Besatzermythen 

Über islamistische und laizistische Kräfte im Widerstand gegen die Besatzung des Irak [1]

Joachim Guilliard, Marxistische Blätter, 4-05

  

Der Kampf einer Besatzungsmacht gegen einen bewaffneten Widerstand ist nicht nur eine militärische Angelegenheit. Genauso wichtig ist der Kampf um die öffentliche Wahrnehmung des Konflikts, im eigenen Land wie international. Da das Recht der Bevölkerung eines angegriffenen bzw. besetzten Landes, sich auch mit Waffengewalt gegen den Aggressor zur Wehr zu setzen, an sich unbestritten ist, ist die propagandistische Delegitimierung des Widerstands seit jeher unerlässlich. Es ist also nicht verwunderlich, dass die USA und ihre irakischen Verbündeten ihre Gegner im Irak samt und sonders als eine Bande mörderischer Verbrecher hinzustellen versuchen, denen es nur darum gehe, das Land ins Chaos zu stürzen und Freiheit und Demokratie zu verhindern – und dass diese Lesart von den meisten westlichen Medien bereitwillig übernommen wird.

Sehr geschickt wird damit auch vom illegalen Charakter der Besatzung abgelenkt und der Widerstand sogar zur Rechtfertigung ihrer Fortsetzung verwendet – um «Stabilität zu schaffen» und «einen Bürgerkrieg zu verhindern».

Ich werde im Folgenden nicht detailliert auf Ideologie, Zielsetzung und praktische Politik der gesamten Widerstandsbewegung eingehen, die mit über 50 bewaffnet operierenden Gruppen und Zusammenschlüssen immer noch recht unübersichtlich ist. [2] Es gibt mittlerweile aber genügend zuverlässige Informationen, nicht zuletzt durch Stellungnahmen der zivilen Opposition gegen die Besatzung, um viele der verbreiteten Mythen über den Widerstand und seine gezielten Diffamierungen korrigieren zu können.

Behauptung 1: Der Widerstand steht unter einheitlicher Führung

Ein wichtiges Element der Propaganda ist, den militärischen Widerstand als eine Bewegung darzustellen, die unter der einheitlichen Führung von alten Vertrauten Saddam Husseins und islamischen Fanatikern à la Al-Sarkawi stehe und innerhalb der Bevölkerung isoliert sei.

Indem man allen Aktionen einen gemeinsamen Plan unterstellt, lässt sich der gesamte Widerstand recht einfach durch Verweis auf einzelne Terroranschläge diskreditieren. So wies beispielsweise Abdullah Muhsin, IKP-Mitglied und internationaler Vertreter der Iraqi Federation of Trade Unions (IFTU), vor kurzem in einem Interview schon das Wort «Widerstand» als Beleidigung der französischen Resistance und Vergleiche mit Vietnam als Verunglimpfung des Begriffs «Nationale Befreiung» zurück. Wie könne man Leute, die in Hilla durch einen Selbstmordanschlag auf einem Marktplatz 150 Menschen massakrieren, «Widerstand» nennen?[3]

Und indem man behauptet, der Widerstand ziele allein auf Chaos und Instabilität, um danach Saddams Diktatur zu restaurieren oder eine theokratisches Regime zu errichten, lassen sich auch die – aus Sicht einer Befreiungsbewegung – unsinnigsten Aktionen dem Widerstand zuschreiben.

Wie wenig die von den Medien bereitwillig wiedergegebene Propaganda mit der Realität gemein hat, zeigen aber schon die regelmäßigen CIA-Berichte, nach denen Saddam-Anhängern und die Sarkawi-Fraktion keine größere Rolle im Widerstand zukommt. Nach ihren Erkenntnissen, so die CIA, werde der Widerstand im Wesentlichen von «neu radikalisierten sunnitischen Irakern» getragen, «von Nationalisten, die sich durch Besatzungstruppen beleidigt und gedemütigt fühlen, und anderen, die durch den wirtschaftlichen Aufruhr und Zerstörung desillusioniert sind.» Die Zahl der ausländischen Kämpfer bewege sich im Bereich von wenigen Prozent. [4]

Zu ähnlichen Erkenntnissen gelangten laut der Berliner Zeitung auch andere westliche Dienste.[5] Noch deutlicher zeigen dies die Studien des renommierten Militärexperten Anthony Cordesman vom Washingtoner Center for Strategic and International Studies[6] und der NATO-nahen International Crisis Group[7].

Nach der Festnahme Saddam Hussein wurde der Jordanier Abu Musab Al-Sarkawi von den USA als «master mind» des Widerstands und neue Inkarnation des Bösen aufgebaut. Mit seiner angeblichen Präsenz wurde u.a. der verheerende zweite Angriff auf Falluja gerechtfertigt. Viele Kritiker der USA bezweifeln hingegen nicht nur die führende Rolle Al-Sarkawis im Widerstand, sondern schlicht seine Existenz.[8] Arabische Geheimdienste sind sich jedenfalls sicher, dass seine Gruppe viel zu klein ist, um auch nur ansatzweise all die ihm zugeschriebenen Aktionen durchführen zu können.[9]

Behauptung 2: Der Widerstand ist isoliert

In deutlicher Diskrepanz zur offiziellen Darstellung stehen auch die Angaben, die General Muhammed Shahwani, der Chef des neuen irakischen Geheimdienstes, über die Zusammensetzung des Widerstands machte. Nach seinen Erkenntnissen stehen den Besatzungstruppen mehr als 40.000 «Hardcore-Kämpfer» gegenüber, unterstützt von 150.000 Irakerinnen und Iraker, die als «Teilzeitguerillakämpfer», Kundschafter und logistisches Personal arbeiten. [10]

Shahwani war schon unter Saddam Hussein Geheimdienstchef in Bagdad gewesen, bevor er das Land verließ und sich Ijad Allawis National Accord anschloss. Im Gespräch gab er auch zu, dass der Widerstand in vielen Gouvernaten breite Unterstützung unter der Bevölkerung genieße. «Die Leute haben einfach die Nase voll, nach zwei Jahren ohne jegliche Verbesserung. Die Leute haben das Gefühl, etwas tun zu müssen. Die Armee hatte eine Stärke von mehreren Hunderttausend Mann. Es war zu erwarten, dass sich viele Veteranen dem Kampf anschließen würden. – Und jeder von ihnen hat noch Söhne und Brüder.» Die Rebellen haben viele Stadteile und kleinere Städte im mittleren Teil des Iraks in faktische «no-go Zonen» für die Besatzungstruppen verwandelt, so Shahwani, trotz der Anstrengungen der US-Truppen, Enklaven wie Samarra and Fallujah zurückzuerobern.

Behauptung 3: Der Widerstand greift gezielt zivile Ziele an

Diverse Meinungsumfragen und die Erkenntnisse der CIA bestätigen, dass Angriffe auf Besatzungstruppen bei einem großen Teil der Bevölkerung auf Zustimmung stoßen. Anschläge auf in- und ausländische Zivilisten, Entführungen usw. werden hingegen einhellig abgelehnt. Auch die wesentlichen Widerstandsorganisationen haben sich stets eindeutig davon distanziert, wie u.a. die Referenten auf der Irakkonferenz in Berlin übereinstimmend berichteten.[11] So betonte Hadi al Khalessi von der «Irakischen Nationalen Gründungskonferenz» (INFC), einer Dachorganisation des zivilen Widerstands, die auch von vielen Guerillagruppen als politisches Sprachrohr anerkannt wird: «Alle Aktionen, die sich nicht eindeutig gegen die Besatzer richten, nützen letztlich diesen. Alles, was sich gegen die Zivilbevölkerung richtet, ist Terrorismus und hat mit dem Widerstand nichts zu tun.»[12]

Ähnlich sieht dies u.a. auch die «Islamische Front des irakischen Widerstands» (Jama’), ein Zusammenschluss von Widerstandsgruppen aus den Provinzen nördlich und östlich von Bagdad. Ihre Richtlinien verbieten explizit Angriffe auf zivile Ziele und verurteilen das «Abschlachten von Geiseln» und das «Vergießen irakischen Blutes, unabhängig unter welchem Vorwand und unabhängig davon, ob es sich um Zivilisten oder Angehörige der Polizei oder Nationalgarde handelt.» Die Richtlinien der Front verbieten zudem jegliche Kooperation mit Gruppierungen, die in solche Anschläge involviert sind. Um das Leben von Zivilisten nicht zu gefährden, sollen zudem Angriffe auf Besatzer innerhalb von Städten vermieden werden.[13]

Diese Äußerungen stehen in scharfem Kontrast zu den häufigen Anschlägen auf Zivilisten, die das Bild in den täglichen Nachrichten bestimmen. Sieht man sich das gesamte Spektrum an bewaffneten Aktionen an, so stellt man fest, dass diese – wer immer dahinter stecken mag – nur einen recht kleinen Teil ausmachen und keine Zusammenhänge mit dem Hauptteil der klassischen militärischen Widerstandsaktivitäten erkennen lassen.

Anthony Cordesman hat in einer Tabelle die Zahl der öffentlich bekannt gewordenen Angriffe und Opfer von September 2003 bis Oktober 2004 nach Art des Zieles aufgeschlüsselt.[14] Sie macht deutlich, dass die Zahl der Angriffe auf Besatzungstruppen klar überwiegen (über 75 %) und Angriffe auf zivile Ziele nur einen sehr kleinen Teil ausmachen (zusammen mit UN, NGO und Journalisten 6,3%).

Die Anschläge auf ungeschützte Menschen sind dafür um so verheerender, wodurch die Zahl der zivilen Opfer dennoch viel höher ist, als die der militärischen.

 


 

Anschauliche Muster der Zusammensetzung von Zielauswahl und Opfer (September 2003-Oktober 2004)

Ziel

Zahl der Angriffe/ Vorfälle

Getötet

Verwundet

 

N

%

N

%

N

%

„Koalitions“-Truppen“

3227

75,0%

451

12,5%

1002

13,6%

„Coalition Air Convoy“

49

1,1%

55

1,5%

32

0,4%

Kurdische Armee [PUK u. KDP]

31

0,7%

25

0,7%

8

0,1%

Besatzungsbehörde/US Beamte/“Green Zone“

32

0,7%

60

1,7%

206

2,8%

Diplomatische Mission

11

0,3%

7

0,2%

9

0,1%

Lokale Autoritäten

31

0,7%

56

1,6%

81

1,1%

Zivile Auftragnehmer der USA

113

2,6%

210

5,8%

203

2,8%

Zivilisten

180

4,2%

1981

54,9%

3467

47,0%

Kriminelle & Verdächtige

49

1,1%

31

0,9%

972

13,2%

ICDC [irakische Hilfstruppen]

58

1,3%

191

5,3%

310

4,2%

Polizei

209

4,9%

480

13,3%

1012

13,7%

UNO

67

1,6%

2

0,1%

3

0,0%

Internationale Organisationen

1

0,0%

2

0,1%

0

0,0%

NGOs

5

0,1%

5

 

11

0,1%

Journalisten

8

0,2%

27

0,7%

38

0,5%

Übersetzer

7

0,2%

17

0,5%

6

0,1%

Öffentl. Eigentum [auch Pipelines etc.]

182

,2%

5

0,1%

15

0,2%

nicht spezifiziert

43

1,0%

1

0,0%

1

0,0%

 

4303

100,0%

3606

99,9%

7376

100,0%

 

 


 

Das gleiche Verhältnis ergibt sich aus einer Statistik, die die New York Times auf Basis der Zahlen der DIA für die Zeit von Juni 2003 bis März 2005 erstellt hat (“U.S. Commanders See Possible Troop Cuts in Iraq”, NYT, 11.4.2005) . Sie zeigt zusätzlich den zeitlichen Verlauf. Demnach lag die Zahl der Angriffe seit April 2004 durchgängig bei über 1.500 im Monat. Im August und November 2004 sowie im Januar 2005 waren es sogar über 70 pro Tag. Sie werden in der Grafik unterteilt nach Angriffen auf Besatzungstruppen, irakische Hilfstruppen, Zivilisten und Sonstige. Auch diese Übersicht belegt, dass die Angriffe zu über 75 % den Besatzungstruppen gelten und Anschläge auf Zivilisten konstant nur einen kleinen Teil ausmachen.

Letztere müssten noch weiter differenziert werden. Da «zivil» nicht gleichbedeutend mit «unbeteiligt» ist, können in diese Kategorie auch Geheimdienstleute, Söldner, Spitzel oder sonstige Personen fallen, die die Besatzungstruppen in ihrem Krieg unterstützten.

Es ist zudem nicht korrekt, Anschläge auf Zivilisten pauschal Besatzungsgegnern zuschreiben. Zum einen bleiben die Hintergründe von Anschläge mit zivilen Opfern meist völlig im Dunkeln. Sie wurden nie von unabhängigen Stellen untersucht. Zum anderen sind die Opfer gezielter Attentate oft ausgewiesene Gegner der Besatzung. Verantwortlich werden hierfür u.a. die Badr-Brigaden des SCIRI und andere Milizen pro-amerikanischer Organisationen gemacht.[15] Es verdichten sich zudem die Hinweise auf das Agieren von Todesschwadronen im Rahmen der als «Salvador Option» bekannt gewordenen US-Pläne eines verdeckten, schmutzigen Krieges gegen den Widerstand und seine Sympathisanten.[16]

Viele der Gräueltaten, zu denen sich angeblich ein Al-Sarkawi oder neu aufgetauchte Gruppierungen bekannten, geschah zudem zu einem für die Besatzer so günstigen Zeitpunkt, dass es schwer fällt zu glauben, hier seien nur fanatische Feinde der USA am Werk.

Nur ca. 15 % der Angriffe gelten irakischen Hilfstruppen. Da hierzu auch kurdische Peshmergas und andere Einheiten gezählt werden, die unmittelbar in den Angriffen gegen den Widerstand eingesetzt wurden, ist zu vermuten, dass die Aufrufe der wichtigen Widerstandsgruppen, keine irakischen Polizisten oder Soldaten anzugreifen, solange sie nicht gegen den Widerstand vorgehen, weitgehend respektiert werden.

 

 

aus "Does the Resistance Target Civilians" by M. Junaid Alam; Left Hook; April 18, 2005

 

Angesichts solcher Zahlen ist es kaum einsichtig, warum die selben Kämpfer und Kämpferinnen, die Woche für Woche eine größere Zahl sorgfältig geplanter und gut koordinierter Angriffe gegen einen militärisch überlegenen Gegner ausführen, sich an anderen Tagen in einer Menschenmenge in die Luft jagen sollen.[17] Es liegt wesentlich näher anzunehmen, dass hier völlig verschiedene Kräfte, mit völlig verschiedener Motivation und Zielsetzung, am Werk sind. In einem von der Federation of American Scientists (FAS) übersetzten Überblick über irakische Widerstandsgruppen aus der irakischen Wochenzeitung Al Zawra wird das Spektrum der bewaffnet agierenden Kräfte daher konsequenter Weise unterteilt in «Gruppen, die Widerstand gegen die Besatzung leisten» und «andere bewaffnete Gruppen» die zu «Entführungen und Ermordung von Ausländer als Methode» greifen.[18]

Namentlich erwähnt werden neun Gruppen, die alle radikalislamischen Ideologien verfolgen, darunter die Gruppe des Jordaniers Abu Musab Al-Sarkawi. Obwohl sie von den meisten Irakern nicht dazugezählt werden, bestimmen sie das Bild des Widerstands in den westlichen Medien. Diese stützen sich dabei neben den «Erkenntnissen» der Geheimdienste vor allem auf Internetseiten, auf denen sich die Gruppierungen angeblich über ihre Ziele und Aktivitäten auslassen. Solche Seiten sind leicht manipulierbar und von äußert fragwürdiger Authentizät, stützen aber vorzüglich die gängige Charakterisierung des Widerstands.

Die Erklärungen und Berichte der Widerstandsgruppen zirkulieren vorwiegend als Flugblätter. Einige irakische Zeitungen, wie z.B. Mafkarat al-Islam, veröffentlichen diese auszugsweise und bringen Berichte von ihren eigenen Journalisten, die oft als einzige vor Ort sind. Zusammenfassungen daraus werden wiederum regelmäßig ins Englische übersetzt und ins Internet gestellt.[19] Von den westlichen Medien werden sie nicht zu Kenntnis genommen. Sicherlich ist auch hier sehr viel Propaganda – allerdings wohl kaum mehr als bei den Berichten der Besatzungstruppen. Und wenn auch die Erfolgsmeldungen der Guerillagruppen in der Regel übertreiben dürften, so zeigen sie doch, dass die Aktivitäten überwiegend in Angriffen auf Besatzungstruppen bestehen und in weit geringerem Maße aus Anschlägen auf irakische Polizei- und Armee-Einheiten oder andere Personen, die mit den Besatzern zusammenarbeiten.

Obwohl die Widerstandsbewegung offensichtlich keine gezielten Angriffe auf die Zivilbevölkerung durchführt, werden Zivilisten häufig von rücksichtslosen Angriffen der Guerilla auf Besatzungstruppen, bzw. deren oft blindwütiger Reaktion, in Mitleidenschaft gezogen. Längst nicht alle Kämpfer unterwerfen sich der Disziplin von Richtlinien, wie die oben erwähnte von Jama’. Viele Iraker sehen daher auch solche Angriffe als willkürlich an und fühlen sich selbst durch den Widerstand bedroht.

Behauptung 4: Der Widerstand wird von «Saddam-Anhänger» getragen

Auch entschiedene Gegner des alten Regimes, wie der Londoner Hochschullehrer Sami Ramadani von den Iraqi Democrats against Occupation IDAO, weisen die Behauptung zurück, der Widerstand werde von «Saddam-Anhänger» angeführt. Zwar sind viele, die im Widerstand aktiv sind, ehemalige Mitglieder der Baathpartei; Widerstandsgruppen, die loyal zum alten Regime sind, stellen jedoch nur eine kleine Minderheit dar. Mitgliedschaft in der Baath war nicht gleichbedeutend mit Unterstützung für Saddam Hussein. Viele einstige Mitglieder machen diesen auch mitverantwortlich dafür, dass der Irak zur leichten Beute der USA werden konnte.

Jawad al Khalisi, der Generalsekretär der INFC, veranschlagt den Anteil von «Saddam-Anhängern» und «islamistischen Hardlinern» im Widerstand zusammen auf höchstens 5 bis 10%.[20]

(Die Besatzungsbehörde hat mit ihrem «De-Baathisierung»-Programm propagandistisch geschickt an die «Entnazifierung» im Nachkriegsdeutschland angeknüpft. Allein schon ihre Mitgliedschaft soll die Baath-Mitglieder und den Widerstand, in dem sie aktiv sind, diskreditieren. Die Ideologie der Baath war aber nie völkisch oder rassistisch, sondern auf nationale Unabhängigkeit und einen sogenannten «arabischen» Sozialismus orientiert. Saddam Husseins Herrschaft stützte sich auch nicht auf die Partei, sondern auf eine Clique, die verwandtschaftlich mit ihm verbunden war, sowie auf Stammesführer und Clanchefs, die er durch diverse Zugeständnisse auf seine Seite ziehen konnte.)

Die Grundzüge baathistischer Ideologie, Nationalismus und das Ziel, den nationalen Reichtum der gesamten Bevölkerung zugute kommen zu lassen, ist im Widerstand recht stark verankert und könnte als ein gemeinsamer Nenner aller Widerstandsgruppierungen betrachtet werden. Es sind diese Ziele, die von den reaktionären irakischen Verbündeten der USA, wie Ahmed Chalabis Irakischem Nationalkongress INC oder dem Obersten Rat der islamischen Revolution SCIRI, seit jeher bekämpft wurden.

Behauptung 5: Der Widerstand ist radikal-islamisch

Außer der oft willkürlich erscheinenden Gewalt ist es vor allem der angebliche radikal-islamische Charakter des Widerstands, der viele Linke abstößt.

Auch Sarkawis und ähnliche andere dubiose Gruppen beiseite gelassen, spielen islamische Gruppen und Persönlichkeiten unbestreitbar eine große Rolle im Widerstand. Die Bedeutung der Religion wird in der Regel aber ziemlich überschätzt. Für Europäer ist der Zusammenhang zwischen Islam und Politik, die in islamischen Ländern traditionell kaum voneinander zu trennen sind, generell recht schwer zu verstehen. «Die Forderung nach vollständiger Trennung von Religion und Staat ist daher mehr als nur säkular: sie ist offen anti-islamisch», schreibt der französische Wissenschaftler Gilbert Achcar. Aus diesem Grund sind auch linke und säkulare Organisationen nie ganz frei von Bezügen zum Islam.

Sieht man sich die Plattformen von Widerstandsgruppen an, so stehen streng religiöse Motive nicht im Vordergrund. Es geht vielmehr darum, «die arabisch-islamische nationale Identität zu bekräftigen», wie es z.B. in einer Erklärung heißt, die im Februar d.J. auf dem bis dahin größten Treffen «patriotischer Kräfte gegen die Besatzung», unter Beteiligung eines breiten Spektrum von linken wie islamischen Organisationen, verabschiedet wurde.[21] Oder wie es ein islamischer Widerstandskämpfer, Anführer einer Guerillaeinheit, gegenüber dem kanadischen Journalisten Patrick Graham ausdrückte: Man erträgt es nicht, arrogante, selbstherrliche GIs durch die Straßen patrouillieren zu sehen, die mit jeder Geste deutlich machen, dass Iraker nichts zählen, und die achtlos alles zertrampeln und beleidigen, was den Irakern wichtig und heilig ist.

Graham, ein freier Journalist, der für den Londoner Observer und andere Zeitungen aus dem Irak berichtet, hatte ein Jahr lang engen Kontakt zu Angehörigen bewaffneter Widerstandsgruppen und hat seine Erfahrungen in einem 15-seitigen Bericht zusammengefasst, der einen sehr guten Einblick über Zusammensetzung und Motive dieser Gruppen gibt.[22] Seine Darstellung macht deutlich, dass der Islam einfach Teil der Kultur des Landes ist und dass den Irakern, in Abwesenheit politischer Organisationen, zunächst nur die Stammeszugehörigkeit und die Moschee als organisatorischer Rückhalt blieben. Doch Religion und nationales Bewusstsein gehen bei den von Graham beobachteten Kämpfern Hand in Hand mit sozial fortschrittlichem, antiimperialistischem Gedankengut, das ihn teilweise an die 68er Generation und Che Guevara erinnerte.

Hadi Al Khalissi vom INFC charakterisierte auf der Berliner Konferenz die vorherrschende Ideologie des Widerstands als einen moderaten und volkstümlichen Islamismus, der bemüht ist, die eigene Kultur zu verteidigen, aber tolerant gegenüber anderen Kulturen, Konfessionen und Religionen. «Viele Guerillas sind auf die gleiche Art vom Islam beeinflusst wie die US-amerikanische Soldaten von der Religion, die ebenfalls dazu neigen, im Krieg mehr zu beten», meint auch Cordesman.[23]

Selbst bei radikaleren islamischen Bewegungen wie der Muktader Al Sadrs stehen politische und soziale Anliegen im Vordergrund. Weder Al Sadr noch andere größere Widerstandsorganisationen streben eine Herrschaft der Ayatollahs an. Sie wären in einem Land mit einer starken säkularen Tradition auch nicht durchsetzbar.

Die Widerstandsbewegung ist auch nicht gegen Wahlen. Viele fordern diese seit Beginn der Besatzung, allerdings Wahlen die tatsächlich fair und frei sind und nicht, wie die Wahlen im Januar, unter der vollen Kontrolle der Besatzungsmacht stehen.

Den Anhängern Al Sadrs wird häufig vorgeworfen, gewaltsam gegen «Unislamisches» wie Alkoholausschank, Kinos oder leger gekleidete Frauen vorzugehen. Es gibt in der Tat sehr viele derartige Übergriffe und Drohungen, es ist aber sehr fraglich, ob dahinter tatsächlich Al Sadrs Bewegung steckt, da keine von deren Verlautbarungen darauf hindeutet, dass solche Aktionen zur Politik Al Sadrs gehören.

Vor allem der Vorwurf systematischer Übergriffe auf Frauen gehört heute zum Standardrepertoire der Propaganda der politischen Gegner des (nicht nur) islamischen Widerstands. Diese Vorwürfe gipfelten vor dem Sturm der US-Truppen auf Falluja in Gräuelgeschichten, die von der Organisation for Women Freedom in Iraq (OWFI) verbreitet wurden. Der dortige Widerstand habe sich bemüht, in der belagerten Stadt «seine mittelalterlichen Gesetze durch Furcht und Horror durchzusetzen.» Der Schura-Rat von Falluja, der Rat der islamischen Gemeinschaften der Stadt, habe, so die Frauenorganisation der Arbeiterkommunistischen Partei Iraks, in einer Fatwa die Mujaheddins aufgerufen, alle Mädchen ab zehn zu vergewaltigen, bevor es die Amerikaner tun würden.[24]

Bei aller Distanz zu islamischen Gruppen weisen fortschrittliche Irakerinnen, wie Tahrir Swift, die Direktorin von Arab Media Watch und IDAO-Mitglied, oder Nada Al-Rubaiee von der Irakischen Patriotischen Allianz, diese und andere Vorwürfe als Diffamierungen zurück.[25] Gewiss gebe es Verbrechen an Frauen und Ungerechtigkeiten, doch machen sie dafür die allgemeine Kriminalität, die Besatzer und ihre Verbündeten verantwortlich. Sie weisen angesichts solcher Kampagnen zudem darauf hin, dass die USA den Aufbau widerstandsfeindlicher Frauenorganisationen mit Millionen Dollar gefördert hat.[26] Sie warnen vor einer Islamophobie, die den irakischen Widerstand im Namen der Frauenrechte bekämpft und Islam mit Terrorismus assoziiert.

Es sei, meint Sami Ramadani, durchaus möglich, dass der starke Einfluss islamischer Gruppen und Persönlichkeiten Frauenrechte gefährden könnte. Selbstverständlich würde er sich einen rein linken, säkularen Widerstand wünschen. Doch verletze die Besatzung die Rechte der Frauen auf alle Fälle weit stärker. Die verheerenden Lebensumstände verbannten sie ins Haus und hinderten sie an der Ausübung ihrer Berufe. Zigtausend Frauen wurden von Besatzungstruppen getötet, verwundet oder verschleppt. Ramadani setzt, wie z.B. auch Hassan Juma'a Awad, Vorsitzende der Ölarbeitergewerkschaft in Basra, auf die starke säkulare Tradition des Landes, die eine dominierende Rolle des Islams verhindern wird.

Mit SCIRI und DAWA gehören zudem zwei der reaktionärsten schiitischen Parteien, mit engen Verbindungen zum iranischen Regime, zu den wichtigsten Verbündeten der USA. Sie sind die stärksten Kräfte in der Interimsregierung und werden sehr stark auf die Einbeziehung islamischen Rechts in der Verfassung drängen. Schon aus dem «Regierungsrat» heraus haben sie versucht, das fortschrittliche irakische Familienstandsrecht zugunsten von altem islamischen Recht abzuschaffen. Ihre Milizen stellen in vielen Städten des Südens die Sicherheitskräfte und versuchen Berichten zufolge, Elemente der Scharia auf eigene Faust einzuführen, und bedrohen alle, die sich dem widersetzen.[27]

Wenn religiöse Organisationen mittlerweile ein Übergewicht im Irak haben, so liegt dies nicht zuletzt an der Schwäche der Linken. Hierzu hat auch die irakische KP einen guten Teil beigetragen. Ihr Übertritt ins pro-amerikanische Bündnis hat viele alte Sympathisanten verunsichert und ein großes Loch auf der Seite der Linken gerissen.



[1] Vortrag auf der Konferenz «Islam – Islamismus – ‹islamischer» Widerstand› am 23./24. April 2005 im Marx-Engels-Zentrum, Wuppertal, erschien gekürzt in der "jungen Welt v. 15.7.2005, http://www.jungewelt.de/2005/07-15/004.php

[2] Einen sehr guten Überblick gibt Robert Lindsay in «An Insiders Look at the Iraqi Resistance», Jihad Unspun, 18.12.2003, http://www.jihadunspun.com/articles/18122003-Iraqi-Resistence/ir/ailatir01.html

[3] «Labor Pains», AlterNet, March 31, 2005, http://www.alternet.org/story/21555/

[4] Walter Pincus, «CIA Studies Provide Glimpse of Insurgents in Iraq», Washington Post, February 6, 2005

[5] Wo Sarkawi drauf steht, ist nicht immer Sarkawi drin, Berliner Zeitung, 6.4.3006, http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/meinung/436688.html?2005-04-06     

[6] Anthony Cordesman, «The Developing Iraqi Insurgency: Status at end-2004.”, 22.12.2004

[7] «What Can the U.S. Do in Iraq?», International Crisis Group, 22.12.2004, http://www.crisisgroup.org/home/index.cfm?id=3196&l=1

[8] Siehe z. B. Michel Chossudovsky «Pentagon's new ‹Terrorist Mastermind› – Who is Abu Musab Al-Zarqawi?

Global Research, 11.6.2004, http://globalresearch.ca/articles/CHO405B.html, oder Scott Ritter «The risks of the al-Zarqawi myth», Aljazeera 14.12.2004

[9] «Al-Zarqawi may not be behind Iraq attacks, Intelligence says group too small to do what he claims or is blamed for»,

NEWSDAY, 4.10.2004

[10] Iraq battling more than 200,000 insurgents, afp, 4.1.2005, http://www.dailystar.com.lb/article.asp?edition_id=10&categ_id=2&article_id=11487

[11] siehe www.irakkonferenz.de

[12] Interview mit Hadi Al Khalisi, junge Welt, 19.03.2005, http://www.jungewelt.de/2005/03-19/031.php

[13] «Iraqi Resistance Distances itself From Civilian Blood, IslamOnline.net, 7.3.2005

[14] Anthony Cordesman, «The Developing Iraqi Insurgency: Status at end-2004”, sowie M. Junaid Alam, «Does the Resistance Target Civilians?», Left Hook; April 18, 2005, http://www.zmag.org/content/print_article.cfm?itemID=7670&sectionID=15

[15] Dahr Jamail, «‹Democracy› in Iraq», 18.5.2005

[16] s. dazu Joachim Guilliard, «Die ‹El-Salvador-Option›», junge Welt, 19.5.2005, und Max Fuller, «Death-squad style massacres – For Iraq, ‹The Salvador Option› Becomes Reality», 2.6.2005, http://globalresearch.ca/articles/FUL506A.html

[17] Die Charakterisierung von Angriffen als «Selbstmordanschlag» findet sich in den US-Berichten und den westlichen Medien sehr oft auch bei Angriffen auf Besatzungstruppen, wo unabhängige Quellen eher ferngezündete Bomben vermuten lassen. Das Etikett «Selbstmordanschlag» stempelt die Angreifer als Fanatiker ab.

[18] «Who Kills Hostages in Iraq? – An Inventory of Iraqi Resistance Groups, Al Zawra (Baghdad), 19.9.2004. Die Übersetzung der Foreign Broadcast Information Service der CIA war ursprünglich auf der der  FAS Website (unter  http://www.fas.org/irp/news/2004/09/az091904.html), wurde aber entfernt, es sind aber viele Kopien im Netz, u.a. beim  Global Policy Forum 

[19] so auf der Seite von «The Free Arab Voice»: http://www.freearabvoice.org

[20] Interview von Herbert Docena, «The Iraqi resistance is a popular resistance», ZNet, February 23, 2005, http://www.zmag.org/content/print_article.cfm?itemID=7297&sectionID=15

[21] Erklärung der «Patriotischen Kräfte gegen die Besatzung», http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Irak/statement.html

[22] Patrick Graham, «Beyond Fallujah – A year with the Iraqi resistance», Harper's Magazine, June 2004, http://harpers.org/BeyondFallujah.html

[23] «Iraq Insurgency Larger Than Thought», The Guardian, 8.7.2004

[24] siehe http://idao.org/owfi.html

[25] Brief von Tahrir Swift, http://idao.org/tahrir-letter.html, Nada Al-Rubaiee, «Der irakische Widerstand und die Erpressungskampagne ‹irakischer Frauenorganisationen›» http://widerstandsreport.sedunia.org/#IPA

[26] Haifa Zangana, «Quiet, Or I'll Call Democracy», The Guardian, 25.12.2004, Naomi Klein and Haifa Zangana, Killing Democracy in Iraq, Red Pepper, Januar 2005, http://www.redpepper.org.uk/Jan2005/x-Jan2005-K&Z.html

[27] And Life Goes On..., Riverbend, 12.2.2005, http://riverbendblog.blogspot.com/