Vor Beginn des Irak-Krieges sprach auf einer Sitzung der arabischen Liga ihr Generalsekretär Amr Moussa das berühmte Wort, ein US-amerikanischer Krieg gegen den Irak würde die Tore der Hölle öffnen.
Im Irak sind inzwischen diese Tore breiter geöffnet als jemals zuvor - zumindest für die Vereinigten Staaten.
"Sunniten und Schiiten gehen jetzt Hand in Hand zusammen gegen die Amerikaner", sagte mir ein Mann auf der Straße im größtenteils von Schiiten bewohnten Armenviertel von Shuala auf der Westseite Bagdads, als wir im Schatten eines ausgebrannten amerikanischen Transportpanzers miteinander sprachen. Diese Gefühle waren auch im lokalen Hauptquartier von Moqtada al-Sadr's Organisation zu finden, die einen Tag vorher von US-amerikanischen Truppen angegriffen worden waren.
Und tatsächlich stimmte jeder im Viertel zu, dass, wenn die US-Truppen aus Shuala vertrieben sein werden, es Sunniten und Schiiten gemeinsam erkämpft haben, zusammen mit unorganisierten lokalen Einwohnern, und es war dann nicht al-Sadr's Mahdi Armee.
Ungeachtet dessen, ob der Widerstand hier in einem Ausmaß anwächst, sodass die Vereinigten Staaten ihn nicht mehr werden kontrollieren können - und das liegt mehr in den Hand von Großayatollah Ali al-Sistani als in der von Paul Bremer oder George Bush bereits jetzt ist klar, dass die Ereignisse der letzten zehn Tage einen kritischen Wendepunkt in der Besetzung des Iraks kennzeichnen.
Uns wird eine passende und sich selbst bestätigende Geschichte über diese Ereignisse erzählt. In dieser Geschichte töteten einige barbarische "isolierte Extremisten" aus dieser "Hochburg der Saddam-Anhänger" Falluja vier zivile Wachleute ('contractors'), die Nahrungsmittelkonvois bewachten - in einem Akt unprovozierter Gesetzlosigkeit. Und Moqtada al-Sadr bekämpft die US-amerikanischen Truppen, weil, um es mit den Worten von George Bush zu sagen, er entschieden habe, dass "nicht Demokratie sich entwickeln soll, sondern Gewalt."
Die Wahrheit jedoch ist davon ziemlich weit entfernt. Falluja, obwohl hauptsächlich von sunnitischen Arabern bewohnt, war keineswegs in der Hand von Saddam-Anhängern. Die Imame dort bekamen Schwierigkeiten, weil sie sich weigerten, der Anordnung zu folgen, Saddam persönlich während der Gebete zu loben. Viele Einwohner sind Salafisten [siehe Anm.1 d. Übersetzers], eine Gruppe, die der politischen Verfolgung durch das Regime ausgesetzt war.
Während des Kriegs war Falluja durchaus keine Brutstätte des Widerstands. Die Wendung zum Widerstand fing am 28. April an, als US-amerikanische Truppen das Feuer auf einer Gruppe von 100 bis 200 Menschen eröffneten, die friedlich protestierten, und dabei 15 von ihnen töteten. Die Amerikaner behaupteten, sie hätten das Feuer nur erwidert, aber die unabhängige Organisation Human Rights Watch führte eine Untersuchung durch, die ergab, dass die Einschußlöcher in dem Gebiet nicht zu dieser Darstellung passten - außerdem blieben alle irakischen Zeugen dabei, dass die Menge unbewaffnet war. Zwei Tage später wurden weitere drei Protestierende getötet.
Diese Ereignisse veranlassten viele Menschen in dieser Region, sich dem Widerstand anzuschließen, indem sie eigenständige Gruppen bildeten [siehe Anm.2 d. Übersetzers]. Die Gewalt ging hin und her, und häufige kollektive Bestrafungen, die der Stadt auferlegt wurden, verwandelte sie schnell in einen Ort, wo der Volkszorn gegen die Besatzung hoch kochte und zwar in einem weit höheren Maße als woanders.
Das jüngste Ereignis, in dem vier Söldner der Firma 'Blackwater Security', die durch ehemalige 'seals', einer Eliteeinheit der US-Navy, aufgebaut worden war, entstand nicht in einem Vakuum die Blackwater-Leute führen viele derselben Funktionen aus wie die regulären Soldaten im Irak und nehmen auch an Kampfhandlungen teil. Tatsächlich hatten gerade eine Woche vorher US-amerikanische Marinesoldaten schwere Angriffe auf Fallujah ausgeführt und dabei mindestens sieben Zivilisten einschließlich eines Kameramanns getötet. Einwohner bezeichneten dies als den Grund für den Angriff auf die Blackwater-Leute und das grauenhafte Schauspiel, das dann folgte [siehe Anm.3 d. Übersetzers].
Mit dem neuen Kämpfen in Falluja, in denen 12 Marinesoldaten, zwei andere Soldaten, und mindestens 66 Iraker getötet wurden, sowie der Absperrung der Stadt, ist ein Ausstieg aus der weiteren Zuspitzung in absehbarer Zukunft ausgeschlossen.
Jedoch, als ob es nicht schon genug Probleme mit den Sunniten gäbe, entschied sich die CPA [siehe Anm.4 des Übersetzers] dafür, gleichzeitig den Kampf mit den schiitischen Anhängern von Moqtada al-Sadr zu suchen.
Was immer al-Sadr's Ansichten über die Demokratie sein mögen, Bushs Behauptung, er wolle durch diese organisierte Gewalt die Demokratie verhindern, ist lächerlich. Erstens haben al-Sadr und seine Anhänger trotz aller brandstiftenden Rhetorik immer offene Gewalt gegen die Besatzungstruppen im letzten Moment vermieden. Zweitens war das Ereignis, das diese ganze Runde der Gewalt auslöste, nämlich das Schließen seiner Zeitung 'al-Hawza', eine offensichtlich undemokratische Tat. Tatsächlich wurde die Zeitung nicht geschlossen, weil sie Gewaltanwendung verteidigte, sondern vielmehr deshalb, weil sie die Behauptung eines Augenzeugen veröffentlichte, ein angeblicher Anschlag mit einer Autobombe, bei dem viele Angehörige der neuen irakischen Verteidigungsstreitkräfte getötet worden waren, sei in Wirklichkeit durch ein Flugzeug verübt worden und damit von den Vereinigten Staaten.
Im Allgemeinen kann man keinen Iraki schneller zum Lachen bringen, als wenn man darüber spricht, wie die Vereinigten Staaten Freiheit oder Demokratie in das Land bringen. Es ist normal, wenn man über das neueste von den Amerikanern verursachte Problem spricht, verächtlich zu sagen: "Das ist die Freiheit". Als ich Rasool Gurawi, den Sprecher im Büros von al-Sadr in Thawra, dem Armenviertel mit zwei Millionen Bewohnern und vielleicht die stärkste Basis von al-Sadr, über die Aussage von Bush befragte, antwortete er: "Das ist Demokratie? Das Angreifen friedlicher Demonstrationen? Menschen zu töten und Gebäude zu zerstören? "
Als die Besatzungmächte gleichzeitig die Kontrolle in Basra, Najaf, Kerbala, Nasiriyah, Kufa, Kut, Diwaniyah, sowie in Thawra, Shuala und in Kadhimiyah in Bagdad verloren, haben Bremer und Bush eine Rolle rückwärts fabriziert. Anstatt al-Sadr wegen seiner politische Rolle festnehmen zu wollen, sagen sie nun, er solle im Zusammenhang mit dem Mord an dem schiitischen Religionsführer Abdul Majid al-Khoei im letzten April festgenommen werden. Und tatsächlich, einer der anderen auslösenden Faktoren in der neuen Runde der Gewaltausbrüche war die Verhaftung von Mustafa Yacoubi, einem führenden Gefolgsmann von al-Sadr, dem derselbe Mord vorgeworfen wird. Es wird aber auch gesagt, die Besatzungsmächte hätten mit alledem gar nichts zu tun, denn schließlich habe ein unabhängiger irakischer Richter den Haftbefehl ausgestellt.
Mit der Glaubwürdigkeit dieser Erklärung ist es nicht weit her. Es ist längst aufgedeckt worden, dass die Haftbefehle vor langer Zeit geschrieben wurden und unbenutzt bis zum passenden Zeitpunkt in der Schublade blieben. Gurawi sagte sogar, der irakische Justizminister habe öffentlich erklärt, dass er keine Information über eine Verwicklung von al-Sadr oder Yacoubi in die Ermordung von al-Khoei habe, und dass sie von der irakischen Regierung nicht gesucht würden.
Unabhängig davon schlagen die militaristische Antwort und hohle Rhetorik der Besatzungsmacht keinerlei Brücken zu irgendeinem Iraki hier, vielmehr eskalieren sie eine Situation einfach nur weiter, die für die Vereinigten Staaten längst außer Kontrolle geraten ist.
Obgleich die Situation in Fallujah eher das Ergebnis einer 'zufälligen' Verkettung von Umständen gewesen zu sein scheint (ungefähr von der Art, dass sie bei den andauernden Scharmützeln unvermeidlich war), weisen alle Anzeichen darauf hin, dass die Maßnahmen gegen al-Sadr's Leute einem vorsätzlichen Zeitplan folgen. Wenn dem so ist, dann war es vermutlich ein Versuch, ihn vor der symbolischen "Übergabe der Souveränität" am 30. Juni politisch auszuschalten.
Dieser ist derart fehlgeschlagen, wie jemand, der die Zeitungen selbst liest, anstatt sie erklärt zu bekommen, leicht vorausgesagt haben könnte. Als gestern [6.4.2004] drei US-amerikanische Soldaten in Kadhimiyah, dem Stadtteil von Bagdad, getötet wurden, war das ein deutliches Zeichen. Obwohl die Anhänger von al-Sadr in Thawra vermutlich eine Mehrheit und in Shuala eine sehr beträchtliche Minderheit sind, war sein Einfluss in Kadhimiyah immer unwesentlich gewesen.
Wenn auch die ausgebrochene Gewalt aktuell in den Hauptnachrichten ist, so ist sie gewissermaßen nicht die wirkliche Geschichte. Die Tötung von mehr als 100 Menschen in den letzten zehn Tagen ist eine Tragödie, aber so ist der Alltag unter der Besatzung.
Die Menschen in den schiitischen Armenvierteln Bagdads, die jetzt aufgebracht gegen die Amerikaner vorgehen, hassen bis heute Saddam mit großer Leidenschaft. Sie litten unter seinen Repressionen, und sie litten auch darunter, von den Sanktionen besonders betroffen gewesen zu sein - knappe Ressourcen und Instandhaltungen wurden auf politisch mehr begünstigte Gebiete verteilt. Sie hofften auf wesentliche Verbesserungen, als die Vereinigten Staaten die Macht übernahmen.
Shaykh Sadun al-Shemary, ehemaliges Mitglied der früheren irakischen Armee, der am Aufstand gegen das Regime 1991 beteiligt war und jetzt ein Sprecher für die Organisation von al-Sadr in Shuala ist, sagte zu mir: "Es sind genau dieselben Verhältnisse wie zur Zeit Saddams - vielleicht schlechter."
Das ist alles, was Sie über die Besatzung des Iraks wissen müssen.
Rahul Mahajan veröffentlicht das Weblog 'Empire Notes' (http://www.empirenotes.org und schreibt zur Zeit Artikel und das Weblog von Bagdad aus. Sein letztes Buch heißt "Full Spectrum Dominance: U.S. Power in Iraq and Beyond". Er kann unter Rahul@empirenotes.org erreicht werden
Original: Opening the Gates of Hell
http://www.zmag.org/content/print_article.cfm?itemID=5283§ionID=15
Anmerkungen d. Übersetzers:
1.) Die Salafisten (vom arabischen 'salaf': «fromme Vorfahren») bilden eine sektiererische, ultrakonservative Unterströmung des Islam. Ihnen schwebt die Errichtung einer panislamischen Nation vor; den Koran interpretieren sie mit Detailbesessenheit; ihr liebstes Feindbild sind die USA.
2.) An dieser Stelle verweist der Autor auf ein Interview im 'San Francisco Chronicle' http://sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?file=/c/a/2003/10/07/MN953.DTL&type=printable .
3.) Gemeint sind die Schändungen der Leichen, über die in den Medien berichtet wurde.
4.) CPA: 'Coalition Provisional Authority', die Besatzungsbehörde des US-Prokonsuls Bremer