DIE UNO IM ABSEITS

Krieg ohne Ende gegen den Irak

Le Monde diplomatique Nr. 5736 vom 15.1.1999 Seite 1,18

Acht Jahre nach dem Golfkrieg scheint die Aussicht auf eine neue Ordnung in der Nahostregion in weite Ferne gerückt. In Israel könnten die Ende Mai anstehenden Neuwahlen zwar das Ende des Regierungschefs Benjamin Netanjahu bringen, aber sie bedeuten auch, daß die Friedensverhandlungen für längere Zeit auf Eis gelegt sind, während die Besiedlung der besetzten Gebiete vorangetrieben wird. Zudem hat die Hisbollah israelische Luftangriffe auf den Süden des Libanon damit beantwortet, den Norden Israels unter Beschuß zu nehmen. Die Bombardierung des Irak durch die USA und Großbritannien hat zum einen gezeigt, daß Washington die Vereinten Nationen sowohl mißachtet als auch zu Spionagezwecken mißbraucht. Zum anderen hat sie erneut bewiesen, daß die Strategie der Sanktionen eine Sackgasse ist. Denn die jüngsten Angriffe haben lediglich die Diktatur des Präsidenten Saddam Hussein gestärkt und die Bevölkerung und die Gesellschaft des Irak dem Abgrund noch etwas näher gebracht.

Von ALAIN GRESH

ERINNERN wir uns an die berühmte "Breschnew-Doktrin" der begrenzten Souveränität: Die sowjetische Führung nahm sich im Namen der "übergeordneten Interessen des Sozialismus", die allein von ihr definiert wurden, das Recht heraus, in den "Bruderländern" zu intervenieren, um jede Art von "Konterrevolution" zu unterbinden. Von dieser hehren Idee beseelt zermalmten 1968 die Panzer des Warschauer Paktes den Prager Frühling.

Dreißig Jahre später präsentiert die Washington Post mit entwaffnendem Zynismus die "Clinton-Doktrin" als ein Gesetz, das für die ganze Welt gelte. Und zu den Bedenken und der verdeckten Kritik, die UN-Generalsekretär Kofi Annan an den amerikanischen Luftangriffen auf den Irak äußerte, stellt der Leitartikel fest: "Die Vereinigten Staaten und Großbritannien halten genauer an den Zielen der Vereinten Nationen und am Wortlaut ihrer Beschlüsse fest als die Vereinten Nationen selbst."1

Das läßt sich nur so verstehen, daß niemand besser zu entscheiden qualifiziert ist, was Recht und Gesetz entspricht, als die Regierung in Washington (London wird hier nur der Form halber und eher scherzhaft erwähnt). Wenn die internationale Gemeinschaft sich damit abfindet, um so besser, wenn nicht, fühlen sich die USA stark genug, das Prinzip auch allein durchzusetzen, selbstverständlich unter Berufung auf die Grundsätze der Vereinten Nationen. Ensprechend bezeichnen Mitglieder der Clinton-Regierung die Vereinigten Staaten immer wieder gerne als "die unverzichtbare Nation".

16. Dezember 1998: Der UN-Sicherheitsrat tagt, um die Berichte von Richard Butler, dem australischen Leiter der UN- Sonderkommission im Irak (Unscom), zu studieren. Außerdem liegt ein Bericht der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) vor, in dem bekräftigt wird, daß Bagdad alle Auflagen erfüllt habe und daß man hinsichtlich der Atomwaffenkontrolle von Inspektionen zu langfristiger Überwachung übergehen könne. Butler dagegen erklärt, die Unscom sei "nicht in der Lage, entscheidende Abrüstungsmaßnahmen durchzuführen". Es gibt also reichlich Diskussionsstoff - aber die Debatte wird unterbrochen: Wie die Fernsehzuschauer in aller Welt erfahren die Mitglieder des Sicherheitsrats aus den CNN- Nachrichten, das Weiße Haus habe soeben den Beginn der Raketenangriffe auf den Irak bekanntgegeben.

Zur Begründung wird vor allem auf Butlers Bericht verwiesen. Es stellt sich jedoch rasch heraus, daß die US-Regierung dem australischen Diplomaten die Feder geführt hat:2 Butler hatte sich nicht mit seinen Mitarbeitern in der Kommission beraten, dafür aber regelmäßig das US-Außenministerium über den Stand seiner Arbeit informiert. Nach Auskunft des US-Amerikaners Scott Ritter - der ein ehemaliger UN-Inspektor und entschiedener Verfechter einer harten Linie gegen Saddam Hussein ist, allerdings auch die Verbindungen der Unscom zum israelischen Geheimdienst enthüllt hat - hielt Butler ständigen Kontakt mit den Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrats der USA, wobei diese "von ihm verlangten, er solle seinen Bericht in schärferem Ton abfassen, um die Luftangriffe zu rechtfertigen"3.

Ein hoher amerikanischer Regierungsbeamter meinte dazu: "Butler hat uns seine vorläufigen Feststellungen mitgeteilt, und wir haben daraufhin bestimmte Fragen gestellt. Sein Schlußbericht war dann Grundlage unserer Entscheidung für den Einsatz von Gewalt."4 Die letzte Behauptung ist allerdings unrichtig: Bereits am 13. Dezember, drei Tage vor Übergabe des Abschlußberichts, ließ das Weiße Haus den gemeinsamen US-Generalstab wissen, der Präsident werde in den nächsten Tagen Luftangriffe auf den Irak anordnen.5

Wie parteiisch die Einschätzung Butlers war, wurde Diplomaten und Journalisten alsbald klar. Weshalb erwähnt er nicht die Zahl von (300) Inspektionen, die Unscom innerhalb von weniger als einem Monat reibungslos durchführen konnte? Weshalb berichtet er ausführlich über verschiedene kleinere Konflikte, die meist nicht lange andauerten, läßt aber die provokativen "Besuche" weg, die man Einrichtungen der Regierung oder der Baath- Partei abgestattet hatte? Heißt es nicht in dem Vertrag vom 23. Februar 1998 zwischen Kofi Annan und Tarik Asis, die "berechtigte Sorge des Irak um seine Sicherheit, seine Würde und seine nationale Souveränität" sei zu respektieren?

Butlers Gesamturteil jedenfalls, wonach die Unscom "nicht die Möglichkeit hatte, entscheidende Abrüstungsmaßnahmen durchzuführen", ist schlicht unwahr. Tatsächlich ist der Irak bereits weitgehend entwaffnet, die Aufrechterhaltung der Sanktionen hat das Land ausgeblutet (siehe den Bericht von Denis Halliday auf Seite 20) und auch seine militärische Stärke reduziert. Die Armee ist zu nicht viel mehr in der Lage, als jegliche Opposition im eigenen Land zu unterdrücken; sie hat seit über acht Jahren keinen einzigen Panzer, kein Flugzeug, keinen Hubschrauber im Ausland kaufen können, ihr Atomwaffenpotential ist gleich null. Der Militärexperte Jean-Louis Dufour stellt dazu fest: "Ein Waffensystem besteht immer aus zwei Elementen, Ladung und Trägersystem, und Bagdad verfügt über beides nicht (...). Bis auf die sechs Scud- Raketen (manche Beobachter sprechen von zwei), über deren Verbleib man nichts weiß, kann der Irak keine Raketen mehr haben, die er auf die Nachbarstaaten abfeuern könnte. Folglich kann er dort auch keine chemischen oder bakteriologischen Kampfstoffe zum Einsatz bringen."6 Demnach ist die Arbeit der Unscom erfolgreich gewesen. Selbst der britische Premierminister Blair hat eingeräumt, daß es den Experten der Vereinten Nationen gelungen sei, "mehr Massenvernichtungswaffen zu eliminieren, als im Golfkrieg zerstört wurden."7 Richard Butler selbst erklärte am 18. November 1998, bei Raketen und chemischen Waffen habe der Irak die Auflagen der Vereinten Nationen beinahe erfüllt, lediglich im Bereich bakteriologischer Waffen gebe es noch ein "schwarzes Loch".8 Von den vier Abrüstungsaufträgen waren also drei bereits vollständig oder nahezu erfüllt. Überdies hatte die Unscom die Voraussetzungen für eine permanente Überwachung des Landes geschaffen, insofern sie an "problematischen Orten" Hunderte von Beobachtungskameras installiert hatte.

 Bilder von einer gewissen Obszönität

HAT Präsident Saddam Hussein noch etwas zu verbergen? Zweifellos. Wird er versuchen, sein militärisches Potential teilweise wiederaufzubauen? Ganz sicher. Doch kann man überhaupt etwas anderes erwarten? Die regionale Situation, in der sich der Irak zu behaupten hat, ist durch extreme Spannungen geprägt: Israel verfügt über das gesamte Arsenal modernster Massenvernichtungswaffen - nukleare, chemische und bakteriologische - und auch über ausreichend Trägerraketen; der Iran besitzt Mittel- und Langstreckenraketen aus eigener Entwicklung und betreibt, nach Auskunft der USA, ein Atomwaffenprogramm; die Türkei hat wiederholt im nordirakischen Kurdengebiet militärisch interveniert; und auch der "feindliche Bruder" Syrien verfügt über ein erhebliches Arsenal von Chemiewaffen. Diese Bedrohungen kann keine irakische Regierung ignorieren, ob von Saddam Hussein geführt oder nicht (siehe den Artikel von Raad Alkadiri auf dieser Seite).

Dieser Hintergrund war auch allen klar, die an der Formulierung der Resolution 687 des UN-Sicherheitsrates9 vom 3. April 1991 beteiligt waren: Der Text hob zwar unter den Bedingungen für einen Waffenstillstand mit dem Irak "vor allem die Abrüstung" hervor, erinnerte jedoch auch daran, "welche Bedrohung von Frieden und Sicherheit durch alle diese Massenvernichtungswaffen auf der Region lastet" und "daß man unbedingt versuchen müsse, im Mittleren Osten eine Zone zu schaffen, die frei von solchen Waffen ist". Entsprechend nachdrücklich verwies der Text auf "das Ziel einer allgemeinen und ausgewogenen Kontrolle der Rüstung in der Region." Überdies bezeichnet Punkt 14 der Resolution die Abrüstungsmaßnahmen im Irak als "Teil einer Initiative mit dem Ziel, im Mittleren Osten eine Zone zu schaffen, die frei von Massenvernichtungsmitteln und Trägerraketen ist". Sind diese Ziele erreicht worden? Nein. Wenn die Nichtbeachtung der Resolution als "rechtlicher" Anlaß ausreicht, um den Irak zu bombardieren, dann ist zu fragen, wie es mit der Bestrafung derjenigen Unterzeichner aussieht, die ihren Teil der Verpflichtungen nicht erfüllt haben.

Es lag eine gewisse Obszönität in den Bildern auf dem geteilten CNN-Bildschirm: die Bomben auf Bagdad vor einem surrealen grünen Hintergrund und daneben, in einem eingeblendeten Fenster, die Sitzung des US-Repräsentantenhauses, auf der die Amtsenthebung des amerikanischen Präsidenten debattiert wurde. Auf der einen Seite die Liveschaltung zum Tod, präsentiert wie ein Computerspiel, auf der anderen Seite eine verunsicherte Demokratie, die sich mit den albernen Lügen ihres Präsidenten befaßt. In diesem Nebeneinander der Bilder schienen sich die schlimmsten Mutmaßungen über die Gründe des Angriffs auf den Irak zu bestätigen. Wollte Präsident Clinton mit ein paar Leichen im Irak ein paar Stimmen im Repräsentantenhaus gewinnen? James Baker, der frühere US-Außenminister, meinte sarkastisch, der Zeitpunkt dieses Angriffs habe "berechtigte Fragen" ausgelöst: "Ich hoffe mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, daß ich einfach nicht glauben kann, ein Präsident könnte die Unverfrorenheit besitzen, das Leben von amerikanischen Männern und Frauen in der Armee zu gefährden, nur um sich politisch abzusichern."10 Der bekannte Kolumnist William Pfaff äußerte sich wesentlich unverblümter: "Meiner Meinung nach hat Clinton mit der Wahl des Zeitpunkts für diese Entscheidung eine zynische Haltung bewiesen."11

Man mag das Datum der "Operation Wüstenfuchs" mit der amerikanischen Innenpolitik in Verbindung bringen, aber der Einsatz von Waffengewalt gegen den Irak war auf jeden Fall seit langem geplant. Dieser Einsatz ist integraler Bestandteil der US-amerikanischen Strategie militärischer und politischer Vorherrschaft im Nahen Osten und am Golf, die auf zwei Grundpfeilern ruht: dem ungehinderten Zugang zu billigem Öl und dem Bündnis mit Israel. In einem gemeinsam mit dem früheren US-Präsidenten George Bush verfaßten Buch verweist der ehemalige Sicherheitsberater Brent Scowcroft darauf, daß die Politik Washingtons während der Irakkrise von 1990/91 vor allem einer Maxime folgte: "Keine der regionalen Mächte darf die Kontrolle über die Mehrheit der Ölvorkommen erlangen."12

Obwohl der Weltmarktpreis für Rohöl derzeit sehr niedrig liegt, bleibt der Zugriff auf das "schwarze Gold" ein entscheidender politischer Faktor. Der Anteil der fünf Nahost-Länder Saudi-Arabien, Irak, Iran, Kuwait und Vereinigte Arabische Emirate an der Welterdölförderung, der von 36 Prozent in 1973 auf 16 Prozent in 1986 zurückgegangen war, kletterte 1996 wieder auf 27 Prozent und dürfte bis 2000 erneut die 30-Prozent-Schwelle überschreiten.13 Der Zugang zum billigen Öl dieser Region wird für die Wirtschaft der westlichen Industrieländer noch lange außerordentlich wichtig bleiben. Auch an der Allianz der USA mit Israel wird, aus innen- wie außenpolitischen Gründen, einstweilen kaum zu rütteln sein. Vor allem, weil man im Weißen Haus die israelische Einschätzung teilt, was die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten angeht - wobei man nur vergißt, daß Israel als erster Staat in der Region atomare Waffen entwickelt hat. Die entscheidenden Ziele der israelisch- amerikanischen Allianz (die auch durch die Meinungsverschiedenheiten in der Palästinafrage nicht in Frage gestellt sind) bleiben unverändert: Der Irak muß "in Schach gehalten" werden, und auch gegenüber dem Iran gilt (trotz leichter Entspannung in den Beziehungen zwischen Washington und Teheran) weiterhin die Politik der "Eindämmung".

In einer bewegenden Rede bei seinem Besuch in Gasa am 15. Dezember 1998 hat Präsident Clinton anerkannt, daß die Geschichte der Palästinenser von "Vertreibung und Enteignung" bestimmt war, und festgestellt, daß keines der gegnerischen Lager "ein Monopol auf das Leiden" beanspruchen könne. Daher dürften "die Ansprüche der einen Seite nicht zu Lasten der anderen gehen". Diese Rede hat Clinton große Sympathie in der arabischen Welt eingebracht. Natürlich kann man einwenden, daß seine Reise keine konkreten Resultate erbracht hat, daß Ministerpräsident Netanjahu nicht einmal bereit war, die äußerst beschränkten Forderungen des Abkommens von Wye Plantation umzusetzen, daß die USA keinen ernsthaften Druck auf ihren Verbündeten ausgeübt haben. Dennoch bleibt die Tatsache, daß zum ersten Mal ein Präsident der Vereinigten Staaten Verständnis für die Leiden der Palästinenser gezeigt hat und offenbar begreift, daß sie ein Recht auf ein eigenes Vaterland haben.

Mit dem Angriff auf den Irak dürfte Clinton allerdings den Kredit wieder verspielt haben, den ihm die Rede in Gasa eingebracht hat: In der gesamten arabischen Welt gab es eine Welle von Demonstrationen, wie man sie seit 1991 nicht mehr erlebt hatte. Von Marokko bis Syrien, vom Jemen bis Ägypten und vor allem in Palästina protestierten Zehntausende gegen die USA. Die regierungsnahe ägyptische Zeitung al-Ahram kritisierte die "Geiselnahme", die von Washington an den Vereinten Nationen verübt worden sei, und druckte einen Beitrag mit der Forderung, Clinton und Blair als "Kriegsverbrecher" anzuklagen.14

Natürlich kann Washington hoffen, daß sich diese Aufregung, wie bei früheren Gelegenheiten, bald legen wird. Etwa wie im August 1998, als die USA eine Pharma-Fabrik im Sudan bombardiert hatten (übrigens ist der Antrag der Regierung in Khartum, die Vereinten Nationen mögen eine Untersuchungskommission zu diesem Überfall einrichten, bis heute ohne Antwort geblieben). Bewußt oder unbewußt trägt die amerikanische Führung dazu bei, neue Gräben in einem "Krieg der Kulturen" aufzureißen, in dem stets die "Muslime" oder die "Araber" die Bösen, und die "Weißen" die Guten, die Vertreter der höheren moralischen Werte abgeben.

Genau besehen hat die "Operation Wüstenfuchs" wenig bis gar nichts gebracht. Die Vereinten Nationen haben sich gespalten gezeigt und an Einfluß verloren; die Beziehungen zwischen Washington und Moskau sind noch gespannter geworden, und die Duma hat die Ratifizierung des Start-II-Abkommens verschoben. Und in den muslimischen Ländern dürfte die öffentliche Meinung nach dem Schock dieses "Ramadan-Krieges" noch empfänglicher für die Botschaften der Islamisten werden.

Haben die Luftangriffe zumindest im Irak irgendeine Wirkung gezeigt? Entgegen allen selbstzufriedenen Presseerklärungen aus dem Pentagon scheint die Macht von Saddam Hussein nicht geschwächt, sondern eher gestärkt worden zu sein. Erstmals seit Beginn der Unscom- Mission senden die zur Langzeitüberwachung installierten Kameras keine Bilder mehr, und Bagdad hat die Unscom-Aktivitäten für beendet erklärt. Damit könnte die siebenjährige Arbeit der Abrüstungskommission vergeblich gewesen sein. Zudem darf man füglich bezweifeln, ob dem "irakischen Programm der Massenvernichtungswaffen" ernsthafter Schaden zugefügt wurde; denn welche geheimen Anlagen, die von der Unscom nicht entdeckt wurden, könnten die amerikanischen Waffen getroffen haben?

Aber Präsident Clinton bleibt unbelehrbar. Als er am 19. Dezember das Ende der "Operation Wüstenfuchs" bekanntgab, entwickelte er zugleich die Grundlinien seiner Strategie: Am Golf soll eine bedeutende Streitmacht stationiert bleiben, die jederzeit erneut zuschlagen kann; die Sanktionen - "mit der längsten Dauer in der Geschichte der Vereinten Nationen" - sollen fortgesetzt werden; die Inspektoren von Unscom und IAEO sollen zurückkehren, sofern der Irak sich zur Kooperation bereit erklärt - andernfalls soll jeder Ansatz zur Wiederaufnahme der Herstellung von Massenvernichtungswaffen mit Gewalt unterbunden werden. Und schließlich: Die USA arbeiten weiterhin auf den Sturz von Präsident Saddam Hussein hin. Im Herbst hat der Kongreß knapp 100 Millionen Dollar für ein entsprechendes Programm bewilligt, doch die Verantwortlichen müssen zugeben, daß es Jahre brauchen wird, um die Opposition neu zu formieren, die im Frühjahr 1991 zerschlagen wurde (ohne daß damals die amerikanische oder die internationale Öffentlichkeit besondere Notiz davon genommen hätte). Außerdem ist diese Opposition in eine Unzahl von Fraktionen gespalten.

Eines ist ganz sicher: Die Sanktionen werden nicht aufgehoben. Politische Kräfte in Frankreich oder in Rußland, die an die Aufhebung geglaubt haben - oder sie gar Präsident Saddam Hussein glaubhaft machen wollten - müssen sich von dieser Illusion verabschieden. Es gilt nach wie vor, was US-Regierungsvertreter seit Jahren landauf, landab verkünden. Außenministerin Madeleine Albright hat es bereits kurz nach ihrer Amtsübernahme, in einer Rede vom 26. März 1997, erneut klargestellt: "Wir teilen nicht die Haltung jener Staaten, die erklären, die Sanktionen müßten aufgehoben werden, sobald der Irak die Auflagen bezüglich der Massenvernichtungswaffen erfüllt hat. Wir halten unbeirrt an unserer Position fest, die lautet, daß der Irak seine Friedfertigkeit zu beweisen hat. (...) Und wir haben ausreichend Belege dafür, daß Saddam Hussein sich niemals friedfertig zeigen wird."

Seit dem 19. Dezember setzen die USA wieder auf diese sattsam bekannte Rhetorik und verkünden, die Überwachung der irakischen Grenzen müsse verstärkt werden, um jede illegale Einfuhr zu verhindern. Und auf die Appelle, die Lage der Bevölkerung zu bedenken, antwortet man mit lockerem Zynismus, die Ausweitung des Programms "Öl gegen Lebensmittel" nehme darauf doch gebührend Rücksicht.15 Zwei wichtige Aspekte werden dabei unterschlagen. Zum einen ist der Irak (aufgrund der aktuellen Ölpreise und des maroden Zustands seiner Ölindustrie) gar nicht in der Lage, das erlaubte Kontingent im Wert von 5,2 Milliarden Dollar pro Halbjahr zu exportieren - in den vergangenen sechs Monaten erreichte die Ausfuhr nur 3,15 Milliarden. Zum anderen kann das Land, das praktisch von allen Importverbindungen abgeschnitten ist, ohne Ersatzteilversorgung seine Infrastruktur (Trinkwasserleitungen, Stromnetz, Straßen und Brücken usw.) nicht mehr instand halten - mit tragischen Folgen für die Bevölkerung.

Seit Ende Dezember diskutiert man im Sicherheitsrat erneut über künftige Szenarien der Entwicklung, aber dabei dürfte nicht besonders viel herauskommen: Die USA sind zu keinen Kompromissen bereit, China und Rußland haben bekanntlich nichts zu melden, und Frankreich hält sich bedeckt. Wie man sich in Paris während der jüngsten Krise herauszuwinden suchte, machte in geradezu surrealer Weise eine Erklärung des Ministerpräsidenten deutlich: Lionel Jospin bezeichnete die amerikanischen Angriffe als ebenso "unvermeidlich" wie "notwendig". Auch behauptete die französische Regierung, die nicht bereit war, die amerikanische Offensive und die Brüskierung der Vereinten Nationen zu verurteilen, Bagdad trage "die Hauptschuld an dieser Krise". Demgegenüber kann man unter vier Augen von französischen Diplomaten durchaus Kritik am Verhalten der Vereinigten Staaten vernehmen. Wobei das Schweigen Frankreichs damit begründet wird, man dürfe den Vorhaltungen aus den USA - wegen französischer Wankelmütigkeit, merkantilistischer Tendenzen und billigem Antiamerikanismus - keine Angriffsfläche bieten und wolle sich nicht politisch isolieren.

Nach den Angriffen auf den Irak besitzt Frankreich immer noch die Möglichkeit, auf die politischen Entscheidungen Einfluß zu nehmen. Weil Tony Blair sich ins Kielwasser der USA begeben hat, kam wieder einmal keine gemeinsame europäische Haltung zustande16, aber ob diese britische "Demutshaltung" Frankreich zu einer aktiveren Rolle veranlassen wird, darf bezweifelt werden.

Schon anläßlich des Golfkriegs von 1991 hatte Präsident Mitterrand erklärt, daß Frankreich sich durch sein militärisches Engagement einen Platz am Verhandlungstisch sichern müsse. Allerdings hat Paris weder bei den israelisch-arabischen Verhandlungen von Madrid, die am 30. Oktober 1991 eröffnet wurden, noch bei der Bestimmung einer neuen regionalen Ordnung am Golf eine nennenswerte Rolle gespielt. Israel, die arabischen Staaten und die Palästinenser hatten begriffen, daß man besser daran tut, sich an die maßgebliche Macht zu halten.

Schon die ersten aktuellen Auseinandersetzungen im Sicherheitsrat machten klar, daß die französischen Vorschläge kaum Gehör finden würden. Washington hielt an Richard Butler fest und wollte sich weder auf eine Umgestaltung der Unscom noch auf ein "neues Verfahren" der Abrüstungskontrolle einlassen - es sei denn, man könnte daraus das Recht ableiten, den Irak zu bombardieren. Die Idee von Staatspräsident Chirac, das Ölembargo aufzuheben, aber die übrigen Sanktionen in Kraft zu lassen, war demgegenüber nur als diplomatischer Rückzug zu begreifen: Sie hätte für den Irak nicht nur keine Erleichterung der Einfuhr von Gütern bedeutet, die das Land für den Wiederaufbau dringend benötigt, sie sah überdies "eine äußerst strenge Kontrolle der Verwendung der irakischen Einnahmen aus dem Ölverkauf" vor.17 Anders gesagt: Unter Mißachtung der UN-Resolutionen würde die Überwachung des Irak auch dann noch fortgeführt, wenn Bagdad alle Auflagen erfüllt hätte. Diesen Status kann man eigentlich nur mit der Mandatspolitik der Kolonialmächte in der Zeit zwischen den Weltkriegen vergleichen.

Die Politik des Westens ist offenbar so sehr auf Saddam Hussein fixiert, daß sie die wirklich ernsten Gefahren übersieht: Die Region droht in Kampfgebiete zu zerfallen. Hat man aus den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien nichts gelernt? Keiner der Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg im Nahen Osten entstanden sind, hat innere Stabilität erlangt; überall gibt es soziale, religiöse und ethnische Spannungen, die durch die Wirtschaftskrise und die autoritären Formen der politischen Herrschaft noch verstärkt werden. Indem man mit allen Mitteln den Sturz von Saddam Hussein betreibt, riskiert man den Zerfall des Irak als staatliche Einheit - womit das Land zum Schauplatz von Auseinandersetzungen würde, in die nach Lage der Dinge die Türkei, der Iran, Saudi-Arabien und Israel verwickelt wären. Wie das aussehen könnte, hat sich bereits in Kurdistan gezeigt. Damit würde auch der 1991 begonnene Kreuzzug am Golf sein Ende finden: Die Verheißung einer lichten Zukunft könnte sich in den Albtraum eines endlosen Krieges verwandeln.

dt. Edgar Peinelt

1 International Herald Tribune vom 19./20. Dezember 1998.

2 Zu Butlers Haltung siehe vor allem den Artikel von Afsané Bassir-Pour in Le Monde vom 18. Dezember 1998 sowie das Dossier in Libération vom gleichen Tag. Interessant ist auch der Artikel "Iraq Attack With a Little Help From the Butler" in South News (Australien), nachgedruckt in MSA News vom 22. Dezember 1998 (siehe http://msanews.mynet.net).

3 The New York Post vom 17. Dezember 1998. Was die Enthüllungen bezüglich Israels angeht, siehe Ritters Interview mit Ha'aretz, nachgedruckt im Mideast Mirror (London) vom 29. September 1998.

4 International Herald Tribune vom 19./20. Dezember 1998.

5 The Washington Times vom 17. Dezember 1998.

6 Libération vom 18. Dezember 1998.

7 Le Figaro vom 18. Dezember 1998.

8 Siehe Anthony H. Cordesman, "The Iraq Crisis: A Chronology of the War of Sanctions", Center for Strategic and International Studies (Washington), 2. Dezember 1998 (siehe www.csis.org.

9 Der Wortlaut dieser Resolution ist wiedergegeben in "Guerre du Golfe. Le dossier d'une crise internationale, 1991-1992", Paris (La Documentation française) 1993.

10 International Herald Tribune vom 19./20. Dezember 1998.

11 Ebd.

12 George Bush, Brent Scowcroft, "A World Transformed", New York (Alfred A. Knopf) 1998.

13 C. J. Campbell, "Running out of Gas", The National Interest, Nr. 51, (Washington) Frühjahr 1998.

14 Zit. n. Mideast Mirror (London) vom 21. Dezember 1998.

15 Die 1995 vom Sicherheitsrat beschlossene und seit 1996 einzuhaltende Resolution 986 sieht vor, daß der Irak pro Halbjahr Öl im Wert von 2 Milliarden Dollar verkaufen darf. Von diesem Erlös, der auf ein von der UN kontrolliertes Konto eingezahlt wird, kann Bagdad Nahrungsmittel und Medikamente kaufen. Etwa ein Drittel der Summe wird verwendet, um die Arbeit der Unscom zu finanzieren und die Opfer der irakischen Invasion in Kuwait zu entschädigen. Seit Februar 1998 gilt die Resolution 1153, die dem Irak erlaubt, innerhalb von sechs Monaten Öl im Wert von 5,2 Milliarden Dollar zu exportieren; allerdings ist die irakische Ölindustrie in so schlechtem Zustand, daß sie dieses Volumen gar nicht erreicht. Man hat dem Irak zwar gestattet, technische Einrichtungen im Wert von 300 Millionen Dollar zur Steigerung der Produktion einzuführen, aber die Lieferung der Teile geht sehr langsam vonstatten. Jedes Stück muß einzeln vom UN-Sanktionskomitee freigegeben werden. Zudem wurde im Dezember die Ölraffinerie von Basra bombardiert. Thomas Pickering, Unterstaatssekretär im US-Außenministerium, deutet zwar die Möglichkeit an, dem Irak eine noch höhere Exportquote zuzubilligen, aber aus seinen Antworten auf die Fragen von Journalisten wird deutlich, daß er über die Unfähigkeit des Landes zur Ausnutzung der jetzigen Quoten gar nicht informiert ist (Pressekonferenz im Außenministerium am 22. Dezember 1998).

16 Siehe Claire Tréan, "Pourqoui la France n'ose pas afficher ses divergences avec les États-Unis", Le Monde vom 21. Dezember 1998.

17 Dieser Vorschlag entspricht eigentlich der Anwendung des Programms "Öl gegen Nahrungsmittel", wie es die USA verstehen, denn wenn der Irak, vermutlich über viele Jahre, keine substantiellen Investitionen tätigen kann, wird er auch die ihm zugestandenen Förderquoten nicht ausschöpfen können.

Le Monde diplomatique Nr. 5736 vom 15.1.1999 Seite 1,18 Le Monde diplomatique 669 Zeilen
Dokumentation Alain Gresh
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