Die Gründe für Verelendung und hohe Kindersterblichkeit liegen in der Sanktionspolitik / Von Hans C. Graf Sponeck
Frankfurter Rundschau, 07.02.2002
Die militärischen Drohungen der USA gegen Irak als Teil der "Achse des Bösen" sind unverhohlen. Nun signalisiert Irak wieder Bereitschaft zu Gesprächen mit den Vereinten Nationen (UN). Bei allem politischen Gerangel um Diplomatie und Wiederzulassung von Waffeninspektoren geraten die fürchterlichen Lebensumstände der irakischen Bevölkerung aus dem Blick. Das Volk leidet schwer unter den UN-Sanktionen, die seit zehn Jahren in Kraft sind. Hans Sponeck, von 1988 bis 2000 UN-Koordinator für Irak, plädiert für Aufhebung des Embargos und für neue politische Flexibilität im Umgang mit Irak. Wir dokumentieren Auszüge aus einer Rede, die Sponeck kürzlich bei einer Festveranstaltung der Vereinigung "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs" (IPPNW) in Frankfurt am Main gehalten hat.
Bringen Sanktionen den Frieden? Auf Irak bezogen, ist es aufschlussreicher zu fragen: Können Sanktionen, wie sie seit elf Jahren gegen Irak bestehen, den Frieden bringen? Eine Antwort kommt aus dem englischen Unterhaus, wo eine Gruppe von Parlamentariern aller Parteien im Januar 2000 einen Bericht über Sanktionen vorlegte. "Es ist schwer, sich vorzustellen", so schlossen sie, "dass in Zukunft die Vereinten Nationen sich noch einmal veranlasst sehen könnten, Sanktionen dieser Art zu verhängen." Dies ist auch meine Meinung.
Mit dem Zitat aus London wäre die Frage, ob Sanktionen Irak Frieden bringen können, eigentlich schon beantwortet. Der ungeheure Schaden, den eine falsche internationale Politik im Lande angerichtet hat, muss zum Nachdenken zwingen. Warum wird die irakische Bevölkerung so behandelt? An Erkenntnissen über die erbärmliche Existenz der Bevölkerung mangelt es nicht. Sadruddin Agha Khan besuchte als Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs im Frühjahr 1991 Irak. Er sprach schon damals von apokalyptischen Eindrücken. Dies war zu Beginn der Sanktionen! In den darauf folgenden Jahren entstand im UN-Sicherheitsrat eine Irak-Politik, die immer deutlicher an den amerikanischen Interessen ausgerichtet wurde und die Vorstellungen einer multilateralen Staatengemeinschaft immer weniger widerspiegelte. Hier zeigte sich eine bewusste Schwächung des UN-Sicherheitsrats. Verdeutlicht wurde dies durch die kompromisslosen Worte Jesse Helms, des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im amerikanischen Kongress. "Wir werden die Vereinten Nationen stärken, wenn sie unsere Politik unterstützen, und sie schwächen, wenn sie dies nicht tun", sagte er 1999 bei seinem Besuch im UN-Sicherheitsrat.
Bis vor kurzem basierten Amerikas Interessen, unterstützt von Großbritannien, auf "containment", einem Abriegeln Iraks. Ein geschwächter, aber nicht gestürzter Saddam Hussein wurde der Vorwand für eine macht-, wirtschafts- und sicherheitspolitische Präsenz am Persischen Golf. Diese Politik hat auf die irakische Bevölkerung wie eine Bestrafung gewirkt: Ihre Menschenrechte sind doppelt eingeschränkt, innenpolitisch und außenpolitisch - für ein Vergehen, das sie nicht begangen hat.
Die Konfrontation der USA und Großbritanniens mit Irak wird im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Rücken der irakischen Zivilbevölkerung ausgetragen. Mit machiavellischer List laufen sich die Kontrahenten bei der Auslegung der Ursachen für das verzweifelte und unwürdige Leben der Menschen in Irak den Rang ab. Die USA machen Saddam Hussein verantwortlich. Die irakische Regierung hingegen besteht darauf, dass allein die Sanktionen der Grund des Leidens sind.
In Irak sind die Konsequenzen politischer Fehltritte hart. Der normale Bürger jedoch kann ungestört sein karges Leben leben. Der Hauptgrund für die Verelendung und Armut in Irak ist zweifellos in der Sanktionspolitik zu sehen. Berichte renommierter Organisationen wie des Internationalen Roten Kreuzes, von Care, Unicef, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderen UN-Organisationen haben das über die Jahre hinweg mit Sorge zum Ausdruck gebracht. Dass die dabei angeführten Daten und Fakten von den USA und Großbritannien immer wieder angegriffen werden, ist als Ablenkungsmanöver zu verstehen. Es ist Tatsache,
- dass in Irak die Kindersterblichkeit in den Jahren von 1990 bis 1999, laut Unicef, um 160 Prozent gestiegen ist. Dies ist der höchste Anstieg von 188 Ländern, die analysiert wurden;
- dass 500 000 Kinder in diesem Zeitabschnitt wegen verschmutzten Wassers, fehlender Medikamente und Unterernährung gestorben sind. Alle drei Faktoren sind ausschließlich auf die Sanktionen zurückzuführen;
- dass im Jahr 2000 30 Prozent der irakischen Kinder unter fünf Jahren an chronischer und über sieben Prozent an akuter Unterernährung litten. Laut Unicef waren es noch 1991 18,7 und 3 Prozent gewesen;
- dass in den Jahren 1990 bis 1998 die Zahl der Kinder unter 14 Jahren, die psychisch erkrankt waren, laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO), um 124 Prozent gestiegen war;
- dass Irak im Jahr 1987 von der Unesco international anerkannt worden war, weil im Zeitraum von zehn Jahren (1977-87) der Analphabetismus von 48 Prozent auf 20 Prozent reduziert worden war. 1995 aber war die Zahl der Analphabeten erneut auf 42 Prozent gestiegen;
- dass von Dezember 1996 bis Ende November 2001 50,7 Milliarden Dollar an Ölgeldern eingenommen wurden und von diesem Betrag 29,6 Milliarden Dollar für humanitäre Zwecke zur Verfügung gestellt wurden. Was tatsächlich im Rahmen des Öl-für-Nahrungsmittel-Programms in Irak in dieser Zeit angekommen ist, belief sich auf einen Gesamtwert von nur 15,9 Milliarden Dollar oder einem Pro-Kopf-Betrag von 141 Dollar pro Jahr. Damit zeigt sich, wie unzulänglich das Programm für das Leben der Menschen ist. Den heranwachsenden jungen Menschen bietet sich also eine mehr als fragwürdige Zukunft. (. . .)
Selbst die begrenzten Einnahmen des Öl-für-Nahrungsmittel-Programms können nicht voll ausgenutzt werden. Lebenswichtige Dinge wie Impfstoffe, diagnostische Geräte, Unkrautvernichtungsmittel, Unterrichtsmaterial, Ersatzteile für die Ölindustrie sowie für die Wasser- und Abwasserversorgung, sogar Ambulanzen werden von den USA und Großbritannien blockiert. Es bestehe die Gefahr, so argumentieren die beiden Regierungen, dass solche Importe für militärische Zwecke missbraucht werden könnten. Anfang Januar 2002 waren es 1854 Warenbestellungen im Wert von 4,9 Milliarden Dollar, deren Lieferung verhindert wurde. Dabei wird ignoriert, dass in Irak ein Stab von über 300 UN-Beobachtern eingesetzt ist, der keine andere Aufgabe hat, als zu prüfen, dass die Waren an den richtigen Ort kommen.
Es ist zu unterstreichen, dass die Zusammenarbeit zwischen den UN und den irakischen Behörden eng und professionell ist. Dies mag überraschen, denn in der internationalen Presse liest man es meist anders. Das Orwellsche "double speak", mit dem das Irak-Bild beschrieben wird, ist erschreckend. Auf meine Versuche, dem UN-Sicherheitsrat und den Medien korrekte Daten über die Lage der Menschen zu übermitteln, reagierte der Sprecher des US-Außenministeriums, James Rubin, mit der Bemerkung: "Dieser Mann in Bagdad wird bezahlt, um zu arbeiten, nicht um zu sprechen." (...)
Wer die Irak-Politik der UN als Ganzes bewertet, wird erkennen, dass darin ein Ende der Sanktionen nur dann ins Auge gefasst ist, wenn ein im "Iraq Liberation Act" des amerikanischen Kongresses vom Oktober 1998 klar formuliertes Ziel erreicht ist: der Sturz von Saddam Hussein und seiner Regierung. Bis dahin wird man weiter versuchen, die Bevölkerung dafür zu bestrafen, dass sie ihren Diktator erdulden muss. Dies ist wahrlich eine seltsame Logik, für die USA allerdings mit der Konsequenz einer guten strategischen, wirtschaftlichen und militärischen Dividende.
Ein breiter Katalog von Entscheidungen und Maßnahmen im UN-Sicherheitsrat hilft, diese Politik aufrecht zu halten. Dabei sind die Schlüsselresolutionen von 1991 und 1999 bewusst unklar formuliert; die Amerikaner nennen dies "konstruktive Ungenauigkeit", "constructive ambiguity". Ohne genau definiertes Abrüstungsziel können die USA die Willfährigkeit der Iraker bequem als ungenügend bezeichnen. (. . .)
Eine detaillierte Analyse der Bedürfnisse der irakischen Bevölkerung hat es weder zu Beginn der Sanktionen noch später gegeben. Ebenso gibt es keine Strategie für die Aufhebung eines Embargos. Die Regularien im UN-Sicherheitsrat wurden, wie Tonio Eitel, ein ehemaliger deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen, in einer Studie feststellte, für Irak so angewandt, dass die diplomatischen Vertreter Iraks selten die Gelegenheit haben, an den Entscheidungen über ihr Land teilzunehmen. (. . .)
Der Präsident des UN-Sicherheitsrats musste im Januar 1999 die 15 Ratsmitglieder daran erinnern, dass es zu ihren wichtigen Aufgaben gehört, die Folgen ihrer Sanktionspolitik auf das Leben der Bevölkerung kontinuierlich zu verfolgen. Dies geschieht auch weiterhin nicht. Eine politische Berichterstattung an den UN-Sicherheitsrat durch die UN-Vertretung in Bagdad gibt es nicht. Versuche, über die Routineberichte des Öl-für-Nahrungsmittel-Programms hinaus zu informieren, sind abgelehnt worden. (. . .) Für die internationale Gemeinschaft besteht die Pflicht, sich dafür einzusetzen, dass die Menschen in Irak so behandelt werden, wie wir dies für uns in unseren eigenen Ländern beanspruchen.
Der Fall Irak zeigt, dass unter solchen Bedingungen die Handhabung politischer Konflikte unmöglich ist. Grundrechte der Freiheit wie auch internationales Recht werden den machtpolitischen Interessen einzelner Staaten geopfert. Durch die Sanktionen werden bewusst Lebensbedingungen geschaffen, die eine Gesellschaft zestören - ein Verstoß gegen die Genozid- Konvention. Wenn durch Sanktionen der Bevölkerung das Recht auf Arbeit, auf Gesundheit, auf Nahrungsmittel und Behausung genommen wird, ist dies ein Verstoß gegen den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Wenn in Folge der Sanktionen 5000 Kinder im Monat sterben, weil sie unterernährt sind oder medizinisch nicht versorgt werden können, verstößt dies gegen das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Wenn von den USA und Großbritannien in Irak Flugverbotszonen eingerichtet werden, für die es kein Mandat des UN-Sicherheitsrats gibt, ist dies eine Verletzung der Souveränität eines unabhängigen Staates.
Dies hervorzuheben und zu verurteilen, bedeutet nicht, dass schwere Vergehen eines Diktators gegen sein Volk zu dulden. Den erkennbaren Schaden, den die Sanktionen angerichtet haben, und der damit verbundene Druck einzelner Regierungen, der Wirtschaft und des internationalen Gewissens haben im letzten Jahr zur Suche nach einer neuen Irak-Politik geführt. Im UN-Sicherheitsrat kam der Begriff der "intelligenten" Sanktionen auf. "Intelligente", auf die Führung gerichtete Sanktionen bei gleichzeitigem Schutz der Bevölkerung wären eine vertretbare Alternative gewesen. Die diesbezüglichen Vorschläge der Engländer vom Juni 2001 zu einer neuen Irak-Politik schienen dieser Art zu sein, stellten sich dann aber als derartig beschämende Unehrlichkeit heraus, dass sie im Sicherheitsrat abgelehnt wurden. Das Leiden der Bevölkerung wäre nicht vermindert, sondern erhöht worden.
An den rechtlichen, wirtschaftlichen, moralischen und ethischen Gründen, warum die Irak-Politik des UN-Sicherheitsrats sich grundsätzlich ändern muss, hat sich also nichts geändert!
Nach zwei Weltkriegen haben die Länder der Europäischen Union den Wert eines dauerhaften Friedens hochzuhalten. Gerade in der gegenwärtigen Zeit, in der sich die Gewissenlosigkeit von Macht erweist, müssen es die europäischen Regierungen, und besonders unsere eigene, als Herausforderung ansehen, den amerikanischen Freund und Verbündeten zu überzeugen, dass es friedliche Alternativen für die Lösung des Irak-Konflikts gibt. Die UN muss wieder das Instrument der friedlichen Konfliktlösung werden, als das sie geschaffen worden ist. (. . .)
Einen Frieden im Mittleren Osten wird es ohne die Lösung der Irak-Frage nicht geben. Alle Seiten, besonders die USA und Irak, müssen erkennen, dass es ohne Kompromisse auch keinen Fortschritt geben wird. Der von den Russen im letzten Jahr vorgelegte Resolutionsentwurf ist ein Vorschlag für eine friedenspolitische Alternative: Irak erlaubt die Rückkehr von UN-Waffeninspekteuren; nach 60 Tagen geben die USA ihre Zustimmung zur Aufhebung der Wirtschaftssanktionen. (. . .)
Anlässlich des arabischen Gipfeltreffens in Amman im März 2001 hatte König Abdullah von Jordanien eine Vermittlerrolle zwischen Kuwait und Irak übernommen. König Abdullah, der bereits Kuwait besucht hat, sollte nun auch die wichtige Reise nach Bagdad antreten. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Dr. Amr Moussa, gegenwärtig auf dem Weg nach Bagdad zu seinem ersten Besuch, kann hier wertvolle Vorarbeit leisten.
Einen Beitrag zum Frieden kann auch durch die Intensivierung des politischen Dialogs in Irak selber geleistet werden. Der Kontakt zwischen dem kurdischen Norden und Bagdad existiert. Meine Gespräche in Irak im letzten Juni haben gezeigt, dass alle Seiten interessiert sind, über die Zukunft des Landes und des kurdischen Nordens miteinander zu sprechen. Die Forderungen der Kurden-Führer Barzani und Talabani sind bekannt: Garantien für ihre lokale Autonomie, die gerechte Verteilung der staatlichen Einkünfte, ein Ende der Arabisierung von Kirkuk und anderer Gebiete in der Nähe der Kontrollinie und langfristig die Schaffung eines föderalen Staates.
Es wird im kurdischen Norden immer wieder erwähnt, dass man zuerst Iraker und dann erst Kurde sei. Man weiß dort, dass der Traum von der Unabhängigkeit mit der geopolitischen Realität nichts zu tun hat. Dieses Wissen macht aber die Gespräche mit Bagdad über die gemeinsame Zukunft nicht leichter. Bagdad wird sicher nicht über eine Föderation sprechen wollen. Die USA und Großbritannien wissen wohl, dass die Wiederaufnahme von Gesprächen zwischen Bagdad und Irakisch-Kurdistan die Entspannung der inter-irakischen Lage bewirkt; daher sind die beiden Länder gegen solche Gespräche.
Es ist am UN-Generalsekretär, darauf zu dringen, dass Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen die Souveränität und die territoriale Integrität Iraks respektieren, so wie es in allen relevanten UN-Resolutionen gefordert ist. (. . .)
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Dokument erstellt am 06.02.2002 um 21:34:57 Uhr
Erscheinungsdatum 07.02.2002