Startseite junge Welt Ausland

21.06.2001
Intelligente Sanktionen?
Irak-Embargo: Wo bleiben internationales Recht und Mitgefühl. Von Hans von Sponeck und Denis Halliday

Die Theorie, nach der wirtschaftlicher Druck am Ende zwangsläufig politische Veränderungen bewirken wird, hat sich ein weiteres Mal als falsch erwiesen. Es hat keinen Wechsel in der Regierung des Irak gegeben, aber die Lebensbedingungen, denen sich die Zivilgesellschaft des Irak gegenübersieht, sind verzweifelt und noch weitaus schlimmer als die, die hohe UN-Beamte bereits 1991 als apokalyptisch bezeichneten. Laut einem im Dezember 2000 veröffentlichten UNICEF-Bericht genießt der Irak heute die zweifelhafte Auszeichnung, das Land mit dem höchsten Anstieg der Kindersterblichkeit im Lauf der Jahre von 1990 bis 1999 unter sämtlichen untersuchten Ländern zu sein. Als ehemalige UN-Beauftragte für humanitäre Hilfe, die lange Zeit im Irak gelebt und die seltene Gelegenheit gehabt haben, die vor Ort herrschenden Bedingungen zu beobachten und mit Beamten des Irak und normalen Bürgern zu verkehren, möchten wir unsere große Besorgnis über die gegenwärtigen Vorschläge der USA und Großbritanniens für eine neue internationale Politik gegenüber dem Irak zum Ausdruck bringen. Was hier als internationaler Weg zur Veränderung vorgeschlagen wird, erscheint oberflächlich gesehen als gut ausgebaute Straße in Richtung auf eine Erholung der irakischen Zivilgesellschaft. Die brutale Wahrheit ist, daß der vorgeschlagene Weg voller Schlaglöcher ist.

Das amerikanische und das britische Außenministerium müssen sich darüber im klaren sein, daß die »wahre Geschichte« am Ende ebenso herauskommen wird wie in den Fällen Chiles und Vietnams. Die Tragödie ist nur, daß sie für Millionen von Irakern zu spät kommen wird, die dann schon aufgrund der eigennützigen und unaufrichtigen Politik anderer gestorben oder dauerhaft geschädigt sein werden.

Unsere erste Sorge ist, daß die internationale Gemeinschaft und die irakischen Behörden alles in ihrer Macht stehende tun, um die Wiederherstellung echter sozioökonomischer Normalität und Würde des Lebens im Irak zu ermöglichen. Die Vorschläge, die Großbritannien dem Sicherheitsrat unterbreitet hat, werden, wie schon jetzt absehbar, keineswegs zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen im Irak führen. Eine erweiterte »grüne Liste« von Waren, die ungehinderter als zuvor ins Land kommen können, bildet keine Beseitigung der äußeren Beschränkungen für ein normales Zivilleben! Nur die vollständige Aufhebung des Wirtschaftsembargos wird zu diesem Ziel beitragen.

Was zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Wirklichkeit vorgeschlagen wird, ist ein Vorgehen, das die Schlinge um den Hals des irakischen Durchschnittsbürgers enger zusammenzieht. Die Frage, die beantwortet werden muß, ist folgende: Wie hoch sind die Kosten für den Unterhalt eines Landes, insbesondere eines durch zehnjährige Sanktionen am Boden liegenden Landes? Woher sollen die Mittel für den Unterhalt der Straßen, Häfen, Brücken und Eisenbahnen des Irak kommen? Wie steht es mit Mitteln für öffentliche Aufgaben, zur Bezahlung der Lehrer oder für den Betrieb von Krankenhäusern und Schulen?

Die Sanktionsregeln sehen keinerlei Mittel zur Finanzierung solcher Vorhaben vor. Rückt das nicht die Menge an Geldern in ein anderes Licht, die die irakische Regierung zusätzlich zum Erlös aus dem legalen Verkauf von Öl einnimmt? Die vorgeschlagene »zivilfreundliche« neue Politik für den Irak versucht, diese Einnahmequelle zu eliminieren. Wenn das Erfolg hat, wird es das Leiden der irakischen Bevölkerung verschlimmern, nicht lindern. Die Vertreter der USA und Großbritanniens im UN- Sicherheitsrat argumentieren, ihre Vorschläge seien gleichbedeutend mit der Aufhebung der meisten, wenn nicht aller Beschränkungen für den Import von Zivilgütern. Dementsprechend wird jedes weitere Leiden der irakischen Bevölkerung auf das Konto der Regierung in Bagdad gehen. Das ist nicht nur falsch, sondern bösartig. Zu einem echten internationalen Beitrag zur Beendigung der Tragödie kann es erst durch Aufhebung der Wirtschaftssanktionen kommen. Der Status einer von Almosen abhängigen Gesellschaft wird erst enden, wenn die Wirtschaftsmaschine des Irak wieder läuft und die Menschen die Möglichkeit bekommen, für sich selbst zu sorgen, statt auf die monatliche Essensration zu warten. Ohne Auslandsinvestitionen in finanzielles und menschliches Kapital wird dies nicht geschehen, und es wird ebenfalls nicht geschehen, solange die irakischen Öleinkünfte von außen verwaltet werden. Die sogenannte neue Sanktionspolitik behält die alten Brückenköpfe des gegenwärtigen Sanktionsregimes bei: Das Treuhandkonto für Öleinkünfte bleibt bei der UNO, auf dem Markt basierende Auslandsinvestitionen im Irak werden nicht gestattet sein, und das Öl-für-Nahrung-Programm bleibt in der Hand der UNO.

Das alles schmeckt nach verwässertem Wein in derselben viel zu kleinen Flasche. Kein vernünftiger Mensch wird ihn trinken wollen, und die irakische Regierung wird es ablehnen, dafür zu bezahlen. Für die irakische Bevölkerung mit ihrem bereits so gut wie dahingeschwundenen Immunsystem wird er tödlich sein.

Letzten Endes basiert dieser Ansatz im Umgang mit dem Irak auf dem Vorwand, der Irak stelle immer noch eine militärische Bedrohung dar. Die Anti-Irak-Lobby hat sich sehr bemüht zu suggerieren, daß der Irak mit einigen bedeutenden Terroranschlägen der letzten Zeit etwas zu tun hat. Fakten sind keine vorgelegt worden.

Der Irak stellt heute für niemanden mehr eine militärische Bedrohung dar. Die internationalen Nachrichtendienste wissen das auch. Für all die vorgebrachten Spekulationen über Massenvernichtungswaffen im Irak gibt es keine Beweise. Ein Irak, der auf dem Höhepunkt seiner militärischen Schlagkraft nicht einmal einen eindeutigen Sieg im Krieg gegen den Iran erringen könnte, ist kein Land, das nach zehn Jahren Wirtschaftssanktionen und sieben Jahren Abrüstung noch eine Gefahr darstellen kann. Aus diesem Grund hatte William Cohen recht, als er am 10. Januar 2001 dem zukünftigen US-Präsidenten George W. Bush mitteilte, der Irak stelle »keine militärische Gefahr für seine Nachbarn mehr dar«.

Der neue Mehrheitsführer im US-Repräsentantenhaus, Tom Daschle, sprach in bezug auf den Nahen Osten von der Notwendigkeit eines Kompromisses. Auch wir sind der Auffassung, daß es in keinem der Aspekte des Friedensprozesses im Nahen Osten Fortschritte ohne Kompromisse geben kann. Das gilt auch für den Irak. Der Kernpunkt eines solchen Kompromisses muß sein, daß alle Parteien dem Prinzip des Dialogs zustimmen. Die zweite Runde von Gesprächen zwischen dem UN-Generalsekretär und einer Delegation des Irak ist ein wichtiger Schritt hin auf einen breiter angelegten Dialog mit dem UN- Sicherheitsrat.

Den Regierungen der USA und Großbritanniens liegen die Positionspapiere vor, die der seinerzeitige Außenminister des Irak Al-Sahaf im Februar 2001 dem UN-Generalsekretär Annan überreichte. Ein voller Dialog mit dem Irak muß mit einer inhaltlichen, nicht aber einer politisch motivierten Reaktion des UN-Sicherheitsrates auf diese Papiere beginnen. Damit würde der Weg geebnet für eine Prüfung aller noch strittigen Fragen von vermißten Kriegsgefangenen über Reparationszahlungen bis hin zur Abrüstung. Wenn es eine aufrichtige Sorge um das Wohlergehen der irakischen Bevölkerung gibt, sollte dem auch eine Einsicht in die dringende Notwendigkeit entsprechen, einen Ausweg aus der gegenwärtigen politischen Sackgasse zu finden. Nicht Haß, sondern Mitgefühl angesichts einer menschlichen Katastrophe sollte die Leitlinie bei den nächsten Schritten gegenüber dem Irak sein.

Übersetzung aus dem Englischen: Michael Schiffmann

* Hans C. von Sponeck war von 1998-2000 UN-Koordinator für humanitäre Hilfe im Irak. Sein Vorgänger Denis L. Halliday war in dieser Funktion von 1997-1998 in Bagdad tätig

Artikel per Mail versenden

© junge Welt