aus: ND / Neues Deutschland, v. 28. Februar 2001

Folgen der Sanktionen sind eine menschliche Tragödie

Mit dem Embargo wird die Völkermord-Konvention der UN verletzt

Von Karin Leukefeld

Zehn Jahre nach Ende des Golfkrieges dokumentieren zahlreiche Untersuchungen, Augenzeugenberichte, öffentliche wie nichtöffentliche Regierungsberichte vor allem eines: Das UN-Embargo gegen Irak muss aufgehoben werden.

Großbritannien und die USA-Regierung zwingen den Vereinten Nationen faktisch die Blockadepolitik auf. Beide Staaten bestehen auf den Flugverbotszonen im Norden und Süden des Landes. Obwohl es in einem internen Bericht des Verteidigungsausschusses des britischen Unterhauses heißt, die Flugverbotszonen seien nicht nur »völkerrechtlich inkorrekt, sondern auch unmoralisch«, wurden Mitte Februar großflächige Luftangriffe außerhalb der südlichen Zone auf Außenbezirke von Bagdad geflogen. Nur eine Woche später fielen erneut Bomben auf Stellungen der irakischen Luftabwehr nördlich von Mossul.

»Das Embargo gegen den Irak hat ganz den Charakter einer klassischen Blockade«, stellt Jutta Burghardt in ihrem Beitrag zu einem demnächst erscheinenden Buch fest (Der Irak - ein belagertes Land, Papyrossa Verlag, Köln). Der Unterschied sei, dass bei einer Festung im Mittelalter wenige hundert Menschen betroffen waren, in Irak hingegen leben 25 Millionen Menschen. »Was sollen im übrigen die Hirtennomaden in den schiitischen Gebieten im Süden des Irak und die Bewohner von Basra davon halten, wenn sie "zu ihrem eigenen Schutz" angegriffen, verletzt und getötet werden?« Die ehemalige Leiterin des Welternährungsprogramms (WFP) für Irak kritisiert an der gängigen Medienberichterstattung, dass »der Welt nur die militärische Seite der Auseinandersetzung« gezeigt werde. »Die menschliche Tragödie, die sich im Irak abspielt«, sei aber real.

Als eine der wenigen vermeidet sie in ihren Stellungnahmen Häme gegenüber dem irakischen Regime, dem sie bei der Verteilung der Nahrungsmittel an die Bevölkerung Kooperationsbereitschaft und Verantwortungsgefühl bescheinigt. Das Geld aus den Ölverkäufen (»Öl für Nahrungsmittel«), über das Irak nicht selber verfügen kann, wird nach einem Schlüssel in einzelne Segmente aufgeteilt. Danach erhalten die etwa fünf Millionen Menschen in den kurdischen Gebieten Nordiraks 13 Prozent der Mittel. 53 Prozent sollen die Versorgung der übrigen Bevölkerung in Mittel- und Südirak sicherstellen, 25 Prozent werden für Reparationszahlungen und an die UN-Kompensationskommission gezahlt, 2,2 Prozent finanzieren die Präsenz des humanitären UN-Progranmms. Die restlichen Gelder dienen u.a. zur Finanzierung der Waffeninspekteure und von Pipeline-Gebühren.

Die monatlich verteilten Grundnahrungsmittel sind Weizen, Reis, Hülsenfrüchte, Tee, Zucker, Salz, Speiseöl und Trockenmilch. Außerdem gibt es Seife und Waschpulver. Untersuchungen der UNO haben ergeben, dass diese Ration oft nach drei Wochen schon aufgebraucht ist. Da mehr als 60 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind, verfügt die Mehrheit über kein eigenes Einkommen. Die Menschen sind verarmt, der Bildungsstand ist zurückgegangen. »Viele Kinder müssen arbeiten, um das Familieneinkommen durch Betteln, Zigaretten- und Zeitungsverkauf oder Schuhputzen aufzubessern. Ich selbst sah einen Drei- bis Vierjährigen in der Nähe meines Hotels bei dieser Tätigkeit«, so Jutta Burghardt. Chronische Mangelernährung führt zu reduziertem Wachstum bei den Kindern. Burghardt berichtet, dass Familien ihre Kinder in Waisenhäusern abgeben, weil sie sie nicht mehr ernähren können.

»Die Abschottung der Gesellschaft von allen Möglichkeiten des Austauschs mit dem Rest der Welt setzt die derzeit aufwachsende Generation in einen nicht aufholbaren Nachteil.« Mindestens eine irakische Generation sei verloren. Während früher laut UNESCO rund 95 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben konnten, waren es im März 2000 nur noch 58 Prozent. Die ehemals gut situierte und hervorragend ausgebildete Mittelschicht in Irak ist völlig verarmt. In keinem Land des Mittleren Ostens gab es so viele hochkarätige Professoren, Ärzte und Ingenieure. Auch Frauen hatten Zugang zu den Universitäten oder zu Stipendien im Ausland. Heute müssen sich die meisten von ihnen als Gelegenheitsarbeiter verdingen. Mit dem Verkauf von Möbeln, Kleidung und Hausrat versuchen jene, die über Eigentum verfügen, sich über Wasser zu halten. Manche haben das Land verlassen und unterstützen durch Arbeit im Ausland ihre Familien.

Am meisten leiden die Kinder. Eine Studie des Kinderhilfswerks UNICEF hatte im Juni 2000 den Nachweis erbracht, dass 500.000 Kinder seit dem Beginn der Sanktionen an Unterernährung und anderen Folgen des Embargos gestorben sind. Hinzu kommen - besonders in der Umgebung der südirakischen Hafenstadt Basra - Krebserkrankungen und furchtbare Missbildungen, die von Beobachtern auf den Einsatz von Uran-Munition durch die Alliierten während des zweiten Golfkriegs zurückgeführt werden.

Frau Burghardt trat im März 2000 nach Inkraftsetzung der UN- Sicherheitsresolution 1284 ebenso von ihrem Posten zurück wie der langjährige UN-Diplomat und Leiter des UN-Programms »Öl für Nahrungsmittel«, Hans Graf von Sponeck. »Von einer Aufhebung des Embargos war nicht mehr die Rede«, begründet Frau Burghardt ihren Rücktritt. Es sei lediglich um die »Suspendierung und deren regelmäßige Erneuerung in bestimmten Zeitintervallen« gegangen. »Selbst bei voller Kooperation der irakischen Seite mit den Waffeninspekteuren« sei für Bagdad keine Verfügungsgewalt über die Einnahmen aus den Ölverkäufen vorgesehen gewesen. Jutta Burghardt stimmt mit dem belgischen Völkerrechtsexperten Marc Bossuyt überein, dass das Embargo gegen Irak eine Verletzung der UN-Konvention zur »Verhütung und Bestrafung von Völkermord« darstelle. Optimistisch bleibt sie trotzdem und verweist auf die neue Gesprächsrunde zwischen Irak und den Vereinten Nationen, die gerade in New York begonnen hat. »Der Irak muss die ihm zukommende Rolle in der Völkergemeinschaft wieder einnehmen. Es ist notwendig, hierzu einen politischen Dialog zu beginnen.«