Barbara Schroeren-Boersch (06.03.2001)
Irak
Die Geiselnahme eines ganzen Volkes
Die USA wollen die UN - Sanktionen gegen Bagdad ändern, damit die irakische Zivilbevölkerung weniger leiden muss. Statt des 1990 vom Weltsicherheitsrat verhängten Wirtschafts- und Handelsembargos will Washington jetzt «intelligente Sanktionen», die den Irak von weiterer Aufrüstung abhalten sollen. (Auszug aus einer dpa-Meldung vom 27.02.2001)
Saddam Hussein überfiel Kuwait am 2. August 1990 und annektierte das Emirat. Diese völkerrechtlich zu verurteilende Vorgehensweise Bagdads veranlasste die UNO mit der Resolution 661 am 6. August 1990 auf Druck der USA ein Wirtschafts-, Finanz- und Militärembargo gegen den Irak festzulegen. Fünf Monate später, am 17. Januar 1991, begann unter Führung der USA der Golfkrieg, die "Operation Wüstensturm". Nach Anerkennung aller UN - Resolutionen durch Saddam Hussein und der Verpflichtung des Irak seine ballistischen Raketen, chemischen und nuklearen Waffen offenzulegen wurde am 12. April 1991 das offizielle Ende des Krieges erklärt.
Die Bilanz des Krieges zeigt: weit überwiegend traf es Zivilisten
350 Tonnen abgereichertes Uran wurden u.a. verschossen, 668 Schulen und 95 Krankenhäuser sowie 7 der insgesamt 8 Wasserkraftwerke wurden getroffen, 80 Prozent der Nahrungsmittelproduktion wurden vernichtet. 200.000 Menschen wurden getötet, zwei Drittel unter ihnen waren Zivilisten.
Nach Beendigung des Kriegs blieb das Embargo bestehen - seit nunmehr 10 Jahren. Damit wurde der Irak Objekt eines einmaligen internationalen Experiments mit offenem Ausgang: Was passiert, wenn ein Land mittels internationaler Sanktionen jahrelang isoliert wird, und dies, nachdem zuvor seine Infrastruktur, Landwirtschaft und die Möglichkeit der Eigenversorgung zerstört wurde.
Die Zahl der Sanktionstoten (im Irak) ist das stille Äquivalent zu 10 Hiroshima-Bomben!
(Dr. Hannush vom UN-Welternährungsprogramm)
Laut UNICEF sterben täglich 250 Menschen an den Folgen der Blockade, Tag für Tag 10 Schulklassen - seit 10 Jahren!1 Schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen wurden Opfer der schärfsten Sanktionen, die je gegen einen Staat verhängt wurden. Das Trinkwasserproblem verschärft sich von Woche zu Woche und fordert inzwischen eine erhebliche Anzahl von Toten unter der Bevölkerung.
1996 wurde das Programm "Öl für Lebensmittel" ins Leben gerufen. Dringend benötigte Nahrungsmittel und Medikamente darf Bagdad seit dem unter Aufsicht eines "Sanktions- komitees" durch Erdölverkäufe importieren - alle sechs Monate für rund 600 Millionen Dollar. Laut IPPNW dürfen vom Erlös nur 35 Prozent für den Einkauf von Lebensmitteln, Medikamenten und Hospitalbedarf ausgegeben werden. Dies sind umgerechnet 6 Dollar pro Mensch und Monat. Das entspricht, wie amnesty international in ihrem Journal veröffentlichen, einer Ration von zwei Kilo Zucker, neun Kilo Mehl, 2,5 Kilo Reis, 1/2 Liter Speiseöl, dazu ein wenig Seife und Waschpulver.
Fazit: jedes vierte Kind ist mangelernährt. Die Zahl der Straßenkinder hat dramatisch zugenommen, nur noch jeder dritte J ugendliche beendet die Schule.
Seit 1994 hat nach inoffiziellen Angaben, kein Frühgeborenes mehr überlebt. Die Kinder erkranken und sterben an Leukämie, wie auch an Durchfallerkrankungen und Infektionen, die heilbar wären. Im August 1999 veröffentlichte UNICEF folgende Ergebnisse einer Studie:
Noch bis Ende der 80er Jahre verbesserten sich die Überlebenschancen der Kinder im Irak stetig. Bei einer Fortsetzung dieser Entwicklung wären heute 500.000 Kinder mehr am Leben.2
Die verschiedenen UNO-Agenturen im Irak bemühen sich zwar zu helfen: Sie bauen Trinkwasserstationen, unterstützen die Förderung von Frauen und Behinderten, reparieren Stromleitungen und haben es Dank einer Impfkampagne geschafft, die Polio (Kinderlähmung) auszurotten. "Dennoch haben die Vereinten Nationen den PR-Krieg um die Schuld an der Krise im Irak verloren", beklagt Generalsekretär Kofi Annan.
Zwei UN-Koordinatoren sind inzwischen zurückgetreten: Im September1998 der Ire Dennis Halliday und im Frühjahr 2000 sein Nachfolger, der UN-Beamte Hans Graf Sponeck. Beide beklagten in aller Öffentlichkeit die verheerenden Auswirkungen der westlichen Sanktionspolitik.
"Das Embargo gegen den Irak ist keine Außenpolitik - es ist sanktionierter Massenmord!"
(Noam Chomsky und Eward Said, US-amerikanische Wissenschaftler)
In ihren Jahresberichten prangert amnesty international die Menschenrechtsverletzungen im Irak an. Hier herrscht nach wie vor ein Terrorregime: Minister wurden nach Kabinettsitzungen erschossen, Prostituierte öffentlich enthauptet, Fußballnationalspieler nach einem verlorenen Spiel ausgepeitscht.3 Seit 1994 sind Verordnungen in Kraft, die die Amputation von Händen und Ohren und das Brandmarken der Stirn als Strafe erlauben. Diese Erlasse standen wohl im Zusammenhang mit der steigenden Kriminalitätsrate, deren Ursachen offenbar in den sich verschlechternden ökonomischen Verhältnissen lagen.4
Die Sanktionen, befand kürzlich auch die amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs, hätten Saddam nur noch gestärkt, die Menschen seien noch abhängiger von ihm geworden.
Wer aber kann, versucht das Land zu verlassen. Eine organisierte Flucht nach Europa kostet auf dem irakischen Schleppermarkt umgerechnet rund 6.000 Mark. Viele kommen nicht weiter als bis in die Türkei, in die sie von griechischer oder italienischer Grenzpolizei zurückgeschickt werden. Oder sie kommen um: Dutzende Iraker sind in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunken oder in engen Containern erstickt.3
Mit der "Operation Wüstensturm" 1991 drang die USA auch auf irakisches Territorium Richtung Bagdad vor. Das UNO-Mandat sah aber nur die Befreiung Kuwaits und nicht den Sturz Saddam Husseins vor. Aus sicherheitspolitischen Gründen schien dies auch wenig sinnvoll. Zu groß war die Furcht vor neuen Unruhen und Kriegen in der Region. Nach dem erklärten Willen der USA sollte die Opposition im Lande eine Entmachtung Saddams erreichen. Mit der Fortführung des Embargos sollte die Bevölkerung gezwungen werden, sich von Hussein loszusagen und seinem Sturz voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus gerechtfertigt, von der Geiselnahme eines Volkes zu sprechen. Die Opposition im Ausland ist zerstritten und das Volk hungert.
Nun stellt sich zu Recht die Frage, ob die USA und Großbritannien an einem Sturz des Diktators noch interessiert sind. Solange Saddam Hussein (und sein Clan) nämlich als Unsicherheitsfaktor in der Region dargestellt werden kann, legitimiert dies die, für die US-Wirtschaft sehr wichtigen, Rüstungsexporte an potentielle Gegner Iraks in der Region. Damit verstößt die US-Regierung aber auch ihrerseits gegen die UNO-Resolution 687. Im § 14 wird die Abrüstung in der Region verlangt als Voraussetzung für die Reduzierung des irakischen Waffenarsenals.
Zwar machte die USA für die "Befreiung Kuwaits" vor allem humanitäre und moralische Gründe geltend, aber es geht ums Öl und damit um die Macht am Golf. Schätzungen gehen nämlich davon aus, dass dem irakischen Ölmarkt in der näheren Zukunft eine enorme Bedeutung zukommt. Saudi-Arabien soll über 260 Milliarden Barrel Ölvorräte verfügen, der Irak über 315 Milliarden Barrel. Am Fördergeschäft möchten einige Staaten beteiligt werden. Tatsächlich hat der Irak bereits Lieferverträge mit Frankreich, Russland, China und etlichen anderen Ländern für die Phase nach den Sanktionen abgeschlossen.5 Mit Russland blüht seit geraumer Zeit auch der Schwarzhandel. Dies sind nebenbei auch jene Staaten, die sich für ein baldiges Ende der Sanktionen einsetzen, weniger aus humanitären Gründen denn aus Eigennutz, wie sich leicht erkennen lässt.
"Mit Recht wird das Embargo - die Waffe des Hungers - als kriminell und als Völkermord bezeichnet!"
(Europäische Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt e. V. EJDM)
Ein Vorwurf der Friedensbewegung an Vertreter der Außen- und Verteidigungspolitik sowohl im Zusammenhang mit dem damaligen Golfkrieg, wie auch dem militärischen Einsatz im Kosovo war, dass die Verantwortlichen das jeweilige Embargo nicht konsequent eingehalten hätten. Angesichts der humanitären Katastrophe im Irak muss mensch sich allerdings mit der Frage beschäftigen, ob ein Embargo, das auch die Blockade von Lebensmitteln und Medikamenten umfasst, tatsächlich Teil der Außenpolitik sein kann. Darf ein Volk als Geisel genommen werden oder lassen sich Sanktionen und Blockaden auf solche Güter beschränken, wie z.B. Öl im Falle des Embargos gegen Serbien, die zur Aufrüstung und zur Mobilmachung dienen? Diese können aber wiederum nur funktionieren, wenn sich die internationle Gemeinschaft über Art und Umfang einer Blockade geeinigt hat. Wenn Außenminister Powell jetzt von "intelligenten Sanktionen" redet, dann darf mensch gespannt sein, wie diese aussehen sollen.
Denn zwei Dinge sind in der dpa-Meldung (s.o.) deutlich geworden:
In einem offenen Brief an Außenminister Fischer, dokumentiert in der Wochenzeitung "Freitag", vom 8.01.1999, schlug der Politikwissenschaftler Mohssen Massarat einen Entwurf einer langfristig angelegten Friedensordnung für den nahen und mittleren Osten vor. Dieser sah u.a. die konsequente Reduzierung von Waffenexporten in die Region vor, wie auch die Unterstützung aller Bemühungen für einen regionalen Sicherheits- und Friedenspakt, der den Nahost- und Kurdistankonflikt und einen Abrüstungsprozess einschließt. Die Förderung des Aufbaus ziviler Strukturen und die Unterstützung von Demokratisierungsprozessen ist wichtiger denn je. Nur ein intensiver Dialog zwischen Europa und der Region kann zu gemeinsamen Energieversorgungs- und Klimastrategien führen. Die klimapolitischen Anforderungen der Energie- und CO2-Reduktion müssen auch mit langfristigen Interessen der Ölerzeugerstaaten in Einklang gebracht werden.
Frankreich, Deutschland, Italien und Russland könnten durch das Ein- und Voranbringen dieses Planes erste Ansätze einer zivilen gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik markieren.5
Doch über alle Gruppen und Initiativen hinweg muss Einigkeit darüber bestehen, dass dieses Embargo zu Gunsten der irakischen Bevölkerung sofort aufgehoben und die Geiselnahme beendet wird.
Barbara Schroeren-Boersch
1 Uni-Kassel, Friedenspolitscher Ratschlag: Die bösen Folgen des Embargos
2 UNICEF: 12.8.1999 Kindersterblichkeit im Irak hat sich verdoppelt / Sanktionen müssen Kinder schonen
www.unicef.de
3 amnesty international: ai-Journal Februar 2001
4 ai: Menschenrechtslage im Irak
www.amnesty.de
5 Graswurzelrevolution: Clemens Ronnefeldt: Krieg im Irak
www.comlink.de/graswurzel
Uni Kassel:
www.uni-kassel.de
IPPNW
www.ippnw.de
WSWS (World Socialist Web Site)
www.wsws.org
Europäische Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt e.V. :
www.ejdm.de