Hg. Cynthia Peters (Boston: South End Press, 1992), S. 61-64 und Verweise; Andrew Cockburn und Patrick Cockburn, Out of the Ashes: The Resurrection of Saddam Hussein (New York: Harper-Collins, 1999); Noam Chomsky, Deterring Democracy, aktualisierte Ausgabe (New York: Hill and Wang, 1992), S. 152; Dilip Hiro, The Longest War: The Iran-Iraq Conflict (New York: Routledge, 1991); und Mark Phythian, Arming Iraq: How the U.S. and Britain Secretly Built Saddam´s War Machine (Boston: Northeastern UP, 1996).
  10. UN-Sicherheitsratsresolution 687, § 14. Alle zitierten UN-Resolutionen online unter http://www.un.org. Ferner Seymour M. Hersh, The Samson Option: Israel, America, and the Bomb (Boston: Faber and Faber, 1993), S. 198-99, und Avner Cohen, Israel and the Bomb (New York: Columbia UP, 1998).
  11. Siehe Noam Chomsky, East Timor and the Western Democracies (Nottingham: Bertrand Russell Peace Foundation, 1979), S. 2, und Matthew Jardine und Constâncio Pinto, East Timor’s Unfinished Struggle: Inside the Timorese Resistance (Boston: South End Press, 1996).
  12. Siehe u.a. Tim Russert, Interview mit Madeleine Albright, NBC, Meet the Press, 2. Januar 2000.
  13. Siehe Richard Butler, "Iraqi Bombshell", Talk 1: 1 (September 1999): 240. Siehe auch Mark Huband, "Misery and Malnutrition Form Bedrock of Iraq´s New National Character", Financial Times, 21. März 1998, S. 4, über Iraks Einverständnis mit UNSCOM-Inspektionen.
  14. Jim Lehrer, Interview mit Raymond Zilinskas, PBS, Newshour, 16. Februar 1998; Raymond Zilinskas, "The Quickest Fix Would Be Too Costly", Chicago Tribune, 15. Februar 1998, "Perspectives", S. 1.
  15. Barton Gellmann, "US Spied on Iraqi Military Via UN", Washington Post, 2. März 1999, S. A1.
  16. US-Außenministerium (Online: http://www.usia.gov/regional/nea/nea.htm), Saddam Hussein’s Iraq (September 1999).
  17. Siehe Washington Physicians for Social Responsibility, Interview mit Hans von Sponeck, Bagdad, 5. April 1999 (http://www.wpsr.org), und Stephen Kinzer, "Smart Bombs, Dumb Sanctions", New York Times, 3. Januar 1999, S. 4: 4.
  18. Washington Physicians for Social Responsibility, Interview mit Hans von Sponeck, Bagdad, 5. April 1999.
  19. Eine Liste der zurückgehaltenen Güter findet sich unter http://www.un.org/Depts/oip, der Website des UN Office of the Iraq Program.
  20. Washington Physicians for Social Responsibility, Interview mit Hans von Sponeck, Bagdad, 5. April 1999.
  21. Denis Halliday, Vortrag an der Universität von Washington, Seattle, Washington, 15. Februar 1999. Einsehbar bei: Citizens Concerned for the People of Iraq. Siehe http://www.scn.org/ccpi.
  22. Barbara Crossette, "Children´s Death Rate Rising in Iraqi Lands, Unicef Reports", New York Times, 13. August 1999, S. A6.
  23. UN-FAO-Technical Cooperation Program, Evaluation of Food and Nutrition Situation in Iraq (Rom: FAO, 1995), S. 8.
  24. Siehe UNICEF-Presseerklärung, "Iraq Survey Shows ‘Humanitarian Emergency’", 12. August 1999 (Cf/doc/pr/1999/29). Siehe auch Pellett, "Sanctions, Food, Nutrition, and Health in Iraq".
  25. So haben von den fünf ständigen Mitgliedern nur die USA und Großbritannien der UN-Sicherheitsratsresolution 1284 im Dezember 1999 zugestimmt. Siehe Roula Khalaf, "UN Adopts New Resolution on Iraq", Financial Times, 18./19. Dezember 1999, S. 1.
  26. Siehe Fellowship of Reconcilliation, Nobel Laureate Delegation March 1999 Report (Nyack, New York: FOR, 1999); Los Angeles Times Wire Services, "US Congressional Staffers Pay Visit to Iraqi Hospital", Los Angeles Times, 31. August 1999, S. A9; Pax Christi USA, "Bishops’ Statement on the Iraqi Sanctions", Brief an Präsident Bill Clinton, 20. Januar 1998; und Jasper Mortimer, "Arab League Supports Lifting Iraq Sanctions", Associated Press, 13. September 1999.
  27. Siehe Steven Lee Myers, "US Jets Strike 2 Iraqi Missile Sites 30 Miles Outside Baghdad", New York Times, 25. Februar 1999, S. A7, für ein seltenes Eingeständnis, daß "die Verbotszonen tatsächlich auf keinerlei Resolution der Vereinten Nationen zurückgehen".
  28. UN Security Section/UN Office of the Humanitarian Coordinator for Iraq, Air Strikes in Iraq: 28 December 1998 - 31 May 1999 (Bagdad, UNOHCI, 1999), S. 1-12.
  29. Vijay Joshi, "Iraq Says American Attack Kills 11", Associated Press, 26. Januar 1999.
  30. Siehe Matthew Rothschild, "A Misguided Policy Toward Iraq", San Diego Union Tribune, 5. September 1996, S. B11.