»Bush will Abhängigkeit von Riad reduzieren«

Ein Jahr nach dem 11. September - Krieg, Terror und Kampf ums Öl. jW-Wochenendgespräch mit Clemens Ronnefeldt

Interview: Thomas Klein, junge Welt vom 07.09.2002

* Clemens Ronnefeldt ist Autor des in diesem Jahr in zweiter Auflage erschienenen Buches »Die neue NATO, Irak und Jugoslawien« und arbeitet als Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes. Der Versöhnungsbund hat weltweit rund 100000 Mitglieder und Beobachterstatus bei der UNO.

F: Nach den Erklärungen von US-Politikern in den letzten Tagen gilt als wahrscheinlich, daß US-Präsident Bush in nächster Zeit militärisch gegen den Irak vorgeht. Steht ein Angriff für Sie in einem direkten Zusammenhang mit dem 11. September und zum Beispiel der Furcht vor Massenvernichtungswaffen in der Hand Saddam Husseins? Oder ist das nur die »offizielle Begleitmusik« für einen Feldzug, der sich unter dem Stichwort »Gefahrenabwehr« besser verkaufen läßt?

Zunächst ist festzustellen: In den letzten Wochen ist in den USA ein heftiger Streit zwischen Kriegsbefürwortern und Kriegsgegnern entbrannt, der längst nicht entschieden ist. Mit seiner jüngsten Rede vor Kriegsveteranen in Nashville hat Vizepräsident Dick Cheney noch einmal vehement dafür plädiert, »die Schlacht zum Feind zu tragen«. Dennoch hat die Gruppe der entschiedenen Kriegsbefürworter, der neben ihm auch Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, dessen Stellvertreter Paul Wolfowitz sowie Condoleezza Rice, Richard Perle und Tom Delay angehören, erheblichen Gegenwind bekommen.

F: Weshalb diese Opposition?

Weil ein Irak-Krieg teuer und mit größeren Verlusten der eigenen Seite verbunden wäre, stellen sich die Vereinigten US-Stabschefs gegen die zivilen Falken in der Regierung und befürworten, wenn überhaupt, einen Krieg höchstens im nächsten Jahr.

Brent Scowcroft, Sicherheitsberater von Präsident Bush senior im Golfkrieg 1991, sieht die Gefahr eines apokalyptischen Endkampfes. Zbigniew Brzezinski, unter Präsident Carter Sicherheitsberater und Vertreter einer einflußreichen Denkschule, sieht das internationale System und die Rolle der USA darin auf dem Spiel stehend. Henry Kissinger schrieb, daß die Ablösung einer fremden Regierung das gesamte System des Westfälischen Friedens von 1648 in Frage stelle. Richard Armey, Mehrheitsführer von Bushs eigener Partei im Repräsentantenhaus, kann keinen überzeugenden Grund für einen Angriff auf den Irak erkennen.

Schließlich ist auch Außenminister Colin Powell wieder aufgetaucht und unterstützt die neu gefundene gemeinsame Haltung der Europäer, eine diplomatische Lösung der Irak-Frage über die Wiederzulassung von UN-Inspektoren zu suchen. Damit fiel er seinem Vizepräsidenten Cheney direkt in den Rücken.

Auch die Zustimmung der US-Bevölkerung zu einem Krieg ist seit Dezember 2001 nach einer aktuellen CNN-Umfrage von 70 Prozent auf 51 Prozent gesunken. Den Militäreinsatz von Bodentruppen mit den dabei zu riskierenden nennenswerten Verlusten unterstützen nur noch 40 Prozent der Befragten.

F: Die Diskussion der letzten Tagen scheint aber in eine andere Richtung zugehen: Danach geht es darum, die Gefahr, die vom Irak ausgeht, der Öffentlichkeit oder auch den sich gegen einen Krieg aussprechenden Verbündeten vor Augen zu führen, so Mitglieder der Bush-Administration. Und der britische Premier Tony Blair hat angekündigt, neue Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen oder dergleichen vorlegen zu wollen.

Ich sehe auch keinen Grund für Entwarnung. Wesley Clark, Ex-Oberbefehlshaber der NATO in Europa, schätzt die Wahrscheinlichkeit eines US-Irak-Feldzuges im nächsten Jahr auf 70 Prozent.

Andererseits: Auch wenn die US-Regierung derzeit versucht, einen Zusammenhang zwischen Al Qaida, dem 11. September 2001 und der Unterstützung des internationalen Terrorismus durch die irakische Führung zu konstruieren: Alle mir bekannten seriösen Studien können einen solchen direkten Zusammenhang nicht erkennen.

Unbeantwortet bleibt bisher auch die Frage, wie die irakische Führung, selbst wenn sie noch über chemische oder biologische Restbestände verfügen sollte, diese ohne Trägersysteme als konkrete Bedrohung der Vereinigten Staaten, Europas oder ihrer Nachbarn einsetzen könnte.

F: Womit noch nicht die Frage nach den Gründen eines solchen Krieges beantwortet ist. Es hat den Anschein, als ginge es der US-Regierung darum, das Regime in Bagdad zu stürzen, koste es, was es wolle.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Dazu gehören für mich die Ölvorräte Iraks, die Ankurbelung der US-Wirtschaft durch enorme Rüstungsprogramme in Zeiten der Rezession oder die Vollendung des Werkes von Präsident Bush senior im Golfkrieg 1991 durch dessen Sohn. Auch die geopolitischen Verlockungen in der erdölreichsten Region der Erde durch Einflußnahme auf neue Pipelineführungen fallen mir ein. Insbesondere Iran würde bei einem Wechsel in Bagdad in die Zange genommen werden, da in Kabul bereits eine US-freundliche Regierung eingesetzt wurde.

Nach den Enron- und Worldcom-Konkursen stehen Vizepräsident Cheney als ehemaliger Chef des weltweit größten Ölindustriezulieferers Halliburton wie auch George W. Bush als ehemaliger Top-Manager des Öldienstleistungsunternehmens Harken Oil wegen Bilanzfälschungen und Verwicklungen in Insidergeschäfte in der öffentlichen Kritik – und vor den Kongreß-Zwischenwahlen im November 2002 unter enormem Druck. Es wäre nicht das erste Mal, daß sich ein in Bedrängnis geratener US-Präsident durch einen außenpolitischen Feldzug innenpolitisch Luft zu verschaffen hofft.

Deswegen halte ich es für enorm wichtig, gerade in den nächsten Wochen den öffentlichen Protest anwachsen zu lassen und die kriegskritischen Kräfte in den USA wie auch in Europa zu stärken.

F: Es läßt sich leicht aufzeigen, daß der 11. 9. im Grunde Katalysator für viele Entwicklungen ist, die bereits seit Jahren im Gange sind. Dazu gehört, daß die Militärs ihre Stellung festigen konnten und die Militarisierung der Außenpolitik weiter voranschreitet. Dennoch greift eine Analyse, die beispielsweise den USA eine allein aufs Militärische gestützte Außenpolitik vorwirft, wie das zu Beginn des Jahres bemerkenswerterweise der CDU-Politiker Karl Lamers kritisiert hat, ja offenkundig zu kurz.

In der Tat sind derzeit die militärischen wie auch die wirtschaftlichen Faktoren insbesondere in den USA kaum noch zu trennen und verstärken sich wechselseitig. Die Geschwindigkeit, mit der die Militarisierung der Außenpolitik voranschreitet, ist atemberaubend. Ich möchte nur einige Beispiele nennen:

Anfang Juni 2002 verlangte Präsident Bush in einer programmatischen Rede vor Absolventen der US-Militärakademie West Point, jederzeit bereit zu sein, um ohne Zeitverlust in jeder dunklen Ecke der Welt zuschlagen zu können. Der »Krieg gegen den Terror« würde nicht in der Defensive gewonnen, die Schlacht müsse auf dem Boden der Feinde geführt werden. In dieser Deutlichkeit hatte das vor George W. Bush wohl noch kein US-Präsident formuliert.

Seine Worte werden derzeit von verschiedenen grundlegenden US-Militärstrategien in konkrete Planung umgesetzt, was – wie Sie in Ihrer Frage bemerkten – zu einer beispiellosen Zuspitzung der Militarisierung von Außenpolitik führt.

Die Welt wird augenblicklich neu aufgeteilt. Es wird zum ersten Mal in der Geschichte keinen Winkel der Erde mehr geben, der nicht unter einem der regionalen Militäroberkommandos der USA steht. Für die Verteidigung Nordamerikas wird ein militärisches Oberkommando völlig neu eingerichtet. Die Zuständigkeit des Oberkommandos Europa, dem bereits jetzt der größte Teil Afrikas untersteht, wird künftig erstmals auch den ehemaligen Konkurrenten Rußland umfassen, zum Pazifischen Oberkommando kommt die Antarktis hinzu.

Unverändert bleiben die Zuständigkeiten für Mittel- und Südamerika sowie für Nordostafrika, Persischer Golf, Zentralasien und Pakistan.

F: Das ist die militärische Seite, dennoch: Aus dem, was Sie eingangs gesagt haben, läßt sich die These ableiten, daß ohne einen Blick auf die US-Wirtschaft die derzeitige Militärpolitik der US-Regierung nicht zu verstehen ist.

Das ist richtig: Obwohl die USA weltweit rund die Hälfte aller Auslandsdirektinvestitionen tätigen, sieht es in der Gesamtschau derzeit sehr düster aus. Winfried Wolf wird zum Glück nicht müde, immer wieder auf die Grunddaten der US-Wirtschaft hinzuweisen. Nach fünf Jahren Haushaltsüberschuß wird das am 30. September 2002 endende US-Wirtschaftsjahr mit einem Minus von 165 Milliarden US-Dollar schließen. Die per Gesetz auf 5590 Milliarden Dollar festgelegte Obergrenze für die öffentliche Verschuldung mußte im Juni 2002 – mit Verweis auf höhere Gewalt – angehoben werden. Die Schulden der privaten Haushalte liegen aktuell bei 108 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, was einen Spitzenwert innerhalb der OECD-Staaten darstellt. Das Nettovermögen der privaten Haushalte, bereinigt um die Inflation, sank von einem Spitzenwert im ersten Quartal 2000 bis zu seinem vorläufigen Tiefpunkt im dritten Quartal 2001 um zirka 400 Milliarden Dollar. Wegen der weltweiten Konjunkturschwäche und der Abwertung des Dollars vergrößerte sich das US-Leistungsbilanzdefizit im ersten Quartal 2002 auf ein Rekordminus von 112 Milliarden Dollar. Schon seit vielen Jahren krankt die US-Wirtschaft daran, daß sie unverhältnismäßig mehr Waren importiert als exportiert.

Japanische Anleger halten rund ein Drittel aller US-Staatsanleihen. Hält die Krise in Japan weiter an und wird dieses Kapital in Zukunft entweder an der asiatischen Heimatfront oder im zunehmend lukrativeren Euroland angelegt, gerät die US-Wirtschaft noch tiefer ins Trudeln.

Wer sich dies alles nüchtern vor Augen hält, kommt wohl nicht um die Erkenntnis umhin, daß die Vereinigten Staaten ein wirtschaftlicher Koloß auf tönernen Füßen sind.

F: Vor einigen Monaten wurde von offizieller Seite verkündet, es sei gelungen, Afghanistan weitgehend zu befrieden, die politischen Zustände hätten sich stabilisiert. In letzter Zeit ist unter anderem von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu hören, der Krieg sei noch lange nicht gewonnen, was dem zunächst gezeichneten Bild widerspricht. Steht vor diesem Hintergrund der Krieg in Afghanistan und der möglicherweise bevorstehende Feldzug gegen den Irak für zukünftige Szenarien, zu denen es dann auch gehört, eine »Einstimmung der Öffentlichkeit« auf einen »viele Jahre dauernden Feldzug« (Bush) vorzunehmen – als Abkehr von zeitlich befristeten Militärinterventionen?

Bezeichnend für die Intensität des bisherigen Krieges in Afghanistan ist, daß dort offensichtlich solche Mengen von Munition, insbesondere von Präzisionswaffen, verschossen worden sind, daß die erforderlichen Mindestmengen für einen Angriff auf den Irak trotz Rund-um-die-Uhr Produktion im Drei-Schicht-Betrieb erst jetzt wieder allmählich zur Verfügung stehen.

Ein anderer Aspekt ist ebenfalls wichtig: Wurde im Vorfeld der Bombardierung Afghanistans noch der Versuch gemacht, durch die Ausrufung des NATO-Bündnisfalles und der Einbeziehung der UNO die Völkerrechtswidrigkeit des konkreten Vorgehens zu kaschieren, stehen wir nun vor dem drohenden Irak-Krieg vor einem neuen Phänomen: dem völlig willkürlichen Präventivkrieg. Jörg Fisch, renommierter Geschichtsprofessor an der Universität in Zürich, bezeichnete in der Weltwoche den drohenden Irak-Krieg als verbotenen Angriffskrieg und als internationales Verbrechen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Was dies für jeden einzelnen Soldaten bedeutet, würde er sich an diesem Krieg beteiligen, brauche ich wohl kaum näher auszuführen.

Beim Blick nach vorn müssen wir feststellen: Irak verfügt nachweislich über die zweitgrößten Erdölreserven der Erde, möglicherweise sogar über die größten. Wenn es der US-Regierung gelingen sollte, ein US-freundliches Regime in Bagdad zu installieren, würde im Anschluß daran sicherlich die Ölproduktion Iraks enorm angehoben werden. Dies würde die derzeit noch unangefochten dominierende Rolle Saudi-Arabiens auf dem Ölmarkt erheblich schwächen.

Es ist unverkennbar, daß die – übrigens wie keine zuvor mit der Erdölindustrie personell verbundene – US-Regierung die Reduzierung ihrer Abhängigkeit von Riad anstrebt. In gleichem Maße, wie sich die USA von ihrem bisherigen Hauptversorger Saudi-Arabien unabhängiger machen möchte, strebt sie als Ersatz russische Öllieferungen an.

Mit den Stationierungen von US-Soldaten in Afghanistan, Pakistan, Kirgisien und Usbekistan sowie den dazugehörigen Militärstützpunkten hat sich die US-Regierung hervorragende Ausgangsbedingungen für noch zu erwartende Verteilungskämpfe mit China, Indien, Rußland oder Iran um Öl und Gas geschaffen.