Wir sehen zu viel, wir wissen zu viel. Das ist unsere beste Verteidigungswaffe.

von John Pilger

The Independent / ZNet 05.04.2003

Wir können jetzt kurze Blicke auf die verbotenen Wahrheiten des Überfalls auf den Irak werfen. Ein Mann wickelt den Körper seiner kleinen Tochter in blutgetränkte Tücher. Eine in schwarz gekleidete Frau verfolgt einen Panzer mit ausgestreckten Armen; alle sieben Familienangehörigen sind tot. Ein US-Marine ermordet eine Frau, die zufällig neben einem Uniformierten steht. "Tut mir leid," sagt er, "aber die Tussi stand mir im Weg."

Es ist für George Bush und Tony Blair nicht leicht gewesen, diese Vorfälle in einem Leichentuch der Anständigkeit einzuwickeln. Millionen wissen zu viel; die Verbrechen sind alle zu offensichtlich. Der Alterspräsident des britischen Unterhauses, Tam Dalyell, der seit 41 Jahren Abgeordneter der Labour Party ist, erklärt, dass der Premierminister ein Kriegsverbrecher sei und nach Den Haag gebracht werden sollte. Er meint das ernst, denn es gibt zweifelsfrei genügend Beweise gegen Blair und Bush.

1946 wies der Nürnberger Gerichtshof deutsche Beweise für einen Präventivkrieg gegen seine Nachbarn zurück. Im Urteil des Gerichtshofs heißt es: "Das Anfachen eines Angriffskriegs ist nicht nur ein internationales Verbrechen; es ist das höchste internationale Verbrechen, das sich nur dadurch von anderen Verbrechen unterscheidet, dass es alles Böse beinhaltet."

Hinzu kommt, so die palästinensische Schriftstellerin Ghada Karmi "ein tiefer und unbewusster Rassismus, der jeden Aspekt westlicher Politik gegenüber dem Irak durchdringt. Es ist dieser Rassismus, sagt sie, der in zynischer Weise aus Saddam Hussein, "einem unbedeutenden lokalen, wenn auch brutalen und grausamen Häuptling, von denen es vorher schon viele gab, eine grundlos dämonisierte Persönlichkeit geschaffen hat."

Für den Kolonialminister Winston Churchill waren die Iraker, wie alle Araber, "Neger", gegen die Giftgas eingesetzt werden durfte. Sie waren Unmenschen und sind es immer noch. Die Ermordung von fast 80 Dorfbewohnern in der Nähe von Bagdad am letzten Donnerstag, von Kindern auf Märkten oder von "Tussis, die im Weg stehen" wären nackte Zahlen, gäbe es da nicht die Stimmen der Millionen, welche die Straßen Londons und anderer Hauptstädte füllten und die der jungen Menschen, welche die Schulen verließen, um ihren Protest zu artikulieren; sie haben unzählige Menschenleben gerettet.

Genau wie die amerikanische Invasion Vietnams durch Rassismus angefacht wurde, indem man "Schlitzaugen" straffrei töten konnte, sind auch die gegenwärtigen Grausamkeiten im Irak nach dem gleichen Muster. Sollten Sie das bezweifeln, stellen Sie die Nachrichten an und untersuchen Sie die doppelte Moral. Stellen Sie sich irakische Panzer in Großbritannien und irakische Truppen vor, die Birmingham belagerten. Absurd? Es würde hier nicht geschehen. Aber das britische Militär macht eben gerade das in Basra, einer Stadt, die größer als Birmingham ist, und schießt Raketen und wirft Streubomben auf die Bevölkerung, von der 40% Kinder sind. Des Weiteren weigern sich "unsere Jungs" sowohl der Bevölkerung von Basra als auch der von Umm Qasr, die sie seit einer Woche kontrollieren, Wasser auszuhändigen. Es ist kein Wunder, dass Blair sauer auf den arabischen Sender Al-Dschasira ist, der dies aufgedeckt hat, genau wie die Lüge, die Menschen in Basra würden einen Aufstand als Zeichen ihrer Befreiung machen.

Seit dem 11. September hat "unsere" Propaganda und der ihr innewohnende stillschweigende Rassismus zu einer gebieterischen Verzerrung des Verstandes und der Moral geführt. Die Iraker kämpfen bei der Verteidigung ihres Vaterlandes nicht wie Löwen. Sie sind "feige" und unmenschlich, weil sie sich einer Blitzüberfalltaktik gegen einen übermächtigen Invasoren bedienen, als hätten sie eine andere Wahl. Diese Herabsetzung ihres Muts und die Missachtung ihrer Menschlichkeit, ebenso wie die Missachtung Tausender Afghanen, die kürzlich in staubigen Dörfern zu Tode gebombt wurden, konfrontieren uns mit einem moralischen Problem, das so tief ist, wie die westliche Antwort auf die bisher größte terroristische Handlung, die vorsätzliche Bombardierung Japans mit Atomwaffen. Haben wir Fortschritte gemacht? Ist es im Jahre 2003 immer noch wahr, dass nur "unser" Leben wertvoll ist?

Diese angloamerikanischen Invasionen schwacher und weitestgehend wehrloser Staaten sollen die Art Welt demonstrieren, welche die USA planen, mit Gewalt zu beherrschen, mit einer Reihe wertvoller und wertloser Opfer und der Errichtung amerikanischer Stützpunkte vor den Toren aller fossilen Brennstoffquellen. Es gibt jetzt eine Liste. Nach dem Willen Israels wird der Iran als nächstes dran sein; und Kuba, Libyen, Syrien und sogar China sollten sich in Acht nehmen. Nordkorea könnte kein sofortiges Ziel der Amerikaner sein, weil die Drohung vor einem Atomkrieg bisher wirkungsvoll gewesen ist. Hätte der Irak paradoxerweise seine Atomwaffen behalten, dann hätte diese Invasion nicht stattgefunden. Das ist die Lehre für alle Regierungen, die nicht mit Bush und Blair übereinstimmen: Bewaffnet Euch schnellstens mit Atomwaffen.

Die am meisten verbotene Wahrheit aber ist, dass diese nachweislich militaristische britische Regierung und die drohend aufgerichtete Supermacht, der sie dient, die wahren Feinde unserer Sicherheit sind. Bei der Fülle aktueller Meinungsumfragen wurde die aufschlussreichste vom amerikanischen 'Time' Magazin unter einer Viertel Million Menschen überall in Europa durchgeführt. Die Frage war: "Welches Land stellt im Jahre 2003 die größte Gefahr für den Weltfrieden dar?" Die Leser wurden gebeten eine der drei folgenden Möglichkeiten anzukreuzen: der Irak, Nordkorea und die USA. Acht Prozent hielten den Irak für am gefährlichsten, Nordkorea wurde von 9 Prozent ausgewählt. Nicht weniger als 83 Prozent stimmten für die USA, von denen - in den Augen der Mehrheit der Menschheit -Großbritannien jetzt nur noch ein lebloses Anhängsel ist.

Nur erfolgreiche Propaganda und korrupte Journalisten werden uns davon abhalten, diese und andere Wahrheiten zu verstehen. Rupert Murdoch ist bewundernswert offen gewesen. Er pries Bush und Blair als "Helden" und sagte: "es wird im Irak zu Kollateralschäden kommen. Und wenn man wirklich brutal sein will, ist es besser, es jetzt über die Bühne zu bringen." Jede seiner 175 Zeitungen überbringt mehr oder weniger diese bedrohliche Botschaft, ebenso sein US-Fernsehnetzwerk. Die 80 zu Tode bombardierten Dorfbewohner vom Donnerstag sind ein Beweis für die Dringlichkeit, die er beschreibt; andere Opfer in anderen Ländern warten.

Für die Journalisten, die sich selbst als ehrenwerte Wahrheitsberichterstatter sehen, wird es jetzt schwer Entscheidungen zu treffen: ähnlich wie die Entscheidung einer jungen Frau im GCHQ-Spionagezentrum in Cheltenham, die angeblich Dokumente durchsickern ließ, die enthüllten, dass US-Beamte versuchten, Mitglieder des UN-Sicherheitsrates zu erpressen; ähnlich wie die Entscheidung der beiden britischen Soldaten, die vor dem Kriegsgericht angeklagt werden, weil sie ihr Recht, das ihnen vom Nürnberger Gerichtshof gewährt wurde, wahr nahmen und die Teilnahme an einem kriminellen Krieg, in dem Zivilisten getötet werden, verweigerten.

Für Journalisten, die nicht "eingebettet" und tief besorgt von dieser Art Propaganda sind, die sogar unsere Sprache verzehrt, und die, wie es James Cameron ausdrückte, "den ersten Entwurf der Geschichte schreiben", ist gleicher Mut gefordert. Der tapfere Terry Lloyd von ITN, der durch die "Koalition" getötet wurde, bewies dies. Die Drohungen sind jetzt noch schärfer, wie die folgende von Verteidigungsminister Geoff Hoon. "Einer der Gründe, warum wir Journalisten eingebettet haben," sagte er, " ist genau diese Art von Tragödie, die dem ITN-Team widerfuhr, zu verhindern ... weil Terry Lloyd nicht Teil einer militärischen Organisation war.. Und unter solchen Umständen können wir nicht für all jene Journalisten Sorge tragen ... Deshalb ist es sowohl für den Journalismus als auch für die Zuschauer gut, dass die Journalisten den Schutz unserer bewaffneten Kräfte erhalten."

Ähnlich wie ein Mafiaboss, der die Vorteile der Schutzgelderpressung erklärt, sagt Hoon: Handelt, wie Euch befohlen wurde oder tragt die Konsequenzen. Tatsächlich zitiert Donald Rumsfeld, Hoons Vorgesetzter in Washington, oft Al Capone, den bekannten Chicagoer Gangster. Sein Lieblingszitat lautet: " Du erreichst mehr mit Worten und einem Gewehr als nur mit Worten."

Wie können wir dieser Drohung begegnen? Ich glaube, die Antwort liegt darin, uns unserer eigenen Stärke bewusst zu werden. Vor einigen Tagen schrieb Patrick Tyler in der New York Times sehr gescheit, dass Amerika, sich einem "beharrlichen neuen Gegner" gegenübersehe - der Öffentlichkeit. Er sagt, dass wir in eine neue bipolare Welt mit zwei Supermächten eintreten: der Bush-Blair-Bande auf der einen Seite und der Meinung der Welt auf der anderen, einer wahren Volksmacht, die schließlich Emotionen weckt und deren Bewusstsein täglich steigt. War es nicht der Dichter Shelley, der in einer Zeit wie der jetzigen, uns ermahnte: "Steht auf wie Löwen nach dem Schlaf"?

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Weitere Artikel von John Pilger zum Thema Irak finden Sie unter: http://www.zmag.org/CrisesCurEVvts/Iraq/John_pilger.htm und in deutscher Sprache unter: http://www.zmag.de/autoren/author.php?id=45

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Übersetzt von: Tony Kofoet
Orginalartikel: "We See Too Much, We Know Too Much. That's Our Best Defense"