SPIEGEL ONLINE - 23. April 2003
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Interview zu Museumsplünderungen im Irak
 
"Ein Panzer hätte ja genügt"

Der Mainzer Archäologe und Irak-Spezialist Michael Müller-Karpe sprach mit SPIEGEL ONLINE über Versäumnisse der US-Armee beim Schutz irakischer Kulturgüter, die Folgen der Museumsplünderungen und die Forderungen amerikanischer Kunstsammler, das irakische Antikengesetz zu lockern.

Archäologe Müller-Karpe im Irak: "Man hat die Probleme kommen sehen"
SPIEGEL ONLINE:
Herr Müller-Karpe, wie ist zurzeit die Situation im Irak?

Müller-Karpe: Ich habe am vergangenen Donnerstag mit einem Kollegen in Bagdad telefoniert, der sich bei einem Journalisten ein Satellitentelefon ausgeliehen hatte. Er sagte, die Verhältnisse seien ganz schlimm, es gäbe weder Strom noch Wasser. Die Plünderungen im Irak-Museum, dem zentralen archäologischen Museum des Landes, seien über mehrere Tage gelaufen. Der Schaden ist noch nicht abzuschätzen, aber inzwischen sei das, was noch vorhanden ist, gesichert. Die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Truppen zur Bewachung des Museums funktioniert mittlerweile.

Michael Müller-Karpe

Professor Michael Müller-Karpe, 55, arbeitet seit zehn Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter im international anerkannten Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz. Dort koordiniert der Archäologe Projekte im vorderen Orient, vor allem im Irak. Studiert hat Müller-Karpe in Heidelberg, München und Saarbrücken. Seit 1974 besucht er regelmäßig irakische Ausgrabungsstätten.

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Das scheint zuvor nicht der Fall gewesen zu sein. Die Truppen wurden von internationaler Seite scharf für ihre offensichtlichen Versäumnisse beim Schutz des Museums kritisiert.

Müller-Karpe: Ich bin Archäologe und kann deshalb zu den juristischen Dingen nichts sagen. Aber da ist etwas ganz schrecklich schief gelaufen. Die Museumsmitarbeiter in Bagdad haben die Soldaten definitiv um Hilfe gebeten und keine bekommen. Aber zunächst hatten sie schon selbst vorgesorgt und sämtliche Eingänge des Museums vor Kriegsbeginn zugemauert, bis auf eine Tür. Man hat die Probleme also kommen sehen. Die Mitarbeiter wollten dafür sorgen, dass das Museum leichter geschützt werden könnte, und sie sind davon ausgegangen, dass es gesichert werden würde. Ein Panzer hätte ja genügt, um die eine Tür zu bewachen.

SPIEGEL ONLINE: Welche Bedeutung hatten die gestohlenen und zerstörten Gegenstände für den Irak und die Menschen dort?

Müller-Karpe: Alles, was in den vergangenen 80 Jahren ausgegraben wurde, war im Irak-Museum gelagert. Die Menschen waren bewusst stolz auf die Geschichte des Landes, in dem sie lebten und haben sich auch sehr verantwortlich gefühlt. Im Grunde genommen ist das die gesamte Geschichte des Landes. Und nicht nur dieses Landes: Dort lagen die Wurzeln der gesamten Zivilisation. Deshalb ist es auch nicht nur die Aufgabe der Menschen vor Ort, die Kunstschätze zu sichten und in Ordnung zu bringen, sondern der gesamten Weltgemeinschaft.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es in Deutschland oder Europa vergleichbare Kunstschätze, die den Menschen hier zu Lande das Verständnis für den Verlust erleichtern würden?

Müller-Karpe: Nein, da gibt es eigentlich nichts Vergleichbares. Denn die Kultur, die wir hier in Deutschland haben, ist im Vergleich zu Mesopotamien viel jünger. Alle Dinge, die für unsere Zivilisation heutzutage bedeutend sind, wie Autos oder Computer, gehen auf Erfindungen zurück, die in Mesopotamien gemacht wurden. Das Rad, die gelagerte Achse, solche Dinge sind dort entwickelt worden und die frühen Entwicklungsstufen können auch nur dort erforscht werden. Diese Forschung ist wichtig, weil man nur sagen kann, wo man hingeht, wenn man weiß, wo man herkommt. Und da kommen wir eben her mit unserer Zivilisation. Das sind unsere Wurzeln. Dass viele Menschen sich dessen nicht mehr bewusst sind, ist ein ganz verheerender Eindruck, der durch unsere Sensationsgesellschaft geprägt wurde. Interessant scheint vielen nur, was widerlich ist. Aber wirklich Bedeutendes hat einen zu geringen Stellenwert. Das Image des Irak muss ganz schnell geändert werden. Das Land ist bedeutend wegen seiner Geschichte und nicht wegen eines Terrorregimes.

SPIEGEL ONLINE: Was fühlt man als Archäologe beim Anblick der Plünderungen im Fernsehen?

Müller-Karpe: Das sind Gefühle, die man nicht beschreiben kann. Ich war ja nicht der Einzige, der vor dieser Gefahr gewarnt hat. Viele Archäologen haben in der Öffentlichkeit darauf hingewiesen. Kollegen in Amerika haben eine Liste mit schützenswerten Objekten zusammengestellt, die dem Generalstab vorlag. Das Ölministerium war auf dieser Liste an 16. Stelle. Das Irak-Museum stand auf Platz eins.

SPIEGEL ONLINE: Was muss jetzt getan werden?

Müller-Karpe: Natürlich muss das Museum geschützt werden. Kaputte Objekte müssen restauriert werden, soweit das möglich ist. Aber das größte Problem sehe ich nicht im Museum. Es gibt einen Bereich, der die Dimension der Schäden im Museum bei weitem übertreffen könnte. Was jetzt in den archäologischen Stätten des Landes passiert, erinnert an die Zeit nach dem ersten Golfkrieg. Nach dem Waffenstillstand von 1991 begannen Raubgrabungen. Da die öffentliche Ordnung zusammengebrochen war, funktionierte die Bewachung nicht mehr. Es sind dort Städte aus dem 3. Jahrtausend vor Christus, die fast unversehrt erhalten waren, innerhalb weniger Monate in Mondlandschaften verwandelt worden. Ich war selbst vor zwei Jahren in einer Stadt namens Umma. Dort war ein Loch neben dem anderen. Nicht tausende, sondern hunderttausende Löcher. Hinter jedem dieser Löcher steht ein Fund, der dem Boden entrissen wurde. Dabei geht es gar nicht nur um den Verlust einzelner Objekte. Die tauchen vielleicht irgendwann wieder auf. Wichtig ist auch die Umgebung des Fundes, die Informationen die sich daraus ergeben. Lag zum Beispiel der Gegenstand in der Hand eines Toten? Wie war die Person ausgestattet? Welche gesellschaftliche Position hatte er? All das wird unwiderruflich zerstört.

SPIEGEL ONLINE: Was muss mit den geraubten Kunstobjekten aus dem Irak passieren, die in Zukunft auf Flughäfen, bei Kunstsammlern oder in Auktionshäusern auftauchen?

Müller-Karpe: Die Weltkulturorganisation Unesco hat bereits an Kunsthändler appelliert, irakisches Kulturgut nicht zu kaufen, und auch die Sammler selbst haben verkündet, dass sie Objekte aus dem Irak mit einem Bann belegen wollen. Meines Erachtens genügt das aber nicht. Solange es möglich ist, mit archäologischen Objekten Geld zu verdienen, ist Raubgrabungen nicht beizukommen. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: In einer Zeitschrift für Kunsthändler wurde vor einiger Zeit von einem kleinen, steinernen Rollsiegel aus Mesopotamien berichtet, das für 143.000 Dollar versteigert wurde. Wenn sich diese Nachricht im Irak verbreitet, ist das verheerend. Da helfen keine Wächter, und auch die Todesstrafe, die es auf Raubgrabungen im Irak gibt, wird niemanden abhalten. Der eigentliche Verbrecher ist aber nicht der arme Mann, der nicht weiß, wie er seine Familie ernähren soll, sondern die Menschen, die bereit sind, für solche Gegenstände Geld zu geben. Bei dem erwähnten Rollsiegel handelte es sich übrigens nicht um Hehlerware. Unter der Theke hätte der Sammler für ein ähnliches Stück vielleicht nur 50 Dollar dafür zahlen müssen. Er war also ein ehrlicher Mann. Aber seine Tat hat trotzdem schlimme Konsequenzen.

SPIEGEL ONLINE: Was sagen Sie zu den Forderungen amerikanischer Sammler an die US-Regierung, die Exportbedingungen für irakische Kunstschätze zu lockern?

Müller-Karpe: Verheerend, verheerend! Man muss unbedingt zusehen, dass das verhindert wird. Wenn man die gestohlenen Objekte im Nachhinein auch noch legalisiert, wird aus Hehlerware plötzliche anständige Ware. Diese Forderungen dürfen keinen Erfolg haben.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie denn, die amerikanischen Sammler-Lobbyisten haben mit ihrem Anliegen in Washington eine Chance?

Müller-Karpe: Ich hoffe nicht. Amerikanische Kollegen haben mir versichert, dass die US-Regierung signalisiert hat, dass sie sich der Thematik bewusst ist und dass man diesen Leuten nicht folgen will. Wie das nachher tatsächlich ausgeht, wenn ein Abgeordneter nach dem anderen vielleicht doch irgendwie rübergezogen wird, das kann man nicht sagen. Deshalb ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit informiert ist und einem Schritt in die falsche Richtung entgegenwirkt. Das Grundproblem im gesamten Kunsthandel ist, dass man mit Raubgrabungen heutzutage noch Geld verdienen kann. Ähnlich wie beim Artenschutzgesetz zum Elfenbeinhandel müsste es ein generelles Verbot geben, damit auch der Sammler, der 143.000 Dollar für ein Rollsiegel ausgibt, ab jetzt ein schlechtes Gewissen haben muss.

Das Interview führte Christina Bramsmann
 
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