Freitag 13 24. März 2000
IM GESPRÄCH
Hans von Sponeck, langjähriger UN-Diplomat und unter Protest zurückgetretener »Koordinator für die humanitäre Hilfe im Irak«, über den Sinn und Unsinn von Sanktionen
FREITAG: Herr von Sponeck, Sie haben im Zusammenhang mit den Zuständen im Irak von einer humanitären Katastrophe gesprochen. Wer ist daran Schuld?
HANS VON SPONECK: Es ist klar, dass dem Bagdader Regime eine gehörige Portion Schuld an der Tragödie zukommt. Aber nach neun Jahren harter Sanktionen ist die Gewichtsverteilung zu Lasten der Sanktionen unverkennbar. Es gibt gar keinen Zweifel, dass die Sanktionen Schlimmes angerichtet haben. Wenn die Kindersterblichkeitsrate sich so weiter entwickelt hätte wie in den achtziger Jahren, dann wären in den neunziger Jahren ungefähr eine halbe Million Kinder weniger gestorben. Und so sieht es in allen Bereichen aus.
Die Sanktionen sind ja mit konkreten Zielen gestartet worden: Abrüstung des Irak, Herstellung einer Angriffsunfähigkeit. Sind Sanktionen dafür generell untauglich oder ist im Irak einfach nur ein Punkt verpasst worden?
Ich glaube, dass der ganze Ansatz nicht zum Ziel führt, dass Sanktionen - so wie sie gehandhabt werden - besonders wie im Irak, ihr Ziel nicht erreichen.
1990/91 hat die Friedensbewegung in Deutschland vehement Sanktionen als Alternative zum drohenden Golfkrieg gefordert. Wäre das nun zu überdenken?
Ich glaube, die Grundüberlegung war richtig. Man wollte jemanden treffen, der Schlimmes angerichtet hat. Aber jetzt wissen wir mehr, nämlich, dass dies so nicht geht. Wir sehen, dass jene, die man bestrafen wollte, fest im Sattel sitzen, während die Bevölkerung vom Pferd gefallen ist. Das ganze Sozialgefüge löst sich auf. Die irakische Mittelklasse ist praktisch verschwunden. Dafür gibt es eine neue Klasse von Mafia-Typen und Sanktions-Profiteuren.
Wenn man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten will und sich das Sanktionsmittel als nicht-militärisches Interventionsinstrument erhalten will, welche Alternativen gibt es dann?
Im englischen Sprachraum ist das Konzept der sogenannten »intelligenten Sanktionen« entwickelt worden. Da geht es um eine direktere Bestrafung der Führer, man friert Konten ein, man lässt sie nicht reisen, versucht, sie in jeder Weise abzukanzeln vor der internationalen Welt. Das ist ein guter Gedanke. Ich halte ihn nur nicht für sehr effektiv. Ich glaube, man muss endlich anfangen, an die Ursachen der ganzen Entwicklung zu gehen, damit es gar nicht erst soweit kommt, dass eine Figur wie Saddam Hussein sich so entwickelt, wie er das getan hat.
Prävention ist immer gut, und doch hat jedes Krankenhaus eine Notaufnahme. Bis jetzt galten Sanktionen als humanere Variante gegenüber militärischen Interventionen. Im Irak kann davon nicht mehr die Rede sein. Was ist falsch gemacht worden, und können Sie sich ein Sanktionsregime vorstellen, das diese Fehler vermeidet?
Dass man im Irak inkonsequent vorgegangen ist, dürfte unzweifelhaft sein. Es wurden immer neue Bedingungen, immer neue Interpretationen nachgeliefert. Die UN-Resolutionen selbst waren nicht sauber und eindeutig, so dass immer umstritten blieb, was nun eingehalten wurde und was nicht. Ich glaube, man muss erstens sehr viel sauberer definieren, was genau durch Sanktionen erreicht werden soll. Und dann muss es einen klaren Zeitrahmen gaben. Der darf nicht bekannt sein, aber er muss im Hintergrund existieren. Andernfalls erreichen Sanktionen die falschen Ziele. Aber selbst dann bin ich skeptisch.
Wäre ein kurzer Krieg in manchen Fällen nicht »humaner« als »endlose« Sanktionen?
Sanktionen sehen oft nur auf den ersten Blick aus wie eine »humanere« und kosteneffizientere Alternative zum Krieg. Die ultimativen Folgen für die Bevölkerung sind aber oft genauso schlimm wie bei einem Krieg. Ich möchte nicht dem Krieg das Wort reden, in keiner Weise. Aber die Frage ist berechtigt. Deshalb ja auch mein Appell, im Vorfeld an die Wurzeln zu gehen.
Aber die Idee der intelligenten Sanktionen, die nur eine Elite treffen, klingt doch gut.
Ja, das klingt sehr gut, aber ich halte es für unrealistisch.
Liegt es also in der Logik von Sanktionen, Unschuldige zu treffen, ja, treffen zu müssen, damit diese sich gegen ihre eigenen Herrschenden wenden?
Ja. Und das ist vielleicht vom internationalen und humanitären Recht her auch vertretbar für eine kurze Zeit. Aber nicht, wie im Irak, über eine Dekade. Fatal wird es, wenn der Punkt kommt, da Sozialnetze erodieren, sich die Bevölkerung einfach nicht mehr weiter entwickeln kann und eine ganze Generation unaufholbar zurückfällt. Kurzfristig darf man im höheren Interesse auch Unschuldige treffen, über einen längeren Zeitraum jedoch ist das unerträglich und verstößt auch gegen die Menschenrechtsdeklaration.
Ist es nicht sehr risikoreich, sich - auch unausgesprochen - einen Termin zu setzen? Was ist, wenn der ergebnislos verstreicht? Sagt man dann: Okay, wir haben es versucht und nun zurück zum Ausgangspunkt?
Sie sehen, wie komplex das ist. Es gibt keinen Ansatz, der total zufriedenstellen kann. Es wird immer Gruppen geben, die sagen: Nein, das ist nicht richtig, das ist nicht akzeptabel. Man muss da sehr genau beobachten und abwägen können. Wenn eine Situation wie im Irak eintritt, dann hat man keine andere Wahl, als die Sanktionen abzubrechen, sonst macht man sich mitschuldig.
Unterstellen wir mal, dass dieser Punkt nicht erreicht wird, dass Sanktionen nicht dieses verheerende Ausmaß annehmen wie jetzt im Irak. Gäbe es heute, da staatliche Akteure auf der internationalen Bühne zunehmend Konkurrenz bekommen, überhaupt die Chance, ein solches Sanktionsregime effektiv zu überwachen?
Es kommt darauf an, was man überwachen will. Wenn man die Abrüstung des Irak überwachen will, dann wird es sehr schwer sein, da hundertprozentigen Erfolg zu haben. Wenn Sie ein Wirtschaftsembargo überwachen wollen, dann ist es schon leichter möglich. Aber die Frage ist, ob man so etwas überhaupt tun soll. Ich glaube, dass eine totale Abrüstungskontrolle im Irak sowieso nicht möglich ist. Irak wird nie »clean« sein. Das Wissen ist in den Köpfen, und ein biologisches Labor aufzubauen, ist weder sehr schwierig, noch ausgesprochen teuer. Die ganze Logik stimmt hier nicht.
Heißt das, wir müssen zur Logik von vor 1989? Im Kalten Krieg hat man gelernt, mit der latenten Gefahr politisch umzugehen. Jetzt scheint sich dagegen eine Art technologischer Machbarkeitsoptimismus breit zu machen, der vorgaukelt, Probleme dieser Art an der Wurzel packen zu können.
Ich glaube, man muss die Iraker - parallel zur Lockerung oder zum Aufheben der Sanktionen - sehr stark in Gespräche einbinden, ihnen dadurch versuchen klar zu machen, dass der friedliche Weg der produktivere ist. Ein Weg, der den Menschen im Irak zugute kommt und auf diese Weise dann auch das Problem mit löst.
Ich frage noch einmal anders herum: Sie haben gesagt, dass Irak mit Sanktionen nicht abzurüsten ist. Eine Garantie, dass nicht doch irgendwelches Teufelszeug hergestellt wird, gibt es nicht. Das heißt doch auch, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen wird stattfinden. Dann wäre die logische Konsequenz, ein politisches System zu schaffen, das damit umgehen kann.
Ja, natürlich. Wenn die Sanktionen morgen zu Ende gingen, wäre das der Anfang für den Wiederaufbau einer neuen nationalen und sozialen und Bildungsstruktur. Da käme eine große Herausforderung auf die internationale Gemeinschaft zu. Im Augenblick passiert jedoch genau das Gegenteil: Wir tragen dazu bei, eine neue Generation zu schaffen, die von dem, was uns wichtig erscheint an demokratischen Grundgedanken, an ethischen Vorstellungen, nicht viel mitbekommt.
Muss die internationale Staatengemeinschaft sich also einfach angewöhnen, jeden potenziellen Störenfried zu behandeln, als wäre er eine Großmacht?
Ja. Das meinte ich mit politischem Einbinden. Wenn jemand etwas hat, was mir wehtun kann, dann muss ich sein und mein Verhalten ändern. Kein Land ist heute mehr allein mit einer Position. Und Großmächte - auch Supermächte - die sich mit einem kleineren Land auseinandersetzen wollen, müssen daran denken, dass dieses kleinere Land in der - und durch die - Auseinandersetzung zu einem »größeren Land« wird oder wenigstens werden kann.
Das heißt, wir müssen in der internationalen Politik wieder lernen, mit unbefriedigenden Kompromissen zu leben.
Wir müssen uns einfach daran gewöhnen, dass wir nicht in einer Kolonialsituation leben, dass die Länder unabhängig geworden sind. Man muss durch Beispiel, durch Vorbild wirken, auch wenn das jetzt sehr idealistisch klingt. Und wir müssen viel stärker auf Einbindung drängen, zum Beispiel in Instrumente wie die UN-Charta oder die Universaldeklaration für Menschenrechte.
Stichwort Demokratie: Ist ein Embargo oder eine Sanktion nicht eigentlich auch eine sehr demokratische Übung? Die funktioniert immerhin nur, wenn wirklich alle mitmachen, wenn sich alle darauf geeinigt haben. Krieg führen dagegen kann auch einer allein.
Wo ist ein Embargo durchgeführt worden, bei dem alle Länder mitgemacht haben? Ich glaube, Irak und Libyen sind Beispiele, wo man dem am nächsten war. Aber auch da nicht lange. Das ist alles sehr schnell abgebröckelt. Im Ergebnis haben wir heute einen total zerrütteten Sicherheitsrat. Es gibt Länder, die offen mit dem Irak handeln, und noch mehr, die heimlich Geschäfte machen. So wird das, meiner Ansicht nach, über kurz oder lang in jeder Embargosituation sein.
Aber es gibt in der Geschichte Beispiele für relativ erfolgreiche Sanktionen.
Nur Südafrika. Doch auch Südafrika wäre eine Tragödie geworden, wenn das länger gedauert hätte. Ich war zu der Zeit Leiter des UNO-Büros in Botswana und habe mir das aus unmittelbarer Nähe angeschaut. Der Schaden, der entstanden wäre, auch der Schaden im Zusammenleben der verschiedenen Rassen, wäre irreparabel geworden.
Was halten Sie von der Idee eines Sanktionsfonds, aus dem Länder entschädigt werden, die sich an das Embargo halten und deshalb wirtschaftliche Nachteile haben?
Ich glaube, realistischer wäre es, den Artikel 50 der Charta anzuwenden. Der räumt Anrainern beispielsweise Sonderrechte ein, um die Wirtschaftsfolgen eines Embargos abschwächen.
Aber auch das will irgendwie bezahlt sein.
Nein. Die Türkei darf heute zum Beispiel »illegal« Öl aus dem Irak importieren. Auch Jordanien hat ein Sonderabkommen über Öllieferungen aus dem Irak getroffen. Man braucht da keinen Fonds.
Also keinen Fonds, sondern eine gezielte Aufweichung der Sanktionen?
Genau. Um die traditionellen Handelsbeziehungen nicht zu sehr zu schwächen.
Das verlängert dann aber auch den Wirkungszeitraum der Sanktionen.
Natürlich. Daran sehen Sie, wie schwer es ist, ein Sanktionspaket zu schnüren, das umfassend ist und doch die Bevölkerung schützt. So was funktioniert, glaube ich, nur in der Theorie, aber nicht in der Praxis.
Wenn Sanktionen nicht den gewünschten Effekt haben und man dennoch intervenieren will, ohne Waffen sprechen zu lassen. Was bleibt dann noch?
Es gibt dann eben wirklich nur das Konzept der limitierten Sanktionen. Das wird nicht so effektiv sein, aber es wird auch nicht ohne Wirkung bleiben. Sicher ist nur: So etwas wie im Irak, darf nicht noch einmal versucht werden. Echte, wirklich gute Alternativen aber hat man eigentlich keine.
Dennoch wird Einmischung auch auf internationaler Ebene weiterhin geboten sein. Brauchen wir also ein neues, klareres und eindeutigeres Interventionsrecht als es die UN-Charta gegenwärtig liefert?
Absolut. Durch diese ganzen Entwicklungen kommen ja auch die Widersprüche in der Charta hoch. Ich sage das jetzt nicht leicht dahin, denn ich halte die Charta immer noch für einen fabelhaftes zeitgemäßes Dokument: aber ich glaube, dass man sie sich langsam wieder anschauen muss. Wir müssen zu neuen Schlüssen kommen, was ist vom internationalen Recht her zulässig - und auch wie lange.