In einem Sturz Saddam Husseins sieht der frühere US-Außenminister Henry Kissinger das wichtigste Ziel für die zweite Phase im Kampf gegen den Terrorismus.
WELT am SONNTAG, 20.1.2001 -
Gastkommentar Von Henry Kissinger
Während die Intensität der Militäroperationen in Afghanistan langsam abflaut, sollten wir uns an die nachdrückliche Aussage von Präsident George W. Bush erinnern, dass sie nur die ersten Kampfhandlungen eines langen Krieges sind. Viel mehr bleibt noch zu tun.
Würden wir jetzt wankelmütig, würde der Erfolg in Afghanistan bald interpretiert als Schlag gegen das schwächste und am weitesten entfernte Terror-Zentrum, während wir davor zurückschreckten, den Terrorismus auch in jenen Ländern auszurotten, die in dieser Hinsicht wesentlich wichtiger sind.
Wir haben dabei drei Möglichkeiten zu handeln:
1. Wir verlassen uns hauptsächlich auf die Diplomatie und die Bildung von Koalitionen in der Hoffnung, das Schicksal der Taliban werde jedem schon die nötige Lektion erteilt haben.
2. Wir verlangen harte freiwillige Schritte von Ländern, von denen wir wissen, dass Terroristen dort Trainingslager oder Hauptquartiere unterhalten (wie Somalia oder Jemen) oder dass sie - wie der Irak - die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen betreiben. Lehnen diese Länder das ab, müssten wir militärisch eingreifen.
3. Wir konzentrieren uns auf den Sturz Saddam Husseins, um das regionale Kräfteverhältnis zu verändern. Damit würden wir die amerikanische Entschlossenheit unterstreichen, die Stabilität in der Region, unsere Interessen und unsere Freunde zu verteidigen. Das wäre auch eine deutliche Botschaft an andere Schurkenstaaten.
Einige Mitglieder der internationalen Koalition gegen den Terror setzen darauf, sich allein auf die Diplomatie zu verlassen. Sie machen geltend, die verbleibenden Ziele ließen sich durch weltweite Konsultationen und die Zusammenarbeit von Geheimdiensten erreichen. Das aber würde bedeuten, dass wir genau jene Fehler wiederholten, die uns in jedem Krieg des vergangenen halben Jahrhunderts die Hände gefesselt haben. So stoppten die Vereinigten Staaten ihre militärischen Operationen in Korea in dem Augenblick, als unsere Gegner sich an den Konferenztisch begaben. So stellten wir die Bombardierung Nordvietnams als Eintrittskarte für die Friedensverhandlungen in Paris ein. Und wir beendeten die Militäroperationen im Golfkrieg nach dem irakischen Rückzug aus Kuwait.
In allen Fällen führte die Lockerung militärischen Drucks in die diplomatische Sackgasse. Die koreanischen Waffenstillstands-Verhandlungen dauerten zwei Jahre, in denen Amerika so viele Opfer zu beklagen hatte wie während der gesamten Kriegsphase. Ein noch größerer diplomatischer Stillstand entwickelte sich bei den Friedensverhandlungen über Vietnam. Und im Golfkrieg nutzte Saddam Hussein die Divisionen seiner republikanischen Garde, die durch unser Einlenken intakt blieben, um die Kontrolle über sein Territorium wiederzugewinnen. Dann begann er, die internationale Inspektion der Waffenstillstands-Vereinbarungen systematisch zu unterlaufen.
Jede Politik gegen den Terror läuft ins Leere, wenn sie nicht durch die Androhung von Gewalt unterfüttert wird. Regierungen, die Terroristen auf ihrem Territorium dulden, kooperieren nur dann, wenn sie die Risiken einer Weigerung für größer erachten als den Nutzen stillschweigender Abmachungen mit den Terroristen.
Die zweite Phase der Kampagne gegen den Terrorismus erfordert deshalb die Vorlage präziser Forderungen, die nach einem genau festgelegten Zeitplan erfüllt werden müssen. Gestützt werden muss das durch eine glaubwürdige militärische Drohung. Forderungen und Zeitplan müssen so bald wie möglich auf den Tisch. Denn die Zeit arbeitet nicht für uns. Phase zwei muss beginnen, solange die Erinnerung an die Attacke auf die USA noch lebendig ist.
Keinesfalls sollte die zweite Phase der Kampagne vermengt werden mir der Befriedung Afghanistans. Unser strategisches Ziel war die Zerstörung des terroristischen Netzwerks. Das ist dort weitgehend erreicht. Die Befriedung eines ganzen Landes ist nie durch Fremde gelungen; sie kann nicht das Ziel des amerikanischen Militäreinsatzes sein. Die USA sollten großzügig wirtschaftliche Hilfe leisten.
Aber das strategische Augenmerk von Phase zwei muss auf die Vernichtung des globalen Terror-Netzwerks gerichtet bleiben. Somalia und Jemen sind in diesem Sinn vielfach als mögliche Ziele genannt worden. Ob man so vorgeht, hängt von unserer Fähigkeit ab, Terror-Zellen dort einwandfrei zu identifizieren, gegen die die lokalen Regime erfolgreich vorgehen können. Und davon, ob wir selbst das in angemessener Form tun können, wenn die Regime vor Ort das nicht können oder wollen.
Wie auch immer: Es bleibt die unvermeidliche Herausforderung, die der Irak darstellt. Die Kernfrage ist nicht, ob der Irak am Terrorangriff gegen die USA beteiligt war, obwohl kein Zweifel besteht an Kontakten zwischen dem irakischen Geheimdienst und den Anstiftern. Die irakische Herausforderung ist im Wesentlichen eine geopolitische. Die Politik des Irak gegenüber den USA und bestimmten Nachbarländern ist unversöhnlich feindselig.
Der Irak besitzt wachsende Arsenale biologischer und chemischer Waffen, die Saddam im Krieg gegen den Iran und die eigene Bevölkerung eingesetzt hat. Er arbeitet daran, die Fähigkeit zum Atomschlag zu entwickeln. Und er verletzte seine Verpflichtung gegenüber der UNO, indem er die internationalen Inspekteure aus dem Land warf, die er als Teil der Waffenstillstandsvereinbarung nach dem Golfkrieg zunächst akzeptiert hatte. Es gibt keine Möglichkeit für Verhandlungen zwischen Washington und Bagdad und keine Basis, den Zusagen des Irak an die internationale Gemeinschaft zu trauen.
Wenn Saddams Regime sowohl den Golfkrieg als auch die Anti-Terrorismus-Kampagne überlebt, wird allein das ihn zu einer überwältigenden potenziellen Bedrohung wachsen lassen.
Langfristig gesehen bietet Phase zwei die größte Gelegenheit, den Irak zu zwingen, wieder eine verantwortungsvolle Rolle in der Region zu übernehmen. Kein vergleichbares Ziel könnte eine ähnliche Wirkung entfalten. Wenn der Irak von Politikern regiert würde, die für die Nachbarn keine Bedrohung darstellten und die gewillt wären, ihre Massenvernichtungswaffen aufzugeben, würde die Stabilität der gesamten Region auf unermessliche Weise gefestigt. Die verbleibenden Regime, die noch mit dem fundamentalen Terrorismus flirten sollten, würden dazu getrieben, diese Unterstützung einzustellen.
Zumindest sollten wir auf einem System bestehen, das es UN-Inspektoren erlaubt, wieder völlig unbehelligt die irakischen Rüstungsanstrengungen zu kontrollieren. Aber ein solches System existiert nicht. Und die Anstrengung, die wir aufwenden müssten, um es zu installieren, könnte ebenso hoch sein wie der Aufwand, der nötig wäre, um Saddam gleich zu stürzen.
Wenn man aber einen solchen Sturz ernsthaft erwägt, müssen drei Voraussetzungen erfüllt werden:
1. Die Entwicklung eines militärischen Plans, der schnelles, entschlossenes Handeln erlaubt;
2. Die vorherige Einigung darüber, welche Regierungsstruktur Saddam ersetzen soll;
3. Die Unterstützung und Einwilligung von Schlüsselländern, die wir für die Ausführung der militärischen Planung brauchen. Ein militärisches Vorgehen gegen Saddam darf sich nicht lange hinziehen. Wenn das geschähe, könnte es sich ausweiten zu einem Kampf des Islam gegen den Westen. Es würde Saddam auch die Gelegenheit bieten, Israel etwa durch einen Angriff mit chemischen oder biologischen Waffen in die Auseinandersetzung zu verwickeln. Ein langer Krieg, der sich über sechs Monate oder mehr erstrecken würde, könnte es auch erschweren, Verbündete oder Länder wie Russland und China davon abzuhalten, formell von unserem Vorgehen abzurücken.
Vor der Einleitung einer Konfrontation mit dem Irak wird die Regierung Bush deshalb höchst sorgfältig die militärische Strategie prüfen wollen. Es ist unwahrscheinlich, dass Streitkräfte in einer Größenordnung wie im Golfkrieg gebraucht werden. Gleichzeitig wäre es aber gefährlich, sich allein auf ein Zusammenspiel von amerikanischer Luftstreitmacht und einheimischen Oppositionskräften zu verlassen. Sicherlich waren die heutigen Präzisionswaffen im Golfkrieg noch nicht in ausreichender Zahl verfügbar. Und die Flugverbots-Zonen machen es für den Irak schwierig, Nachschub heranzuführen. Sie könnten noch effektiver gestaltet werden, indem man sie zu Zonen erklärt, in denen jede Bewegung von bestimmten Waffen verboten ist.
Aber wir können unsere nationale Sicherheit nicht einheimischen Oppositionskräften überantworten, die, selbst wenn sie existierten, eine unbekannte Kampfkraft besäßen. Vielleicht würden die irakischen Streitkräfte schon bei den ersten Kampfhandlungen kollabieren, wie manche meinen. Dass das geschieht, wäre aber nur dann wahrscheinlich, wenn US-Streitkräfte in überwältigender Stärke hinter der örtlichen Opposition stünden.
Als zweite Voraussetzung für einen Militärschlag gegen den Irak müsste das politische Ergebnis genau definiert werden. Eine einheimische Opposition würde sich höchstwahrscheinlich auf die kurdische Minderheit im Norden und die schiitische im Süden stützen. Wenn wir aber die sunnitische Mehrheit des Landes für einen Sturz Saddams gewinnen wollen, müssen wir glasklar machen, dass die Zerteilung des Irak nicht das Ziel unserer Politik ist. Das ist umso wichtiger, weil für eine militärische Operation im Irak die türkische Unterstützung und ein Einverständnis Saudi-Arabiens unumgänglich wären. Keiner der beiden Staaten würde aber sein Placet geben, wenn er befürchten müsste, dass sich am Ende ein unabhängiger kurdischer Staat im Norden und eine unabhängige schiitische Republik im Süden gebildet hätten.
Es wird nicht leicht sein, eine tatkräftige Koalition für eine solche Operation zu schmieden und Stützpunkte für den notwendigen amerikanischen Aufmarsch zu finden. Dennoch: Die geschickte Diplomatie, welche die erste Phase der Anti-Terror-Kampagne formte, kann auf festem Grund aufbauen. Saddam hat keine Freunde in der Golf-Region. England wird die Schlüsselrolle, die es auf Grund seiner besonderen Beziehungen zu den USA spielt und die im Lauf der Entwicklung der jüngsten Krise immer wichtiger wurde, nicht leichtfertig aufgeben. Und auch Deutschland wird - vor allem in einem Wahljahr - nicht gegen die USA aktiv werden, auch wenn seine Unterstützung vielleicht fragwürdiger sein mag als bisher. Dasselbe gilt für Russland, China und Japan. Eine entschlossene amerikanische Politik hätte auf jeden Fall mehr Spielraum, als generell angenommen wird.
Sicher aber ist: Phase zwei wird viel schwieriger werden als Phase eins. Es wird entscheidend auf die öffentliche Meinung in Amerika ankommen, ob wir sie erfolgreich gestalten können. Und dazu wird es derselben entschlossenen, scharfsinnigen und sensiblen Führerschaft bedürfen, die Präsident Bush bewies, als er das Land einte in der ersten Phase der Krise.