Replik zu: "Wider den Mythos von den 'tödlichen Sanktionen' der Vereinten Nationen gegen Irak, von Milton Leitenberg/ Wolfgang Mallmann
Von Sylvia Weiss , Orient 39 (1998) 3
Der Artikel Wider den Mythos von den "tödlichen Sanktionen" der Vereinten Nationen gegen Irak von Milton Leitenberg/Wolfgang Mallmann - Orient 39 (1998) 3 enthält m.E. wissenschaftlich nicht fundierte, gefährliche Aussagen, die ich nicht unwidersprochen hinnehmen möchte. Fast jeder Satz der Autoren könnte in Frage gestellt werden, was aber naturgemäß in einer kurzen Replik nicht möglich ist.
Daß die beiden Verfasser versuchen, das von den USA seit 1990 durchgesetzte UN-Embargo gegen Irak, das das Leben einer Zivilbevölkerung an politische Ziele bindet und das nachweislich den Tod von Hunderttausenden von Menschen verursachte, "wissenschaftlich" zu rechtfertigen und als "Mythos" bezeichnen, muß zutiefst empören.
Einwände allgemeiner Art
Wenn man die katastrophalen und tödlichen Auswirkungen der seit August 1990 geltenden, allumfassenden Sanktionen gegen Irak für die irakische Zivilbevölkerung negiert, wie das Leitenberg/Mallmann in ihrem Artikel tun, dann muß man wissenschaftlich unangreifbare Beweise liefern für diese Hypothese, methodisch einwandfrei arbeiten und sich einer neutralen Sprache bedienen. Keines dieser Kriterien erfüllt der Aufsatz von Leitenberg/Mallmann. Zu obigen Kriterien tritt für jeden Wissenschaftler imperativ eine ethische Kategorie, wenn es sich um essentielles Recht von Menschen handelt - das Recht auf Leben und Nahrung. Die Legitimität der weitreichenden Sanktionen gegen Irak wird von Leitenberg/Mallmann nicht anhand ihrer Auswirkungen auf die irakische Zivilbevölkerung diskutiert. Sie weichen stattdessen auf allgemeine Überlegungen zu UN-Sanktionen aus.
Die Ergebnisse der zahlreichen wissenschaftlichen UN-Untersuchungen zur humanitären Lage im Irak werden von Leitenberg/Mallmann ignoriert, wie weiter unten belegt werden wird. Die beiden Autoren behaupten, daß Irak die Sanktionsbedingungen nicht annähernd erfüllt habe und belegen dies einseitig hauptsächlich mit amerikanischen Meinungen (S. 485/486). Die von amerikanischer Seite zusätzlich gestellten Bedingungen zur Aufhebung des Embargos werden von Leitenberg/Mallmann akzeptiert und nicht anhand der rechtlichen Grundlagen, der UN-Resolutionen 661 und 687, erörtert. Im übrigen war das Ziel von Resolution 687 auch die "Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in der Nahostregion" - frei von allen Massenvernichtungswaffen - und die "Herbeiführung einer ausgewogenen und umfassenden Kontrolle der Rüstungen der Region". (1)
In diesem Zusammenhang werden weder die israelischen Massenvernichtungswaffen noch die Nichtbefolgung sämtlicher UN-Resolutionen seitens Israels erwähnt. Hier wird also stillschweigend mit zweierlei Maß gemessen. Die Verfasser weisen auch nicht darauf hin, daß seit Jahren die Abrüstungskommission für den Irak (UNSCOM) keinerlei irakische Massenvernichtungswaffen finden konnte. Die UNSCOM "vermutet", trotz umfassender Überwachung, noch Massenvernichtungswaffen im Irak. (2) Die Medien werden von Leitenberg/Mallmann gescholten, wenn sie über katastrophale Embargoauswirkungen berichten, sie werden dagegen durchgängig als Beweismittel herangezogen, wenn es um das dämonisierte Feindbild Saddam Hussein geht.
Als Beweise dienen den Autoren u.a. "Gerüchte" in der Presse (S.491), die sie als "weitgehend bestätigt" präsentieren. Sie können mittels der zitierten Zeitungen jedoch nicht "an konkreten Beispielen" beweisen, wie behauptet, daß "der größte Teil der eingeführten Lebensmittel und Medikamente [Erdöl gegen Lebensmittel-Abkommen] auf dem Schwarzmarkt lande" und "Saddams Familie" am Medikamentenverkauf verdiene. "Der Propagandakrieg" betitelt der englische "Guardian" seinen Bericht vom 14.11.1998 über die Gründung der "Iraq Media Group" durch die Briten und Amerikaner, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und "Bagdad zu verunglimpfen". Zahlreiche Behauptungen in Leitenberg/ Mallmanns Artikel (Saddams Paläste u.a.) sind wohl dem Propagandabereich zuzuweisen. Groteske Aussagen wie diese gehören dazu: Das tatsächliche Ziel des Wiederaufbaues im Irak - Instandsetzung der Brücken, Straßen, Eisenbahnstrecken, verwüsteten Stromversorgungsnetzen, Fernmelde- und Rundfunkeinrichtungen - sei gewesen, den Republikanergarden und Streitkräften die Mobilität im Landesinneren wiederzugeben (S. 487).
Diese Hypothese widerspricht an sich schon jeder rationalen Überlegung und würde außerdem bedeuten, daß für die Zivilbevölkerung eine intakte Infrastruktur und Versorgungswege nicht wichtig wären. Der Artikel bedient sich des öfteren einer populistischen Schlagwortsprache und einer polemischen Ausdrucksweise, die seriöse Autoren nicht nötig haben zu benutzen. Verschiedene Sprichwörter, Mottos und Volksmundaussprüche sollen Leitenberg/Mallmanns Aussagen Beweiskraft verleihen. Unnötige Wertungen werden einseitig Irak und Sanktionskritikern zugeordnet. Nicht diskutiert oder gewertet werden von Leitenberg/Mallmann die politisch strategisch-wirtschaftlichen Interessen der USA (immense Waffenverkäufe an die Golfstaaten, Beherrschung der rohstoffreichen Golfregion) für das Beibehalten des Embargos.
Einwände gegen die Argumentationsweise der Autoren
Vom 6. August 1990 an, schon vier Tage nach Iraks Einmarsch in Kuwait, verhängte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unter Kapitel VII der UN-Charta mit Resolution 661 ein allumfassendes Embargo gegen den Irak: Keinerlei Importe oder Exporte von Produkten und Waren, Geldtransfers, Lieferung von Waffen oder militärischen Ausrüstungen; Sperrung aller Gelder oder anderer finanzieller oder ökonomischer Ressourcen. (3) Resolution 661 war die "Konsequenz" auf Iraks Nichtbefolgung von Artikel 2 der Resolution 660 vom 2.8.1990 - sofortiger Rückzug aus Kuwait. Gegen kein anderes Land wurde je so schnell ein solch drastisches UN-Embargo verhängt. Leitenberg/Mallmann belegen dies selbst mit ihrer Tabelle 1 gegenwärtiger UN-Sanktionen (S. 478). Sie sprechen dagegen im Text (S. 477) zu Unrecht von einer schrittweisen Ausdehnung der Sanktionen, einem "Eskalationsmechanismus" nach Kapitel VII der UN-Charta, der "angesichts der irakischen Unnachgiebigkeit" in ein "umfassendes ... -embargo" mündete.
Das umfassende Embargo galt aber von Anfang an, nur die Überwachung des Embargos bzw. gegebenenfalls seine Mechanismen wurden verbessert. Das bestätigen die Autoren wiederum auf Seite 493, um "seriös eingeschätzte Zeitungen" zu rügen, die das Embargo falsch terminieren. Wenn Leitenberg/Mallmann bezüglich der Irak-Sanktionen fälschlicherweise von einem "Eskalationsmechanismus" sprechen, so bedienen sie sich eines sprachlichen Mittels, um den Leser in ihrem Sinne in eine bestimmte Richtung zu lenken. Im vor- und nachlaufenden Text nämlich (S. 476 und 493) wird das "Eskalationsmodell" nach Kapitel VII der UN-Charta korrekt angesprochen, welches sich auf die Ermächtigung zum militärischen Eingreifen bezieht. Diese Methode der Autoren, sprachlich und sachlich falsche Verbindungen zu knüpfen, ist durchgehend zu beobachten. Leitenberg/Mallmann führen aus, daß in allen UN-Resolutionen der Kauf von lebenswichtigen Medikamenten und ab 22. März 1991 von Lebensmitteln für humanitäre Hilfe von Zwangsmaßnahmen ausgenommen sind.
Wie ein Land unter Sanktionen, ohne Auslandsdevisen und mit eingefrorenen Konten, Lebensmittel und Medikamente kaufen soll, lassen sie offen. Irak mußte schon vor dem Krieg den größten Teil der Lebensmittel und Medikamente importieren.
Im Originaltext der Resolution 661 heißt es: "Ausgenommen [von den Sanktionen] sind Zahlungen für ausschließlich streng medizinische oder humanitäre Zwecke, und unter humanitären Umständen, Nahrungsmittel." Mit Resolution 666 vom 13.9.1990 stellt der Sicherheitsrat klar, daß " ... er allein bzw. sein Ausschuß bestimmen kann, ob humanitäre Umstände eingetreten sind." Das bedeutet, daß Irak von Anfang an verwehrt wurde, frei Nahrungsmittel für seine Bevölkerung einzuführen. Zudem bestimmt einzig der Sicherheitsrat bzw. sein Ausschuß, ob, wann und wieviel die irakische Zivilbevölkerung "humanitäre Hilfe", nicht generell Nahrungsmittel, nötig hat. Es dauerte über 7 Monate, bis der Ausschuß des Sicherheitsrates sich ernsthaft zum ersten Mal, und das erst nach dem 6-wöchigen Krieg, mit dem Problem der Ernährung eines Zwanzigmillionenvolkes befaßte.
Auch die UN-Resolution 687 vom 3. April 1991 gewährt keinen freien Zugang zu Nahrungsmitteln, denn die Einfuhr muß immer vom Sicherheitsratsausschuß genehmigt werden. Daß dieser selektiv, langsam und oft gar nicht genehmigt, ist mittlerweile bekannt. Vor dem Krieg mußten "auch in guten Jahren über 70 % der Lebensmittel" importiert werden, schreibt Sadruddin Aga Khan, Leiter der UN-Mission für humanitäre Hilfe im Irak, im Juli 1991. (4)
Das geht auch aus dem ersten Bericht der (UNO nach dem Krieg über die humanitäre Lage im Irak nach einer Feldmission des UN-Beauftragten Martti Ahtisaari vom 20. März 1991 hervor. Ahtisaari führt in seinem Bericht aus: "Es sollte jedoch sofort gesagt werden, daß nichts von dem, was wir gesehen oder gelesen hatten [in den Medien], uns auf die besondere Form von Zerstörung, welche dem Land nun widerfahren ist, vorbereitet hatte. Der kürzlich überstandene Konflikt hat fast apokalyptische Zustände über die ökonomische Infrastruktur eines Landes gebracht, das bis zum Januar 1991 eine ziemlich hoch urbanisierte und mechanisierte Gesellschaft war. ... Irak ist zurückversetzt worden in ein vorindustrielles Zeitalter, aber mit all den Gebrechen von nach-industrieller Abhängigkeit wie intensiver Gebrauch von Energie und Technologie." "Die weitreichenden Auswirkungen" des vom Krieg erzeugten "Energie- und Kommunikationsvakuums" auf das Gesundheitswesen und auf die Nahrungsmittelversorgung der Zivilbevölkerung werden in dem Bericht eindringlich geschildert. Ahtisaaris Mission empfiehlt "die Sanktionen in bezug auf Nahrungsmittel-Lieferungen sowie die den Import von landwirtschaftlicher Ausrüstung und Gerät betreffend, sofort aufzuheben." (5)
Sadruddin Aga Khan konstatiert: "Zwischenzeitlich, um einen allgemeinen Zusammenbruch der Gesundheitsdienste Iraks zu vermeiden und angesichts der sich verschlechternden Nahrungsmittelsituation sollten dringend Übereinkünfte gemacht werden, um das Land in die Lage zu versetzen, seine eigenen Ressourcen zu nutzen. ... Bemerkend, daß die obigen Bedürfnisse in humanitärer Gesinnung geprüft werden sollten, wünscht die Mission auch geltend zu machen, daß die ausgedehnte Abhängigkeit Iraks von ungenügender internationaler Hilfe im Gesundheitssektor gegen ethisch-medizinische Grundsätze (health ethics) verstößt."
Auch alle folgenden Untersuchungen unabhängiger Gremien und seriöser UN-Organisationen kommen immer wieder zu den gleichen Ergebnissen: Dem potentiell reichen Land Irak wird durch die Sanktionen verwehrt, seine Bevölkerung genügend zu ernähren, medizinisch zu versorgen und die dazu nötige Infrastruktur zu reparieren. Die "humanitäre Hilfe" sei völlig ungenügend. Die FAO-Studie von 1993 schätzt, daß die gesamte, dem Irak zugestandene Nahrungsmittelhilfe "weniger als 7 % des Gesamtnahrungsmittelbedarfs beträgt".
Vor dem Embargo konnten Nahrungsmittel "zu niedrigem Preis eingekauft werden"; auch stellte der Staat zuvor "Gesundheitsdienste und Medikamente fast kostenlos" zur Verfügung. Das Embargo erzeuge eine "Hyperinflation" bei gleichzeitigem Absinken der Familieneinkommen. Das Verbot von Importen und mangelnde Devisen, um Wasseraufbereitungsanlagen und Abwassersysteme zu reparieren, führten zu Umweltverschmutzung, Krankheit und Tod. Die von künstlicher Bewässerung abhängige irakische Landwirtschaft könne nicht aktiviert werden, da Zerstörungen nicht beseitigt, landwirtschaftliche Geräte und Ersatzteile sowie Saatgut, Düngemittel, Pestizide etc. fehlen. Der Viehbestand dezimiere sich durch Krankheiten, da nicht genügend Impfstoffe und Arzneimittel vorhanden sind. Leitenberg/Mallmann bestreiten in ihrem Artikel einen eindeutigen Kausalzusammenhang zwischen UN-Embargo und Unterernährung und Kindersterblichkeit im Irak.
In diesem Zusammenhang werfen sie den Medien, aber auch wissenschaftlicher Berichterstattung, "grobe Verzerrung" von Ergebnissen "seriöser Institutionen" vor (S. 480/482 f.). Als Beispiel führen sie u.a. die - wie sie selbst schreiben - "angesehene" britische medizinische Wochenzeitschrift 'The Lancet' an. Diese hatte unter der Überschrift "Gesundheitliche Folgen der Sanktionen gegen Irak" Ergebnisse von wissenschaftlichen Untersuchungen referiert. Ebenfalls hatte The Lancet einen Leserbrief zweier Wissenschaftlerinnen abgedruckt. Sarah Zaidi und Mary G. Smith Fawzi werden aber von Leitenberg/Mallmann in ihrem Artikel so ungenau nur als Mitwirkende an einer FAO-Studie und an einer Untersuchung über Kindersterblichkeit gekennzeichnet, daß dem Leser folgendes nicht genügend klar wird: Es handelt sich um zwei der insgesamt fünf Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die die Untersuchungen der FAO- Mission von 1995 (Bewertung der Ernährungs- und Nahrungsmittelsituation im Irak) maßgeblich durchführten. Gestützt auf ihre eigenen Untersuchungen publizieren sie in einem Leserbrief ihre Ergebnisse, die einen "starken Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Sanktionen und der Zunahme der Kindersterblichkeit sowie von Unterernährung" zeigen.
Als Folge der Sanktionen wären 567.000 Kinder im Irak gestorben. Leitenberg/Mallmann stellen diese Ergebnisse und somit die Kompetenz der Wissenschaftlerinnen in Frage. Zudem ist das von Leitenberg/ Mallmann abgedruckte Zitat in entscheidenden Punkten fehlerhaft abgeschwächt bzw. bewußt gekürzt worden. Schaut man sich den Text der FAO-Studie selbst an, so werden die Folgerungen der beiden Briefeschreiberinnen bestätigt. Um die verheerenden Auswirkungen der Sanktionen auf die irakische Zivilbevölkerung zu bestreiten, weisen Leitenberg/Mallmann auf die "Zielsetzungen" der FAO-Mission hin. Sie beziehen sich dabei auf einen Antwortbrief an Leitmann vom Direktor der FAO, der der Irak- Mission nicht angehörte.
Dieser schreibt: " ... Wir möchten Sie jedoch dahingehend informieren, daß es nicht Aufgabe der Studie war, einen Kausalzusammenhang [ ... zwischen wirtschaftlichen Sanktionen und der Zunahme der Kindersterblichkeit ... ] zu beweisen." Es mag zwar ursprünglich nicht "Zielsetzung" und "Aufgabe" der FAO- Studie gewesen sein, den Zusammenhang zwischen Sanktionen, Kindersterblichkeit und Unterernährung zu belegen, aber das Ergebnis der FAO-Studie beweist dies in bedrückender Weise. Außerdem wäre die Studie von der UNO sicher nicht in Auftrag gegeben worden, wenn es keinen Anlaß dazu gegeben hätte, nämlich die Auswirkungen der Sanktionen auf die irakische Zivilbevölkerung durch "Bewertung der Ernährungs- und Nahrungsmittelsituation im Irak" zu untersuchen.
Jeder Wissenschaftler weiß um den Unterschied in wissenschaftlichen Untersuchungen von konkretem Endergebnis und ursprünglicher "Zielsetzung", denn gerade das macht die Wissenschaftlichkeit einer Untersuchung aus. Des weiteren führen Leitenberg/Mallmann u.a. eine Tabelle zur Landwirtschaft des Aga-Khan-Berichtes von 1991 als Beweis dafür an, daß von Sanktionskritikern eine "Vielzahl von Ursachen" ausgeblendet werden, "die ebenso, wenn nicht gar in weit stärkerem Ausmaß für die Leiden der Zivilbevölkerung verantwortlich sind" (S. 489/90). Die Tabelle zeigt aber exemplarisch eine Anhäufung schwerer Sanktionsauswirkungen im Bereich der Landwirtschaft. Gerade eben diese Mängel und Schäden werden in allen UN-Berichten als durch die Sanktionen verursachte, ausschlaggebende Faktoren für die Misere der irakischen Landwirtschaft benannt (z.B. FAO 1995, S. 8 f).
Die Embargoauswirkungen "unsauberes Wasser, Stromunterbrechungen, unzureichende Kühlmöglichkeiten" werden von Leitenberg/Mallmann ebenfalls ignoriert und mit geradezu zynischer Begründung anderen Ursachen zugeschrieben (S. 491): "Ferner ist in vielen Fällen das bloße Vorhandensein von Medikamenten noch lange nicht das entscheidende Kriterium dafür, ob sie wirksam eingesetzt werden können. ... Viele Patienten verstarben, weil die Dialysegeräte wegen unsauberem Wasser, den ständigen Stromunterbrechungen und damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Kühlung von Medikamenten nicht benutzt werden konnten."
Es stimmt auch nicht, daß im irakischen Gesundheitswesen nach dem Golfkrieg große Schwierigkeiten auftraten, weil ausländische, qualifizierte Arbeitskräfte nicht mehr vorhanden waren. Der UN- Bericht des Aga Khan (S. 29) beweist eindeutig das Gegenteil. Es wäre in der Tat "ein wissenschaftlich korrektes Vorgehen, wenn z.B. bei Abschätzungen von Kriegsschäden der Zustand vor Ausbruch der Feindseligkeiten mit jenem nach Ende des Krieges verglichen wird" (S. 493), wenn das Leitenberg/Mallmann wissenschaftlich angemessen tun würden: Der Bericht des Aga Khan wird von ihnen als "sorgfältige Studie" bezeichnet. Dessen Ergebnisse würden jedoch von Sanktionskritikern verfälscht, da diese daraus ableiteten, "Irak sei vor dem Zweiten Golfkrieg ein 'Land, in dem Milch und Honig fließen', gewesen."
Übergangslos belegen Leitenberg/Mallmann nun nicht aus der Studie des Aga Khans, daß "in den 80er Jahren mit dem Krieg gegen Iran eine dramatische Zerrüttung der Volkswirtschaft, der Staatsfinanzen und die Veramung des Mittelstandes einsetzten", sondern aus einem von ihnen schon eingangs erwähnten Aufsatz von Claudia Schmitt als einzige Referenz. Der Aga Khan schreibt aber unter "I. Hintergrund zu der Situation im Irak", daß sich der Irak Mitte 1990 in gewisser Hinsicht schnell einem Standard, der mit demjenigen einiger europäischer Länder verglichen werden konnte, angenähert habe.Nach der Invasion Kuwaits durch irakische Streitkräfte am 2. August 1990 habe sich die Situation abrupt verändert. (6)
Auch die FAO-Studie von 1995 (S. 3) belegt, daß es vor dem Ölembargo einen "gesteigerten Wohlstand für eine breite Mehrheit der Bevölkerung" gab. Der Irak-Spezialist Eugen Wirth schreibt: (7) "In der westlichen Presse wurde wiederholt berichtet, daß die Wirtschaft des Irak aufgrund der kriegsbedingten Belastung [l. Golfkrieg] kurz vor dem Zusammenbruch stünde. Davon konnte in keiner Phase des Krieges die Rede sein; der in den Jahren 1973-1980 so hoffnungsvoll begonnene wirtschaftliche Aufschwung ging fast ununterbrochen weiter. Auch in den acht Jahren des Krieges wurden zweistellige Milliardenbeträge an Dollar in den Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur investiert.
Die bei Kriegsende außerordentlich hohe Auslandsverschuldung des Irak ... ist also keineswegs nur eine Folge des Imports von Waffen, Kriegsmaterial oder Munition; in der Bilanz fast stärker zu Buch schlagen die produktiven Investitionen jener Jahre: Bau von Straßen, Eisenbahnlinien, Staudämme, Bewässerungskanälen, Flughäfen, Krankenhäusern, Schulen, Universitäten sowie nicht zuletzt der soziale Wohnungsbau." Was den dritten Fluß, den Saddam Kanal (S. 487), anbetrifft, so soll er nach Leitenberg/Mallmann militärischen Zielsetzungen dienen.
Er wurde aber schon ab Anfang der 50er Jahre von ausländischen, auch amerikanischen und britischen Firmen als Drainage-Kanal konzipiert, weil Irak von jeher, besonders im Zentrum und Süden, unter starker Versalzung der Böden, bedingt durch das heiße Klima, wenig Regen und wegen des oft zu hohen Grundwasserspiegels, zu leiden hatte. Zwischen 1950 und 1970 wurden Teile des Drainagesystems fertiggestellt. Auch die Baath-Regierung baute an dem Kanal weiter. Bis zum Ausbruch des Krieges waren 80 % des Kanals fertig. Als die irakische Regierung nach dem Krieg vor dem dringenden Problem stand, ihre Bevölkerung unter Sanktionsbedingungen ernähren zu müssen, wurde der Kanal schnellstmöglich fertiggebaut, um Anbauflächen für die Landwirtschaft zu gewinnen.
Um an dem im Süden noch nicht fertiggestellten Kanal arbeiten zu können, wurde ein kleiner, westlicher Teil der Marschen, im Hor al Hammar, trockengelegt. Es wurde nicht das östliche Grenzgebiet zum Iran, Hor al Huwaiza, trockengelegt. Wenn, wie Leitenberg/Mallmann behaupten, die Schiiten generell im Süden von Saddam Hussein verfolgt und unterdrückt würden, hätte sinnvollerweise die östliche militärische Problemzone, Einflußzone des schiitischen Irans, trockengelegt werden müssen. Leitenberg/Mallmann sprechen von teilweiser Austrocknung des Marschenlandes.
Sie verschweigen, daß die Türkei, aber auch Syrien, in den letzten Jahren Großdämme errichtete und fertigstellte, die besonders die Wassermenge des Euphrats sehr verminderte, was sich auf die Marschen auswirkt. Der Irak liegt am letzten südlichen Abschnitt des Flusses. Zudem leidet der Irak seit Jahren unter großer Dürre. Letztendlich hatte der Kanalbau den Vorteil, daß arbeitsintensive Großprojekte den Menschen nach dem Krieg Arbeit schaffen konnten.
Wichtige Äußerungen Verantwortlicher zu den tödlichen Sanktionen
Daß die Situation im Irak nicht nur im humanitären Bereich, sondern in allen Bereichen nach über 8 Jahren Embargo dramatisch ist, wird in vielen Verlautbarungen deutlich. Immer wieder weisen Verantwortliche für humanitäre Hilfen im Irak selbst auf die durch die Sanktionen verursachte, katastrophale humanitäre Situation hin. Kein einziges dieser Statements wird von Leitenberg/Mallmann erwähnt, obwohl ihr Artikel erst zum Jahresende 1998/99 fertiggestellt wurde. Zum Beispiel erklärte John English, Nah-Ost-Experte des Roten Kreuzes bezüglich des Embargos, als er 1994 aus dem Irak zurückkehrte: "Speziell Kinder sterben an Unterernährung und Krankheit ... Unsere Botschaft ist rein humanitär ... im Irak sehen wir bestürzendes ziviles Leid und unnötige Todesfälle, speziell unter Kindern ... Humanitäre Hilfe ist nie eine Lösung aus einer politischen Sackgasse. Tatsache ist, daß das irakische Volk seiner grundlegenden Rechte beraubt wird: genügend Nahrung und Medizin." (8)
Dennis Halliday, der Verantwortliche für das UN-Hilfsprogramm im Irak, trat von seiner Position im Herbst 1998 zurück, weil er "Großbritannien und die USA gemeinsam" verantwortlich machte für den Tod von Hunderttausenden von normalen irakischen Bürgern, die durch das Wollen der Internationalen Gemeinschaft Zielscheibe für Straf-Sanktionen seien. Halliday verdammte eine Politik, die sowohl unmoralisch als auch ineffektiv sei. Das eigentliche Konzept des Embargos sei falsch. Halliday lehnte auch die Andeutung ab, daß Irak selbst die Verteilung von Hilfsgütern behindere. Das Öl-für-Nahrungsmittel-Programm sei ein Fehlschlag. Alles, was eine Unterernährung von 30% produziere und zu dem Tod von so vielen Tausenden führe, sei ein Fehlschlag. Halliday verurteilte die Sanktionen als Genozid. (9) Daß die amerikanische Politik um die tragischen Folgen ihrer Sanktionspolitik weiß, belegen auch die Statements amerikanischer Politiker.
So erklärte die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright, die im US-Fernsehen 1996 auf den Tod von über einer halben Million irakischer Kinder durch die Sanktionen angesprochen wurde, auf die Frage, ob sie dies billige: Ja, es ist den Preis wert". (10)
aus: Orient
Deutsche Zeitschrift für Politik und Wirtschaft des Orients
German Journal for Politics and Economics of the Middle East
40. Jahrgang, Nr. 4, Dezember 1999 Sonderdruck