Europa, die USA und die NATO - Die Militarisierung der amerikanischen Außenpolitik

Eine Analyse in der Reihe "Frieden und Sicherheit" der Friedrich-Ebert-Stiftung -
von Ulla Jasper, Dezember 2002

(Quelle: http://fesportal.fes.de/pls/portal30/docs/FOLDER/PRESSE/ANALYSEN/JASPER.HTML
Das Papier in Word/Windows mit Grafiken und Fußnoten hier... )

Die neueren Dokumente zur amerikanischen Militär- und Nuklearstrategie lassen erkennen, dass die US-Regierung bestrebt ist, ihre eigenen Handlungsoptionen auszudehnen. Das Ziel ist "freedom from attack and freedom to attack". Dabei behalten sich die USA auch das "Recht" zum Präventivkrieg vor. Die amerikanische Politik wird zur Unterminierung des völkerrechtlichen Gewaltverbots beitragen und die Schwelle zur Kriegführung senken. Europa scheint auf absehbare Zeit nicht in der Lage und vielleicht auch gar nicht motiviert, als Korrektiv dieser Entwicklung entgegenzuwirken.

Angesichts einer immer wahrscheinlicher werdenden militärischen Konfrontation mit dem Irak stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten den europäischen Staaten, die solch einer Militäraktion überwiegend skeptisch gegenüberstehen, bleiben, um den Partner USA von diesem Kurs abzubringen und gleichzeitig die Wiederaufnahme des Waffenkontrollregimes zu erreichen. Zwar haben die europäischen Staaten durch ihre starke Präsenz im UN-Sicherheitsrat die Möglichkeit, auf politischer Ebene auf die weitere Entwicklung Einfluss zu nehmen. Doch gleichzeitig besteht wenig Zweifel daran, dass die USA, sollten sie einen unilateralen Weg außerhalb der Vereinten Nationen beschreiten wollen, in militärischer Hinsicht dazu in der Lage wären. Diese Fähigkeit, allein (oder durch die Unterstützung einiger weniger Partner wie etwa Großbritanniens) zu handeln, manifestiert sich in einer Reihe von richtungsweisenden Dokumenten, die die US-Regierung in den letzten Jahren veröffentlicht hat. Ihre zentrale Aussage besteht darin, dass Bestrebungen unternommen werden sollen, die dazu dienen, die militärische Dominanz der USA weiter auszubauen, um ein Höchstmaß an möglicher Handlungsfreiheit gegenüber anderen Akteuren des internationalen Systems zu erreichen und die weltweiten Interessen der USA durchsetzen zu können. Damit wird eine Politik fortgeführt, die eine deutliche Absage an langfristige sicherheitspolitische Maßnahmen in Kooperation mit Partnern sowie internationalen Institutionen beinhaltet und stattdessen kurzfristige ad hoc Allianzen fördert, um bestimmte strategische Ziele zu erreichen.

Im Mittelpunkt steht die Maxime, dass amerikanische Sicherheit am besten dann gewährleistet werde, wenn ein Höchstmaß an Handlungsfreiheit gegeben sei, um sich gegen symmetrische und asymmetrische Bedrohungen wehren und amerikanische Interessen weltweit durchsetzen zu können. Handlungsfreiheit – ‘freedom from attack and freedom to attack’– wird in dieser Lesart synonym mit militärischer Stärke verstanden. Diese Militarisierung der Politik hat gravierende negative Auswirkungen auf kooperative friedensschaffende Maßnahmen wie der internationalen Abrüstung von Massenvernichtungswaffen. Im Gegenteil, sie führt zu einer Aufwertung von Atomwaffen und zur Entwicklung immer neuer Waffensysteme und lässt insgesamt die Schwelle zur Kriegführung sinken.

Gleichzeitig scheint Europa momentan und auf absehbare Zeit nicht in der Lage und vielleicht auch gar nicht motiviert zu sein, als Korrektiv dieser Politik entgegenzuwirken. Vielmehr kommt es zu einer Marginalisierung der europäischen Staatengemeinschaft und zu einem schwindenden europäischen Einfluss auf Washington. Der Konflikt um den Irak verdeutlicht diese Tendenzen auf eindrucksvolle Weise: Zwar hat George W. Bush mit seiner Rede vor den Vereinten Nationen im September 2002 eine Zusammenarbeit mit den UN im Falle des Irak angekündigt, doch gleichzeitig ist kaum zu übersehen, dass diese Geste der Kooperationsbereitschaft verbunden war mit einem Ultimatum an die Organisation. Es scheint kaum zweifelhaft, dass die US-Regierung auch unilateral handeln würde, wenn die UN nicht die amerikanischen„Erwartungen“ erfüllen sollte. Insgesamt zeigt sich sowohl in der praktischen politischen Auseinandersetzung, als auch in den aktuellen theoretischen Konzepten zur amerikanischen Sicherheitspolitik ein Tendenz hin zu einem zunehmend unilateralen und militarisierten Handeln. Diese These soll anhand der folgenden Analyse der gegenwärtigen amerikanischen sicherheitspolitischen Strategie belegt werden.

Bedrohungsperzeption
Seit dem Ende des Kalten Krieges ist die US-amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik geprägt von einer neuen Bedrohungsperzeption, die sich fundamental von der des Ost-West-Konflikts unterscheidet. Deutlich wird dieser Unterschied an einem Zitat George W. Bushs: „..it was a dangerous world and we knew exactly who ‘they’ were. It was us versus them and we knew exactly who them was. Today we’re not so sure who ‘they’ are, but we know they’re there.”

Der 11. September 2001 hat dieses Gefühl der Verwundbarkeit und Bedrohung in ganz erheblichem Maße gesteigert und eine Außen- und Sicherheitspolitik verstärkt, die sich schon seit Beginn der 1990er Jahre abzeichnet. Schon zu diesem Zeitpunkt waren unzählige Kommissionen der Regierung, des Militärs und der Geheimdienste zu der Einschätzung gekommen, dass die USA auf Grund ihrer militärischen, wirtschaftlichen und politischen Führungsposition innerhalb der neuen, unipolaren Weltordnung zunehmend zum Feindbild anderer Staaten und nicht-staatlicher Akteure werden könnten. Neuere Bedrohungsanalysen kommen zu einem ähnlichen Urteil, betonen aber vor allem die Gefahr, die von staatlich gesponsertem Terrorismus („axis of evil“) und der unkontrollierten Proliferation von Massenvernichtungswaffen ausgehe und die USA als exponierter Akteur des internationalen Systems, besonders bedrohe.  Exemplarisch für diese Einschätzungen steht ein Urteil des Direktors der Defense Intelligence Agency (DIA), Thomas R. Wilson: „Some of these [threats] are in the category of ‘the cost of doing business’ in that they are generally a consequence of our unique power and position and will exist so long as we remain globally engaged.”

Zwar wurde an vielen dieser Bedrohungsanalysen oftmals kritisiert, dass sie durch Überzeichnung tatsächlicher Gefahren, aber auch durch vage und unzureichende Analysen vor allem Ängste schürten und verstärkten, um eine stärkere Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik zu legitimieren.  Doch die Ereignisse vom September 2001 haben diese kritischen Stimmen vielfach verstummen lassen. Vielmehr wird nun eine Politik fortgeführt, die versucht, die perzipierten Bedrohungen durch einen Ausbau der amerikanischen militärischen Stärke abzuschrecken beziehungsweise zu kontern. Ganz im Sinne der Tradition des Realismus wird dabei „hard power“, also den militärischen Mitteln zur Durchsetzung eigener Interessen, der Vorzug gegeben gegenüber einer Politik der „soft power“ , die versucht, durch Stärkung internationaler Institutionen und Beziehungen sowie des kulturellen und wirtschaftlichen Austausches eine Stabilisierung des internationalen Systems herbeizuführen und Konflikte zu entschärfen. In diesem Sinne heißt es in einem Papier, das der heutige stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz schon 1992 für die Regierung verfasst hat, dass das Ziel amerikanischer Außen- und Verteidigungspolitik sein müsse, “‘jede feindliche Macht daran zu hindern, Regionen unter ihre Kontrolle zu bringen, deren Ressourcen es ihr erlauben würden, den Status einer Großmacht zu erlangen’. Etwaige ‘Versuche der hochentwickelten Industrieländer, unsere Führungsrolle in Frage zu stellen oder die bestehende politische oder wirtschaftliche Ordnung umzustürzen’ seien ebenso zu unterlaufen wie der ‘Aufstieg eines künftigen globalen Konkurrenten‘”.

Hinter diesem Zitat Wolfowitz’ verbergen sich zwei Aspekte, die von großer Bedeutung für die amerikanische Politik sind: zum einen verdeutlicht es, dass es das Ziel der US-Regierung ist, den Aufstieg eines militärisch, politisch oder wirtschaftlich potenten Herausforderers zu verhindern.

Zugang zu Ressourcen
Zum anderen veranschaulicht das Zitat, welches zweite Motiv so prägend auf die Gestaltung und Planung amerikanischer Politik wirkt: der Zugang zu strategisch wichtigen Regionen und Ressourcen. Wiederum verbirgt sich dahinter ein Gefühl der Bedrohung und Verwundbarkeit, das angesichts der Abhängigkeit der USA vom Import ausländischen Öls kaum überrascht. Die USA sind schon jetzt darauf angewiesen, mehr als 50% ihres Erdölverbrauchs durch Importe abzudecken.

Dieser Trend wird sich auf Grund eines weiter steigenden Bedarfs bei gleichzeitigem Rückgang der amerikanischen inländischen Produktion noch erheblich fortsetzen und steigern und über Jahrzehnte dazu führen, dass das Land stark angewiesen ist auf den unbeschränkten und problemlosen Zugang zu ausländischen Ölvorkommen.

Diese Abhängigkeit ist neben der oben dargestellten Bedrohungsperzeption durch „Revisionisten“, also feindselige Staaten und nicht-staatliche Akteure, die den Status Quo der von den USA dominierten internationalen Ordnung nicht akzeptieren, eine der wesentlichen Triebkräfte der gegenwärtigen US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Spätestens seit dem erdrutschartigen Wahlsieg der Republikaner im Kongress 1994  haben deshalb Hardliner an Einfluss gewonnen, die argumentieren, dass die USA sich vor allem militärisch gegen solche Bedrohungen rüsten und ihre dominante Stellung innerhalb des internationalen Systems ausbauen müsse, um den „unipolaren Moment“ möglichst lange zu erhalten: „(U)nipolarity is a preferred world order for the United States. In a unipolar world, security threats to the United States are minimized and foreign policy autonomy is maximized… For the state at the top, unipolarity is preferable to being a great power facing either the concentrated hostility and threat of a bipolar world or the uncertainty and risk of miscalculation inherent to a multipolar world.”

Dieses Denken manifestiert sich in einer Politik, die bestrebt ist, nicht nur die Dominanz der USA im internationalen System sicherzustellen und auszubauen, sondern der Regierung dabei ein Höchstmaß an Handlungsfreiheit und Souveränität zu garantieren. Dies führt zu einer grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber institutionalisierter und langfristiger internationaler Kooperation, während kurzfristige, zweckgebundene ad hoc Koalitionen durchaus befürwortet werden. Der Krieg gegen den Terrorismus dient als ein anschauliches Beispiel solch einer strategisch-militärischen ad hoc Koalition. Auch hierbei haben sich erste Vermutung, dass die USA nach den Ereignissen vom 11. September zurückkehren würden zu einer multilateralen Handlungsform, wie sie in den Anfangsjahren der Clinton-Administration noch zu erkennen war, nicht bestätigt.  Zumindest in dieser Hinsicht war der 11. September kein einschneidendes Ereignis, sondern hat eine Haltung fortgesetzt, die sich schon seit spätestens Mitte der 1990er Jahre angekündigt hat und sich nicht allein auf das militärische und sicherheitspolitische Engagement der USA beschränkt, sondern auch andere Bereiche der internationalen Zusammenarbeit (Umweltschutz, internationaler Strafgerichtshof etc.)  betrifft und tatsächlich wohl am besten als unilateral charakterisiert werden kann.
Die Betonung der eigenen militärischen Stärke gegenüber jeder potentiellen Bedrohung führt zu einer Militärstrategie, die einer langfristig bindenden Rüstungskontrolle und einer Reduzierung des militärischen Potentials keinen Raum lässt. William Walker schreibt dazu: „(T)his interpretation of the ‘risks out there’ led American policymakers down a road towards the downgrading of arms control and upgrading of political and military coercion, to a focusing on the mainly politico-military practice of ‘counter-proliferation’ rather than the politico-legal practice of ‘non-proliferation’, and to a search for new technological means of protecting the United States and its allies against blackmail or attack.”

Für diese Politik lassen sich vielfältige Beispiele anführen– vom Ausstieg aus dem ABM-Vertrag über die Ablehnung des Biowaffenprotokolls oder der wenig kooperativen Mitarbeit bei der Chemiewaffenkonvention bis hin zur Ablehnung des Ottawa Treaty zum Bann von Landminen. In erster Linie soll an dieser Stelle jedoch die amerikanische Position in der nuklearen Rüstungskontrolle sowie die allgemeine strategische Ausrichtung, die in der Quadrennial Defense Review zum Ausdruck kommt, untersucht werden.

Nuclear Posture Review und die amerikanische Position in der atomaren Rüstungskontrolle
Das Ende des Kalten Krieges bedeutete einen tiefen Einschnitt im Rüstungsverhalten der beiden Großmächte. Russland wollte und konnte insbesondere aus wirtschaftlichen Gründen das Wettrüsten mit den USA nicht länger aufrecht erhalten. Dennoch führten diese ökonomischen Zwänge nicht automatisch zu einer Verbesserung der internationalen Sicherheit und einer umfassenden Reduzierung der Bedeutung von Nuklearwaffen: im Gegenteil, die unzureichend gesicherten sowjetischen Atomwaffenarsenale eröffneten eine akute Gefahr der unkontrollierten Proliferation sowohl von Sprengköpfen als auch von spaltbarem Material an staatliche und nicht-staatliche Akteure. Des weiteren veranlasste der  schlechte Zustand der konventionellen russischen Streitkräfte die Regierung dazu, ihre no-first-use Policy 1995 aufzugeben und sich wieder stärker auf einen möglichen Einsatz von Nuklearwaffen zu verlassen. Darüber hinaus wurde die Modernisierung und Instandsetzung des russischen Atomwaffenbestands bekannt gegeben.
 
Vor dem Hintergrund dieser Gefahren ermöglichte das Ende der Blockkonfrontation jedoch auf beiden Seiten, die vorhandenen nuklearen Kapazitäten in Frage zu stellen und eröffnete auf diese Weise neue Wege der bilateralen Abrüstung. Die USA und Russland ergriffen die Chance dazu und unterzeichneten 1991 nach langjähriger Verhandlung den Strategic Arms Reductions Treaty (START I), der eine phasenweise Verringerung der aktiven, einsatzbereiten Atomsprengköpfe sowie der Trägersysteme vorsieht, welche durch ein mehrstufiges Verifikationsprogramm überprüft werden sollte.  Zwar wurde diese Verringerung im Dezember 2001 planmäßig und fristgerecht von beiden Vertragsparteien abgeschlossen, doch da START I nicht die vollständige Zerstörung der überschüssigen Sprengköpfe fordert, sondern nur deren„Deaktivierung“, haben beide Staaten mehrere tausend Sprengköpfe in Reserve.

Dennoch markiert START I einen wichtigen Fortschritt in den internationalen Abrüstungsbemühungen, zumal es im Zuge der Verhandlungen auch gelang, die Atomwaffen, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nun auf dem Gebiet der Nachfolgestaaten befanden, zu sichern und zu deaktivieren und gleichzeitig Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine dazu zu bewegen, atomwaffenfrei zu werden und dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NPT) als atomwaffenfreie Staaten beizutreten. Wie schwierig jedoch weitere verbindliche und verifizierbare Schritte der nuklearen Abrüstung zwischen den beiden Staaten sein sollten, wird am Schicksal von START II respektive START III deutlich. Zwar unterzeichneten George Bush und Boris Jeltsin am 3. Januar 1993 START II, der weitere Abrüstungsschritte vorsah und vor allem die landgestützten Interkontinentalraketen (ICBMs) mit Mehrfachsprengköpfen (MIRVs) verbot, doch trat der Vertrag nie in Kraft, weil die russische Duma ihn zwar ratifizierte, daran aber einige Bedingungen, wie den Erhalt des ABM-Vertrags, knüpfte, die von den USA nie akzeptiert wurden. Darüber hinaus wurde von russischer Seite oftmals kritisiert, dass  der Vertrag beide Seiten in ungleicher Weise betreffe, da ein vollständiger Bann der MIRV-Interkontinentalraketen besonders die russische Militärstrategie, die in stärkerem Maße auf ICBMs basiert, beeinträchtigen würde.

Aus diesem Grund war die Jeltsin-Administration 1997 daran interessiert, über mögliche weitere, verbindliche Reduzierungen auf beiden Seiten zu verhandeln, um auf diese Weise ein Gleichgewicht auf einem niedrigeren Niveau zu erreichen. In einer START III-Absichtserklärung ist vorgesehen, dass die Zahl der Sprengköpfe 2000-2500 nicht überschreiten soll und dass Maßnahmen entwickelt werden sollen, die eine langfristige, unumkehrbare Abrüstung von Sprengköpfen und spaltbarem Material transparent und verifizierbar machen. Da konkrete Verhandlungen über START III jedoch an das Inkrafttreten von START II geknüpft waren, blieb es bei der von Jeltsin und Clinton unterzeichneten Absichtserklärung, bis George W. Bush und Vladimir Putin im Mai 2002 den sogenannten Strategic Offensive Reductions Treaty (SORT) unterzeichneten. Zwar schreibt das Abkommen eine Reduktion der Sprengköpfe auf jeweils 1700 bis maximal 2200 vor, doch fehlen sowohl konkrete Verifizierungsmechanismen als auch eine Definition, welche Sprengköpfe genau unter dieses Limit fallen.  Das Abkommen, das nur auf Grund russischer Forderungen überhaupt zu Stande gekommen ist, bietet also viel Freiraum für Interpretationen. Entsprechende Verlautbarungen aus den Reihen der Bush-Administration lassen schon jetzt erkennen, dass sich die Regierung nur gebunden sieht, die Anzahl der aktivierten, einsatzbreiten Sprengköpfe auf dieses Limit zu reduzieren, indem überzählige Sprengköpfe der inaktiven, aber funktionsfähigen Reserve hinzugefügt werden.  Und angesichts eines geplanten nuklearen Arsenals von rund 2000 aktiven Sprengköpfen scheint es fraglich, ob es tatsächlich gelungen ist, die Denkmuster des Kalten Krieges zu überwinden.

Die Zukunft nuklearer Streitkräfte
Damit ist insgesamt eher zweifelhaft, ob das Abkommen zu einer realen Reduzierung sowohl der Anzahl als auch der militärstrategischen Bedeutung von Nuklearwaffen beiträgt. Diese Zweifel werden bestärkt durch die Nuclear Posture Review (NPR) , also die vom Defense Department vorgenommene Überarbeitung der US-Nuklearstrategie, die am 31. Dezember 2001 dem Kongress vorgelegt wurde. Die Strategie folgt in gewisser Weise den Grundsätzen, die sich schon während der Clinton-Administration abzeichneten, sieht aber auch einige bedeutende Veränderungen vor. Die beiden augenscheinlichsten Gemeinsamkeiten zwischen der Nuklearstrategie der Clinton-Administration und der seines Nachfolgers George W. Bush sind zum einen die Betonung der Flexibilität der Atomstreitmacht und zum anderen die Strategie des First-strike auch gegen Bedrohungen nicht nuklearer Art.  Beide Aspekte sind für die internationale Sicherheit äußerst problematisch: Flexibilität in der atomaren Planung stellt eine Abkehr vom Prinzip der irreversiblen Abrüstung dar. Hinter dem Stichwort Flexibilität verbirgt sich die Intention, zwar die Zahl der aktivierten, einsatzbereiten Atomsprengköpfe zu reduzieren (operationally deployed forces), aber nicht komplett abzurüsten und unschädlich zu machen, sondern eine Reserve anzulegen, die innerhalb weniger Wochen und Monate vollständig reaktiviert werden kann (responsive force).

Der zweite Aspekt, die Strategie des first-strike auch gegen nicht-nukleare Bedrohungen senkt die Schwelle zum Einsatz von Atomwaffen und verstößt darüber hinaus gegen die negativen Sicherheitsgarantien (negative security assurances) des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NPT), im Rahmen dessen atomwaffenfreien Staaten von den Atommächten garantiert wurde, nicht mit Atomwaffen angegriffen zu werden. Zwar sind diese Sicherheitsgarantien nicht im Vertragstext verankert, doch sind sie ein elementarer Gesichtspunkt des NPT, weil sie den Staaten, die auf eigene Atomwaffen verzichten, ein höheres Maß an Sicherheit in Aussicht stellen und auf diese Weise die Entscheidung gegen eigene Atomwaffen erleichtern.

Neben diesen Gemeinsamkeiten mit der Nuklearpolitik der Clinton-Administration sind jedoch auch wesentliche Veränderungen erkennbar. So wird gegenwärtig betont, dass atomare Waffen jetzt und in Zukunft eine zentrale Rolle in der Verteidigungsstrategie der USA spielen würden. Ein Bekenntnis zur langfristigen atomaren Abrüstung, wie im NPT gefordert  und von der Clinton-Administration zumindest immer wieder geäußert, wenn auch nicht energisch verfolgt, fehlt sowohl in der
Nuclear Posture Review als auch in der Quadrennial Defense Review völlig. Stattdessen findet man zahlreiche Argumente für eine veränderte und erweiterte Bedeutung von Atomwaffen, zum Beispiel in Form sogenannter „mini nukes“ oder „agent defeat weapons“, die vermeintlich sauber und fast ohne nuklearen fall out zielgenau eingesetzt werden könnten, um Ziele zu attackieren, die durch konventionelle Waffen nicht zu zerstören seien.  Damit erhalten Atomwaffen nicht nur völlig neue Aufgaben, sondern es wird auch die Hemmschwelle ihres Einsatzes gesenkt. In Bezug auf die neue US-Militärstrategie, die im September 2002 veröffentlicht wurde, erklärte Präsident Bush zudem: „(T)he war on terrorism will not be won on the defensive. We must take the battle to the enemy, disrupt his plans, and confront the worst threats before they emerge. In the world we have entered, the only path to safety is the path of action. And this nation will act.”

Und in dem Strategiepapier selbst heißt es dann: “We must be prepared to stop rogue states and their terrorist clients before they are able to threaten or use weapons of mass destruction against the United States and our allies and friends.“

Mit diesem ausdrücklichen Bekenntnis zur Option präventiver Kriegführung beschreitet die amerikanische Regierung einen sicherheitspolitischen Kurs, der nicht nur die Normen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, das nur das recht auf Selbstverteidigung kennt, aushöhlt, sondern auf diese Weise einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen völlig zuwiderläuft. Ein Präventivschlag unter Einsatz von bestimmten Nuklearwaffen gegen irakische Ziele würde damit zwei fundamentale Normen, die die Weltpolitik seit mehr als 50 Jahren geprägt haben, unterminieren: den Nicht-Einsatz von Atomwaffen seit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im Jahre 1945, sowie das Verbot der präventiven Kriegsführung.

Dennoch scheint ein präventiver Erstschlag unter Einsatz atomarer Waffen gegen feindliche Staaten wie den Irak eine durchaus realistische Option innerhalb der neuen Militärstrategie. Und die NPR geht über dieses Szenario hinaus und beschreibt unter dem Stichwort „capabilities-based approach“  sechs weitere Szenarien, in denen Atomwaffen zum Einsatz kommen könnten. Dazu gehören nicht nur mögliche Konflikte mit den „rogue states“ wie Nordkorea oder dem Iran, sondern – wenn auch unwahrscheinlicher–  potentielle Konfrontationen mit Russland oder China. Erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges werden also konkrete Gegner einer nuklearen Auseinandersetzung benannt, wobei immer wieder betont wird, dass gerade die Unsicherheit und die schnellen Veränderungen des internationalen Systems große Flexibilität in der militärischen Planung erforderten und langfristig bindende Abrüstungsabkommen die Fähigkeit der unverzüglichen Neuausrichtung gefährdeten. Es überrascht in diesem Zusammenhang nur wenig, dass die NPR deshalb eine Wiederaufnahme von Atomwaffentests  ausdrücklich nicht ausschließt, sondern betont, dass veränderte internationale Umstände die Entwicklung neuer Atomwaffen erforderlich machen könnten und deshalb das Budget für Forschung und Entwicklung neuer Waffen sowie die Produktion nuklearer Sprengköpfe deutlich erhöht werden müsse.

Das primäre Ziel dieser Strategie ist es, die amerikanischen Streitkräfte neu zu strukturieren und„fit“ zu machen für Bedrohungen, die einem unüberschaubaren, sich schnell verändernden internationalen Umfeld entspringen. Ziel ist die absolute Flexibilität und Überlegenheit im Umgang mit allen erdenkbaren potentiellen Herausforderungen. Dazu gehört nicht nur die Fähigkeit, mit hochmodernen Präzisionswaffen über große Distanzen (long range power projection) hinweg in kürzester Zeit zuschlagen zu können, sondern auch der Versuch, das Land durch ein komplexes Raketenabwehrsystem vor potentiellen Gefahren zu schützen. Dass diesem Denken der Grundpfeiler der strategischen Rüstungskontrolle, der ABM-Vertrag, der die Stationierung eines nationalen Raketenabwehrsystems verbot, um die gegenseitige Verwundbarkeit aufrechtzuerhalten, zum Opfer fällt, wird in Kauf genommen.
 
Doch die NPR ist nur die eine Komponente dieser Militärstrategie, die andere ist die Quadrennial Defense Review (QDR). Erst aus beiden zusammen ergibt sich ein genaues Bild der Entwicklung der US-amerikanischen Verteidigungspolitik zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges.

Quadrennial Defense Review 2001
Die Quadrennial Defense Review  ist eine vom Kongress in Auftrag gegebene Analyse und Überarbeitung der verteidigungs- und sicherheitspolitischen Leitlinien der USA, die alle vier Jahre durchgeführt wird und der Administration als Grundlage ihrer Politik dienen soll. Die Veröffentlichung der aktuellen QDR fiel mit dem Beginn der Operation Enduring Freedom in Afghanistan zusammen, weshalb ihr große Bedeutung beigemessen wurde. Anders als von Bush und seinen Beratern im Wahlkampf oftmals angekündigt, spiegelt die QDR keine bahnbrechende Neuorientierung und radikale Transformation der Militärstrategie und Streitkräftestruktur wider.  Gerade in den Bereichen der Streitkräftestruktur und –Größe übernimmt die Bush-Administration nahezu exakt die Vorgaben der Quadrennial Defense Review von 1997. Und auch von der Strategie, zwei große Kriege gleichzeitig siegreich führen zu können – two major theater wars (MTW) – weicht die QDR 2001 nur bedingt ab: in Rumsfelds Review heißt es nun, dass das amerikanische Militär in die Lage versetzt werden müsse, zumindest einen großen Krieg erfolgreich zu gewinnen und das feindliche System zu stürzen, während ein zweiter gleichzeitig so geführt werden können müsse, dass dem Gegner territoriale und strategische Gewinne versagt werden.  Auffällig ist hierin wiederum der „capabilities-based approach“, der auch schon so prägend für der NPR war: die US-Administration legt großen Wert darauf, dass ihre eigenen militärischen Fähigkeiten sich nicht an potentiellen Gegnern und bestimmten Kriegsszenarien oder Bedrohungen ausrichten, sondern dass man in der Lage ist, flexibel mit jeder erdenklichen Herausforderung fertig zu werden: „(T)he approach shifts the focus of U.S. force planning from optimizing for conflicts in two particular regions – Northeast and Southwest Asia – to building a portfolio of capabilities that is robust across the spectrum of possible force requirements, both functional and geographical.”

Ziel der Verteidigungsplanung soll es also sein, die Streitkräfte so zu strukturieren und auszustatten („Developing a Broad Portfolio of Military Capabilities“, QDR, S. 15), dass sie in der Lage sind, sowohl unter funktionellen als auch unter geographischen Gesichtspunkten jeder militärischen Bedrohung gewachsen zu sein. Kritiker sehen hierin nicht nur einen Blankoscheck für eine weitere Steigerung der Verteidigungsausgaben ohne eine konkrete Bedrohungssituation, sondern bezweifeln darüber hinaus auch, dass eine solche Strategie vom Militär tatsächlich zu erfüllen sei,  ohne Kapazitäten, Fähigkeiten und Ressourcen überzustrapazieren und damit unter Umständen gar die Sicherheit des Landes zu gefährden.

Full Spectrum Dominance
Um die schon heute gegebene Überlegenheit amerikanischer Streitkräfte und die Verteidigungsfähigkeit weiter auszubauen, betont die QDR 2001 insbesondere drei strategische Grundsätze und operationelle Ziele, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen:

Zentraler Aspekt der Homeland Defense ist die Entwicklung und Stationierung eines Raketenabwehrsystems. Zwar geht die QDR nur vage darauf ein, doch ein Blick in das Defense Budget gibt Aufschluss über die Pläne der Bush-Administration. Im Jahr 2001 hat die Regierung die unterschiedlichen Programme zur Entwicklung von Raketenabwehrsystemen neu geordnet und in der Missile Defense Agency zusammengefasst. Während die Clinton-Regierung für das Jahr 2001 für die entsprechenden Projekte ein Budget von insgesamt 5,9 Milliarden US-Dollar vorsah, hat die Regierung Bush diesen Etat schon für das Jahr 2002 auf 8,2 Milliarden angehoben. Dies entspricht einer Steigerung um 37 %. Diese Summe wird mit den 8,5 Milliarden US-Dollar, die im Haushaltsentwurf für 2003 für die Raketenabwehr veranschlagt sind, in etwa fortgesetzt.

Über die Auswirkungen eines nationalen Raketenabwehrsystems auf die internationale Sicherheit und auf bilaterale Beziehungen zwischen den USA und Staaten wie Russland oder China ist in der Vergangenheit schon viel geschrieben worden. An dieser Stelle soll deshalb vor allem berücksichtigt werden, welche Rolle ein solches System im Verbund mit anderen, neuen Aspekten der NPR und der QDR spielt. So ist von großer Bedeutung, welches Denken sich hinter all diesen Neuerungen verbirgt: demnach ist das internationale System geprägt durch Unsicherheit und überall lauernde Gefahren, gegen die nach Einschätzung vieler einflussreicher Beobachter traditionelle Formen der Abschreckung genauso wenig helfen wie internationale Kooperation und „soft power“. Um das Land, seine Alliierten und im Ausland stationierte Soldaten effektiv schützen zu können, fordern Befürworter deshalb die Entwicklung einer nationalen Raketenabwehr. Ziel ist es, die USA unverletzbar zu machen gegen Angriffe und Vergeltungsschläge, um auf diese Weise ihre außenpolitische Handlungsfreiheit zu stärken und sie nicht erpressbar zu machen.„Freedom from attack and freedom to attack” heißt das bedenklich stimmende Schlagwort.

Mit der Entscheidung, ein Raketenabwehrsystem zu entwickeln, wird in Kauf genommen, dass globalen ordnungspolitischen Ansätzen wie der Rüstungskontrolle, und hier nicht nur dem ABM-Vertrag, großer Schaden zugefügt wird. Ein Land, das multilaterale Kooperation der eigenen unbegrenzten Handlungsfreiheit opfert, eignet sich nur schlecht als Vorbild in der internationalen Rüstungskontrolle. Im Gegenteil, ein solches Verhalten könnte dazu führen, dass andere Staaten ihre Anstrengungen, Massenvernichtungswaffen zu erhalten und sie asymmetrisch einzusetzen, verstärken werden.

Forward Deterrence
Hinter dem Stichwort Forward Deterrence verbirgt sich die Strategie, potentielle Bedrohungen für die USA nicht nur durch die ultimative Androhung eines Atomschlags abzuschrecken, sondern auch in der Lage zu sein, auf Gefahren durch die schnelle Stationierung von konventionellen Kampfeinheiten an jedem beliebigen Ort der Welt reagieren zu können.  Das Ziel soll es sein, die globalen Interessen der USA und ihrer Partner und den Zugang zu strategisch wichtigen Ressourcen sichern und gegebenenfalls verteidigen zu können. Um das zu gewährleisten, muß nicht nur eine ausreichende Mobilität der Streitkräfte auch über lange Strecken sichergestellt sein, sondern die Streitkräfte müssen auch so ausgerüstet sein, dass die unverzügliche Verlegung sowohl der Soldaten als auch von Material und Ausrüstung möglich ist. Gleichzeitig wird betont, dass die weltweiten Militärbasen der USA so ausgerüstet werden sollen, dass die dortigen Soldaten auch ohne die Hilfe umfangreicher Verstärkungen in der Lage seien, einen Gegner zu besiegen und eine „günstige militärische Balance in der Region“ wiederherzustellen: „One of the goals of reorienting the global posture is to render forward forces capable of swiftly defeating an adversary’s military and political objectives with only modest reinforcement. Key requirements for this reorientation include new combinations of immediately employable forward stationed and deployed forces; expeditionary and forcible entry capabilities; globally available reconnaissance, strike and, command and control assets; information operations; special operations forces; and rapidly deployable, highly lethal and sustainable forces that may come from outside a theater of operations.”

Diese„global posture“ kann es darüber hinaus nach Einschätzung des Verteidigungsministeriums durchaus erfordern, die Zahl der US-Militärbasen und Zugangs- und Stationierungsrechte im Ausland zu erhöhen, um in der Lage zu sein, kurzfristig und effektiv Einsatzkräfte in jeder möglichen Konfliktregion einzusetzen.
 
Long-range power projection
Entscheidender militärischer Aspekt der „forward deterrence“ ist die Fähigkeit, einen Krieg zu führen, ohne dafür erst große Truppenkontingente vor Ort neu zu stationieren. Stattdessen sollen in der Region stationierte Truppen unterstützt durch Einsatzkräfte, die von amerikanischem Territorium aus agieren, in der Lage sein, den Gegner zu attackieren. Beispielhaft für diese neue Art der Kriegsführung ist eine Episode aus dem Golfkrieg von 1991: „More than 15 hours before the raids on Baghdad commenced, a flight of seven B-52G long-range took off from Barksdale Air Force Base in Louisiana on what was to become the longest air raid in history. Over the course of a day and a half, the planes flew out over the Eastern United States, over the North Atlantic, Southern Europe, the Mediterranean and Egypt, and into air space over Western Saudi Arabia. At no time did they cross into Iraqi air space. Instead, they launched a total of 35 air-launched cruise-missiles at eight targets in Iraq… Having completed their task, the planes turned round and flew back to the United States.”

Das Ziel solch einer Strategie ist es, den unmittelbaren Kampfeinsatz der eigenen Soldaten und deren direkte Konfrontation mit dem Gegner so gering wie möglich zu halten. Der Faktor Mensch soll weitestgehend reduziert und durch Technik ersetzt werden. Dahinter steckt nicht nur der Glaube an die Überlegenheit von Technik und computergestützter Kriegsführung, sondern auch die Angst vor eigenen Verlusten, die die Hemmschwelle zum Krieg erhöht. Bedenklich ist jedoch, dass eine solche „Perfektionierung“ der Kriegsführung durch die sogenannte „Revolution in Military Affairs“ (RMA) diese Hemmschwelle zunichte machen könnte: wenn es gelingt, durch„long-range power projection“, nukleare und konventionelle Präzisionswaffen und modernste Waffensysteme, ein nationales Raketenabwehrsystem, überlegene Informationsgewinnung- und Verarbeitung und neue Strategien der Vernetzung und Integration einzelner Streitkräfteteile („Jointness“) die militärische Überlegenheit der USA weiter auszubauen, sinkt dann die Hemmschwelle zur Kriegsführung?

Verteidigungsbudget
Antworten auf diese Frage bleiben vorerst spekulativ. Das Verteidigungsbudget für das Jahr 2003 sowie die weitere militärische Planung der nächsten Jahr macht weist jedoch auf eine Militarisierung der Politik hin. Anhand der Zahlen ist zu vermuten, dass der militärischen Konfliktaustragung gegenüber zivilen Mitteln eine wachsende Bedeutung zukommt. Der von Regierung entworfene Verteidigungshaushalt für das Fiskaljahr 2003 sieht demnach einen Etat von 396 Milliarden US-Dollar vor, was einer Steigerung von 48,1 Milliarden Dollar im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Zwar wird der Anstieg zu einem großen Teil mit den Ausgaben für den„War on Terrorism“ gerechtfertigt, doch erscheint dies angesichts des weiteren 5-Jahres-Plans des Verteidigungsministeriums nicht ganz überzeugend. Denn danach soll der Verteidigungshaushalt in den folgenden Jahren bis 2007 auf 470 Milliarden US-Dollar wachsen, das sind 100 Milliarden mehr als Clinton für den Zeitpunkt geplant hatte.
In diesem Zusammenhang stimmt es bedenklich, dass die Bush-Administration parallel zum Anstieg des Verteidigungshaushalts beispielsweise eine Reduzierung der Ausgaben des State Departments für die aktuellen UN Peacekeeping-Missionen vorsieht und auch weiterhin nur 25 % statt der von den UN geforderten 27 % des gesamten UN Peacekeeping-Budgets zu zahlen bereit ist.

Diese Tatsache sollte jedoch wiederum nicht darüber hinweg täuschen, dass viele Aspekte der QDR 2001, der als Grundlage für den entworfenen Verteidigungshaushalt gilt, auf Vorgaben und Ansätze der Clinton-Administration zurückgehen (so zum Beispiel Gesamtgröße, Aufteilung und Struktur der Streitkräfte, neue Waffensysteme wie das F-22-Kampfflugzeug oder der Joint Strike Fighter).

Insgesamt bleibt jedoch die Frage, welche Rolle den europäischen Partnern, und hier insbesondere den NATO-Alliierten, die mit den USA historisch tief verbunden sind, noch bleibt– angesichts einer zunehmenden Militarisierung der amerikanischen Politik und einer politischen und militärischen Machtposition, die gegenwärtig scheinbar ungehindert zur Durchsetzung eigener Ziele und Interessen eingesetzt wird.

Die Rolle der europäischen Nato-Partner
Im Quadrennial Defense Review spielen die europäischen Verbündeten keine große Rolle. Allianzen und Sicherheitskooperationen werden ganze drei Absätze des 70-seitigen Dokuments gewidmet, welche eher durch die Rhetorik denn durch ihren Inhalt auffallen. Denn angesichts der tatsächlichen Ereignisse um den 11. September und Natos Ausrufung des Bündnisfalls, der von den USA mit einem „Danke, aber nein danke“ de facto ignoriert wurde, klingt es fast schon ironisch, wenn es in der QDR heißt: „(A)s witnessed in the wake of the terrorist attacks on the United States, NATO’s invocation of Article V demonstrates the commitment of America’s partners to collective defense, which bolsters the security of the United States.”
 
Es kann kaum noch bestritten werden, dass die Nato– zumindest in ihrer traditionellen Form - eine immer kleiner werdende Rolle in den Überlegungen der amerikanischen Administration spielt und dementsprechend geringeren Einfluss auf außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen hat als dies zu Hochzeiten des Kalten Krieges und der verbindenden äußeren Bedrohung der Fall war. Zwar hat das Bündnis das Ende des Kalten Krieges überlebt, anders als es viele Analysten und Beobachter vorhergesagt hatten, doch ihr Gesicht hat sich fundamental gewandelt.  Die Gründe dafür sind vielfältig: Da ist zum einen der Wegfall der Bedrohung, die Differenzen und Konflikte zwischen den Partnern kaschiert und die Staaten in diesem Sinne diszipliniert hatte. Des weiteren wurden auf dem britisch-französischen Gipfel von Saint Malo 1998 erstmals offen Plänen einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik artikuliert. Und sicher liegt es auch an den Stimmen in der amerikanischen Politik, die schon früh nach dem Ende des Warschauer Paktes für ein gerechteres burden-sharing, eine gleichmäßigere Aufteilung der Lasten der transatlantischen Verteidigungsgemeinschaft, plädiert hatten. Außerdem hat Europa unter strategischen und geopolitischen Gesichtspunkten seine zentrale Bedeutung für die USA eingebüßt, während andere Regionen, wie Zentral- und Ostasien, die Golf-Region oder Lateinamerika immer stärker in den Mittelpunkt des amerikanischen Interesse rücken. Im Lichte einer entspannteren weltpolitischen Lage versucht Europa, sich zu emanzipieren, während die USA daran interessiert sind, die Kosten ihres Engagements zu reduzieren und ihre finanziellen und machtpolitischen Ressourcen in Regionen zu investieren, die von wachsender strategischer Bedeutung sein könnten.

Diese veränderten sicherheitspolitischen Bedingungen des internationalen Systems sowie sich wandelnde Interessen der Nato-Mitgliedsstaaten haben das Bündnis gezwungen, sich zu reformieren und anzupassen. Die eingeleiteten Reformen in Struktur, Strategie und Auftrag des Bündnisses tragen diesen veränderten Bedingungen und Interessen der Partner Rechnung.
Europa erhält durch die Institutionalisierung der Combined Joint Task Force (CJTF), die Möglichkeit, in Krisenfällen auch ohne die USA mit Mitteln der Nato militärisch aktiv zu werden, wozu allerdings die einstimmige Zustimmung des Nordatlantikrates notwendig ist. Europäische Alleingänge sind also de facto unmöglich. Dies ist umso mehr der Fall, da die europäischen Partner weit davon entfernt sind, zu einem potenten militärischen Akteur zusammenzuwachsen, während die USA wie dargestellt, eifrig an einem Ausbau ihrer militärischen Überlegenheit arbeiten. Mit der CJTF haben die Europäer zwar vor allem auf dem Papier einen großen Schritt in Richtung einer eigenen Außen- und Sicherheitspolitik unternommen, doch wurde gleichzeitig dafür gesorgt, dass dieses Konzept nur mit Zustimmung der USA funktionsfähig ist. Für die USA bedeutet die stärkere Europäisierung der Nato vor allem eine neue Lastenteilung, ohne jedoch die zentrale Rolle innerhalb der europäischen Sicherheitspolitik einzubüßen.

Nato-Osterweiterung, „coalitions of the willing“ und die Zukunft der Allianz
Parallel dazu wurde mit dem neuen strategischen Konzept, das sich die Nato zu ihrem 50. Geburtstag gegeben hat, und mit der Aufnahme ehemaliger Ostblock-Staaten ein tiefgreifender Wandel der Aufgaben und Einsatzmöglichkeiten der Allianz vollzogen, der dazu geführt hat, dass das Bündnis nun eher eine Art Pool von im Einzelfall kooperationsbereiten Staaten ist („coalitions of the willing“), die – legitimiert durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrates oder eben auch ohne ein solches – eine Vielzahl potentieller Gefahren in einem nicht näher definierten euro-atlantischen Raum bekämpfen.  Die Nato wird damit zu einem Vehikel der Macht- und Einflussprojektion weit über ihre traditionellen geographischen und funktionalen Grenzen hinaus. Sie schafft sich nicht nur neue Aufgaben, sondern erschließt auf diese Weise auch Zugangsmöglichkeiten strategisch interessanten Regionen außerhalb des eigentlichen Nato-Territoriums.  Kritiker sehen gerade in dem – im Strategischen Konzept nicht ausdrücklich ausgeschlossenen– Verzicht auf ein obligatorisches Mandat durch den UN-Sicherheitsrat die Gefahr einer schleichenden Militarisierung der Konfliktaustragung unter Beteiligung der Nato.

Darüber hinaus wurde eine große Chance vergeben, die Rolle atomarer Streitkräfte innerhalb der Nato-Strategie – wie von Joschka Fischer im Vorfeld des Gipfeltreffens angeregt – weiter zu reduzieren und das langfristige Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung (wie in Artikel VI des NPT gefordert) anzustreben. Statt dessen wird unter Ziffer 62 bis 64 betont, dass ein – wenn auch reduziertes– Arsenal an Atomwaffen unverzichtbarer Bestandteil einer flexiblen Nato-Verteidigungsstrategie bleiben werde.

Nichtsdestotrotz feierten Politik auf beiden Seiten des Atlantiks den 50. Jahrestag der Gründung der Allianz, das Neue Strategische Konzept und die Osterweiterung überschwänglich.  Möglicherweise ist jedoch bei all der Euphorie über die erfolgreiche Reform des Bündnisses übersehen worden, dass sich das Gesicht der Allianz dabei stark verändert hat – ebenso wie die Interessen der Mitgliedsstaaten. Das Neue Strategische Konzept sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf beiden Seiten des Atlantik unterschiedliche Ansichten über die Funktion des Bündnisses vorherrschen. Der 11. September hat dies allzu deutlich gemacht. Die Frage nach den zukünftigen Aufgaben und Funktionen der Organisation, die eigentlich 1999 beantwortet zu sein schien, stellt sich plötzlich wieder – angesichts des amerikanischen Strebens nach Handlungsfreiheit und Flexibilität und einer Aufwertung militärischer Handlungsoptionen, angesichts europäischer militärischer Schwäche und dem vielzitierten „capabilities gap“. In der Summe scheint dies nicht nur zu einer Marginalisierung der europäischen Position in den Planungen des Pentagons zu führen, sondern auch zu einer zunehmenden Diskrepanz der beiden politischen Positionen, die sich dahinter verbergen. In einem viel beachteten Aufsatz schreibt Robert Kagan dazu: „Today’s transatlantic problem, in short, is not a George Bush problem. It is a power problem. American military strength has produced a propensity to use that strength. Europe’s military weakness has produced a perfectly understandable aversion to the exercise of military power.”

Capabilities Gap
Diese unterschiedliche Haltung gegenüber militärischer Macht und Machtanwendung drückt sich auch in einer unterschiedlichen Position gegenüber internationalen Rüstungs- und Abrüstungsbemühungen aus. Den 3% des Bruttosozialprodukts, die die US-Regierung im Jahr 2000 für Verteidigung ausgab, stehen nur Ausgaben von durchschnittlich 2,1 % des BSP in den europäischen Nato-Staaten gegenüber.  Die großen Unterschiede im Bereich der verteidigungs- und militärpolitischen Haushaltspolitik haben erhebliche Konsequenzen auf die transatlantischen Beziehungen, was an folgendem Zitat deutlich wird: „The growing capabilities gap ... could lend support to those in Washington who seek a more autonomous and less coalition-oriented military policy; in short, it could promote isolation. As Pentagon official James Thomas has written, ‘predictions of an inevitable and unbridgeable gap between the US and its Allies have reinforced the strong inclination within the US military to ensure that it retains the capacity for unilateral action’” .

Die divergierenden Positionen werden darüber hinaus am Verhältnis gegenüber multilateralen, verbindlichen Abrüstungsbemühungen sichtbar. Während Bush und sein Team wiederholt betont haben, dass Flexibilität in der militärischen Planung für sie höchste Priorität habe und langfristig bindende Rüstungskontrollverträge die Handlungsfreiheit der USA in unerwünschter Weise einschränkten, scheinen die europäischen Partner – allein, aber besonders auch mittels der EU–  zunehmend zu einem handlungsbereiten Akteur in Fragen der Rüstungskontrolle heranzureifen. Der Rückzug der Amerikaner aus ihrer Rolle als treibende, führende Kraft bei den Verhandlungen um neue Verträge hat den Europäern diplomatische Freiräume eröffnet.  Zwar ist die EU in vielen Bereichen der Rüstungskontrolle noch weit davon entfernt, mit einer Stimme zu sprechen, doch zeigt sich, dass unter den Mitgliedsstaaten durchaus Interesse daran besteht, das Thema in die außen- und sicherheitspolitische Agenda zu integrieren. Deutlich wird dies unter anderem auch an der Institutionalisierung des Dialogs, die durch die Einrichtung einer Working Group on Global Arms Control and Disarmament und einer Working Group on Non-Proliferation, stattgefunden hat.

Schlussbetrachtung
Neben den vielfach angeführten politischen und wirtschaftlichen Differenzen, die sich zwischen Washington und Europa in den letzten Monaten an Themen wie dem Internationalen Strafgerichtshof, den Stahlzöllen, der Behandlung der Gefangenen in Guantanamo, der Nahost-Politik oder an der Frage nach einem amerikanisch-europäischen Wertekonflikt (Todesstrafe, Abtreibung, Waffengesetze) entzündet haben, ist es gerade das militärisch-rüstungspolitische Denken, in dem sich transatlantische Unterschiede manifestieren. Die während der letzten Monate veröffentlichten Dokumente zur amerikanischen Militär- und Nuklearstrategie lassen erkennen, dass die US-Regierung bestrebt ist, ihre eigenen militärischen Handlungsoptionen durch ein steigendes Verteidigungsbudget, die Aufrechterhaltung und Ausweitung der Rolle von Atomwaffen und den Ausbau ihrer militärtechnologischen Dominanz auszudehnen. Es muß befürchtet werden, dass die angestrebte Perfektionierung der offensiven Kriegführung bei gleichzeitigem Schutz vor Vergeltung durch ein Raketenabwehrsystem die Hemmschwelle zur Kriegführung senken wird, zumal die neue nationale Sicherheitsstrategie betont, daß Präventivkriege zu einer denkbaren Option geworden sind. Welche Auswirkungen dies auf den Bestand völkerrechtlicher Normen im allgemeinen haben wird, kann nur erahnt werden. Fest steht, daß es zu einer Unterminierung des völkerrechtlichen Gewaltverbots beitragen wird, wenn sich ein Staat wie die USA diesen Normen nicht mehr verpflichtet fühlt. Wenn die USA anstreben, ihre und die weltpolitische Sicherheit und Stabilität tatsächlich zu erhöhen, statt sie zu gefährden, ist schwer verständlich, warum sie diesen Weg beschreiten.

Für weitere Bemühungen um den Ausbau der internationalen Rüstungskontrolle wirft die militärische Dominanz der USA schwierige Fragen auf. Nicht nur, weil das Verhalten der USA gegenüber bindenden Abrüstungsverträgen alles andere als vorbildlich ist, sondern vor allem auch, weil die Überlegenheit dazu führen kann, dass andere Staaten um so mehr gewillt sind, an Massenvernichtungswaffen festzuhalten, um ein Machtpotential und eine Bedrohungskapazität aufrechtzuerhalten.
 
„Naturally, the USA is not enthusiastic about giving up unilateral advantages in the new military technologies, which no one else is able to match. Of course, the goal of absolute invulnerability, or as Cohen put it, ‘freedom from attack and freedom to attack’, is totally incompatible with arms control…The RMA may encourage greater reliance on nuclear weapons by other countries… Thus the RMA can completely undermine the cold war-period arms control regimes, which were based on selective choice of weapons and the notion of parity.”

Damit wird es immer schwieriger, Staaten davon zu überzeugen, dass der Verzicht auf nukleare, chemische oder biologische Waffen für sie„profitabel“ ist. Stattdessen muß befürchtet werden, dass Gegner der USA zunehmend auf asymmetrische Mittel der Kriegführung und Massenvernichtungswaffen zurückgreifen, um die absolute militärische Dominanz der USA zu unterminieren. Wie diese asymmetrischen Mittel aussehen könnten, hat der 11. September auf dramatische Weise verdeutlicht.

Auf dieser Seite des Atlantiks stößt die amerikanische Politik der Stärke und Dominanz auf wenig Gegenliebe. Aber Europa kann nur dann als Korrektiv zur amerikanischen Politik fungieren, wenn es selbst in der Lage ist, sich im internationalen System als einflussreicher Akteur zu präsentieren, der nicht nach den Amerikanern rufen muß, wenn’s brenzlig wird. Dies erfordert eine größere Handlungsfähigkeit der Europäer, die sich jedoch keineswegs auf militärische Aspekte reduzieren, sondern eine umfassende sicherheitspolitische Agenda beinhalten muß. Damit könnte Europa einen Gegenentwurf zu einer zunehmend militarisierten amerikanischen Politik bilden.