[home]   [Inhaltsverzeichnis]

[nächstes Kapitel]

Druckversion (PDF 563 KB)

 

Im Treibsand Iraks
Von „Auftrag erfüllt” zur unerfüllbaren Mission?

Ein Überblick über die Besatzungspolitik der USA und den Widerstand dagegen

Am 28. Juni 2004 endete offiziell die Besatzung des Irak. Eine Interimsregierung wurde eingesetzt und ein Übergangsprozess definiert, der innerhalb von 18 Monaten zu einer gewählten, auf einer neuen Verfassung basierenden Regierung führen soll. Mit Resolution 1546 akzeptierte der UN-Sicherheitsrat dieses Vorgehen. Damit scheinen die USA auf dem Weg des Erfolges und die Ablösung des in Ungnade gefallenen Regimes Saddam Husseins durch ein US-freundliches Regime beinahe abgeschlossen. Doch die Realität sieht anders aus. Die US-Strategen sahen sich seit Beginn der Besatzung immer wieder gezwungen, ihre ehrgeizigen Pläne durch taktische Rückzüge an die widerspenstige irakische Realität anzupassen. Auch der nun definierte Übergangsprozess entsprach nicht den ursprünglichen Plänen der US-Regierung, sondern war ihr durch die Verhältnisse aufgezwungen worden. Sein Erfolg ist äußerst fraglich. Die USA werden auch weiterhin die Kontrolle über das Land nur unter Einsatz von brutaler Repression und militärischer Gewalt gegen einen weiter wachsenden Widerstand aufrechterhalten können. Die Entwicklung geht nicht in Richtung Souveränität und Demokratie, sondern hin zu einer US-hörigen koloniale Diktatur, die erst dann enden wird, wenn die USA zum Rückzug aus dem Land gezwungen werden. 

Mission erfüllt? – Hilfsorganisationen ziehen eine bittere Bilanz

Am 1. Mai 2003 hatte Präsident George W. Bush seinen großen Auftritt. Er landete vor laufenden Kameras bei untergehender Sonne auf dem Flugzeugträger USS Abraham Lincoln und erklärte die Kampfhandlungen im Irak für weitgehend beendet. „Mission accomplished – Mission erfüllt” stand auf dem riesigen Transparent im Hintergrund. Ein Jahr später fielen monatlich mehr US-Soldaten im Kampf als während der gesamten Invasion. Immer offener wurde auch in den USA über eine drohende strategische Niederlage im Zweistromland gesprochen.

Obwohl der Präsident in seiner Rede zum ersten Jahrestag des Kriegsbeginns einräumen musste, „auf irakischem Boden vor ernsthaften und andauernden Herausforderungen” zu stehen, verteidigte er sein Unternehmen als Erfolg. Für den Irak sei der Einmarsch der Koalitionstruppen ein Tag der Befreiung gewesen, so US- Präsident Bush und auch für den Nahen Osten ein Wendepunkt, da Männer und Frauen dort, „wenn sie auf den Irak schauen, einen Eindruck davon bekommen, wie das Leben in einem freien Land aussehen kann.”[1]

Unabhängige Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, zogen eine wesentlich bitterere Bilanz. „Die Not der einfachen Iraker ist größer denn je” meldete die Hilfsorganisation Caritas International am 18. März 2004 in einer Presseinformation.[2] Sie bestätigte die Untersuchungsergebnisse einer Studie von MedAct, der britischen Sektion der Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), die bereits im November festgestellt hatte, dass die Lebensbedingungen sich in allen Bereichen gegenüber der Vorkriegszeit verschlechtert hatten. Und diese waren bekanntlich aufgrund des Embargos bereits katastrophal gewesen.[3]

In der weltweiten Lebensqualitäts-Studie der international renommierten Unternehmensberatungsfirma Mercer Human Resource Consulting war Bagdad auf den letzten Platz gefallen. Nach der, auf Basis verschiedener sozialer und wirtschaftlicher Indikatoren vorgenommen, regelmäßigen Bewertung der Lebensqualität in den Großstädten der Welt, fiel Bagdad von 30,5 Punkte im Jahr 2003 auf 14,5 Punkte und damit hinter Bangui in der Zentralafrikanischen Republik (28,5), Brazzaville und Pointe Noire im Kongo (29,5 bzw. 33,5). Verantwortlich hierfür wurde vor allem fehlende Sicherheit und Ordnung im Alltag sowie die miserable Infrastruktur gemacht.[4]

„Sterben wegen Vernachlässigung” überschrieb der britische Independent zehn Monate nach Bushs triumphalen Auftritt auf dem Flugzeugträger, einen Bericht über den schockierenden Zustand der Kinderkrankenhäuser in Bagdad. Die vorgefunden sanitären Bedingungen waren verheerend: die Krankenstationen waren verschmutzt, Dreckwasser tropfte aus Abwasserrohren über den Bettchen der Frühgeborenen. Es fehlten nicht nur Medikamente und Verbandsmaterial, sondern auch Desinfektionsmittel, oft sogar einfache Seife.[5] Zu den mangelnden Behandlungsmöglichkeiten kommen dadurch Epidemien und gegenseitige Ansteckungen. Hunderte sterben monatlich aufgrund dieser Bedingungen, für die anderen wird der Klinikaufenthalt zur endlosen Qual.

Auch Amnesty International (AI) brachte zum Jahrestag einen Bericht über das von Bush gepriesene „Leben in einem freien Land” heraus. Die Menschenrechtsorganisation überschrieb ihn mit: „Ein Jahr danach – die Menschrechtssituation ist weiterhin entsetzlich.” Sie kritisiert u.a. die unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt, willkürliche Gefangennahmen und fürchterliche Haftbedingungen bis hin zur Folter. Jeden Tag, so der Bericht, sähen sich die Iraker der Bedrohung ihres Lebens ausgesetzt, der ständigen Gewalt durch die Besatzungsmacht und bewaffnete Gruppen sowie Gewaltkriminalität, insbesondere gegen Frauen. Es werden zwar auch einige positive Entwicklungen genannt, wie die größere Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die sich in der Entstehung Dutzender Parteien und NGOs und mehr als 80 Zeitungen ausdrückt. Doch gelten diese Freiheiten, wie das häufige restriktive Vorgehen gegen unbequeme Medien zeigt, nur bedingt. Vor allem aber wiege dies wenig, so AI, angesichts der mangelnden Sicherheit und den Konsequenzen einer zerstörten Infrastruktur.

Schon lange berichteten Iraker, AI und andere Menschenrechtsorganisationen über Folter in den vom britischen und US-amerikanischen Militär geführten Lagern und Gefängnissen. Sie wurden lange Zeit von den Medien geflissentlich ignoriert. Erst als in größerem Maße Bilder von Folter und Misshandlungen an die Öffentlichkeit gelangten, wurden die Zustände im Irak zu einem internationalen Skandal der die Glaubwürdigkeit der Besatzungspolitik ernsthaft erschütterte.

Eine ähnlich breite Aufklärung steht bei anderen Verbrechen der Besatzungsmächte noch aus. Das US-amerikanische Center for Economic and Social Rigths (CESR) legte im Juni 2004 erstmals eine umfassende Zusammenfassung der vielfältigen Verstöße gegen internationales Recht durch die Besatzungsmächte vor. In seinem Bericht „Jenseits der Folter – Verstöße der USA gegen das Besatzungsrecht” weist CESR explizit auf ihren systematischen Charakter hin und unterteilt sie in zehn Kategorien: von Verletzungen des humanitären Völkerrechts, verbindlicher UN-Konventionen, der UN-Charta bis hin zur Missachtung der allgemeinen Menschenrechte. Hierzu zählen die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts, die Verweigerung des Schutzes des Rechts auf Leben und Gesundheit, die ungenügende Bereitstellung lebensnotwendiger Dienste, Nahrung und Bildung, die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die Anwendung von Kollektivstrafen, die willkürlichen Festnahmen, Demütigungen und Folter und schließlich auch die grundlegenden Änderungen der ökonomischen Struktur des Landes, sowie die Vernichtung von Arbeitsplätzen und Erwerbsmöglichkeiten.[6]

Trotz dieser Fakten, wird die Besatzung auch von den Staaten nicht in Frage gestellt, die den Irak-Krieg als ungerechtfertig kritisiert hatten. Kritisiert wird im Wesentlichen nur die miserable Durchführung  und das angebliche „Fehlen konkreter Pläne” der Bush-Administration für die Nachkriegszeit.

Die ursprünglichen Nachkriegspläne Washingtons

Auflösung des irakischen Staates

Der Eindruck, die US-Truppen wären ohne ausgearbeitete Pläne für die Zeit danach einmarschiert, drängt sich zwar auf, ist aber nicht richtig. Wenn diese auch offensichtlich sehr hemdsärmelig und ungeschickt umgesetzt wurden, so waren sie doch von langer Hand vorbereitet worden. Die aktuelle Misere im Irak ist überwiegend die logische Konsequenz der im Vorfeld ausgearbeiteten US-Strategie für den Irak, die zusammengefasst folgendes vorsah: (a) völlige Auflösung des alten Staates und Umwandlung in einen föderal gegliederten, entmilitarisierten Bundesstaat mit einer möglichst schwachen Zentralregierung, (b) dauerhafte Stationierung einer großen Streitmacht im Irak und damit im Zentrum der arabischen Welt, (c) Umwandlung der irakischen Wirtschaft in ein radikal neoliberales Modell einer freien Marktwirtschaft und schließlich (d) Etablierung einer pro-amerikanischen Regierung unter Vormundschaft der USA.

Es gehe bei den Nachkriegsplänen nicht nur um „selektive Reformen im Irak, sondern praktisch um eine Neudefinition der Nation – ökonomisch, sozial und politisch,“, so Carl Conetta vom US-amerikanischen Project on Defense Alternatives [7] Irak sollte nach dem Willen der Bush-Administration als Beispiel und vor allem als Hebel für ihr Projekt „Greater Middle East Initiative“ dienen, das sich die Transformation der arabischen und islamischen Staaten von Nordafrika bis zum kaspischen Meer in bürgerlich-demokratische, neoliberale Marktwirtschaften zum Ziel setzt.

Das unmittelbare Kriegsziel war der Sturz der irakischen Regierung gewesen. Dabei ging es aber nicht um eine bloße Übernahme der Macht. Im Stil einer klassischen Eroberung sollte die alte Staatsführung physisch ausgeschaltet und der bestehende Staat als solcher weitgehend aufgelöst werden. In diesem Zusammenhang müssen die Plünderungen und systematische Brandschatzungen nach dem Zusammenbruch des alten Regimes gesehen werden, die von den Invasoren nicht behindert, sondern vielen Berichten zufolge offenbar gezielt gefördert wurden. Nur das Ölministerium und  die Anlagen der irakischen Ölindustrie wurden geschützt, während ein großer Teil des kulturellen Erbes und die meisten staatlichen Einrichtungen den Zerstörungen zum Opfer fielen.[8]

Diese systematischen Zerstörungen machten den Weg frei für eine völlige Neuordnung des Irak gemäß US-amerikanischen Vorstellungen und Interessen. Armee und Sicherheitskräfte wurden aufgelöst und die meisten Funktionäre aus den staatlichen Stellen entlassen. Über eine viertel Million Iraker wurden so erwerbslos.[9] Da keine Alternativen bereit standen, brach mit der vollständigen Auflösung der staatlichen Institutionen völlig vorhersehbar auch jegliche gesellschaftliche Ordnung zusammen. Wurden die Sicherheitsdienste zuvor auch gefürchtet und gehasst, so war die Armee stets weithin respektiert gewesen und die Polizei professionell und imstande die allgemeine Kriminalität unter Kontrolle zu halten.

„Demokratiepromotion”

Gestützt auf ihre irakischen Verbündeten wollte Washington mit Hilfe von Programmen zur „Demokratieförderung” aus den Trümmern des alten Staates eine neue irakische Gesellschaft aufbauen. Solche Programme, wie sie bereits in Ländern wie Jugoslawien oder Haiti erprobt wurden, gehören zur allgemeinen außenpolitischen Strategie der USA für die Erweiterung ihrer weltweiten Hegemonie.[10]

Speziell für den Irak sahen die Pläne zum einen vor, eine neoliberal orientierte Führungsschicht zu etablieren, die Washingtons Ziel, den Irak auf abhängige Weise in das globale kapitalistische System zu integrieren, aus eigenem wirtschaftlichen Interesse teilt und den Staat unter der Vormundschaft der USA verwalten kann. Zweitens sollten die Kräfte isoliert werden, die sich den US-Plänen aktiv widersetzen und drittens eine politisch-ideologische Hegemonie der pro-westlichen Eliten über die breite Masse der Bevölkerung etabliert werden, um zu verhindern, dass sie sich unabhängig politisiert und organisiert.

Den Kern einer neuen pro-amerikanischen Mittelschicht sollten die Teile der Bevölkerung bilden, die rasch und unmittelbar von den neuen Verhältnissen profitieren: Dazu zählen irakische Unternehmer, die für US-Firmen arbeiten dürfen, aber auch Arbeiter und Angestellte in relativ gut bezahlten Stellungen bei der Besatzungsmacht oder ausländischen Unternehmen.

Hinzu kommt auch eine große Zahl von Kriegsgewinnlern: Neben risikofreudigen Händlern aus den Nachbarländern machen vor allem Exiliraker mit Kapital und Beziehungen auch unter den aktuellen Verhältnissen glänzende Geschäfte. Würde sich die Lage beruhigen, könnten sich einer bedeutenderen Zahl irakischer Unternehmer aus dem In- und Ausland profitable Möglichkeiten erschließen. Kein Zufall also, dass vor allem exilirakische Geschäftsleute sich sehr gut mit den wirtschaftlichen Plänen der USA und deren fortgesetzten militärische Präsenz im Lande anfreunden können, während sie die irakische Widerstandsbewegung hingegen als unmittelbare Bedrohung ihrer Interessen im Irak ansehen.

Weitere Ansatzpunkte bestehen darin, einflussreiche lokale Führungspersönlichkeiten zur Mitarbeit zu bewegen. Es gehe, wie Fareed Zakaria, Redakteur der internationalen Ausgabe der US-amerikanischen Wochenzeitung Newsweek es formulierte, darum, Stammesführer „zu bestechen, zu umschmeicheln und an der Führung zu beteiligen.“ Auch niederrangige baathistische und sonstige regionale Führer sollten eifrig umworben werden, Geld sollte schleunigst in irakische Hände zu fließen beginnen.[11]

Sofort nach der Invasion wurde mit dem Aufbau eines Netzes von Organisationen begonnen, die subtil auf die Bevölkerung einwirken können: politische Parteien, Gewerkschaften, Berufsvereinigungen, Medienprojekte, Studentengruppen, Bauernverbände usw.. Für diese Arbeit stehen den USA eine große Zahl erfahrener staatlicher Institutionen, wie die US-Agentur für internationale Entwicklung (USAID) und nichtstaatlicher Organisationen, wie die National Endowment for Democracy (NED), sowie eine Vielzahl von Gruppen in Drittländern zur Verfügung.[12] Der US-amerikanische Gewerkschaftsdachverband „American Federation of Labor” (AFL-CIO) beispielsweise erhielt 15 Millionen US-Dollar, um eine pro-amerikanische Gewerkschaft im Irak zu gründen, die das Aufkommen unabhängiger Organisationen von Arbeitern und Arbeitslosen verhindern soll.[13] Insgesamt betrug 2003 das Budget für diese Programme 458 Millionen US-Dollar.

Parallel zu diesen Bemühungen, die vom Außenministeriums initiiert werden, betreibt das Pentagon seine eigenen Programme, wie das mit 200 Millionen US-Dollar gesponserte „Irakische Medien Netzwerk”, das mehrere Propagandasender und die Fernsehstation „Arabija” umfasst. Diese Medienarbeit wird von einem Spezialstab für psychologische Kriegsführung betreut. Einfluss soll im übrigen nicht nur auf die öffentliche Meinung im Irak genommen werden, sondern auch in anderen wichtigen Ländern, wie Deutschland oder Frankreich.

Diskrete Hilfe bei der Überzeugungsarbeit im Irak gibt es auch aus Berlin. Zu Beginn des Sommers 2004 ging im Irak ein vom Auswärtigen Amt finanziertes UKW-Programm auf Sendung. Es richtet sich an die irakischen Eliten, „Akademiker, Existenzgründer oder Kulturschaffende” und soll ihnen die Vorzüge westlicher Demokratien und Wirtschaftsweise vermitteln. Projektträger der Medienarbeit im Irak ist die sozialdemokratische Friedrich-Ebert-Stiftung. Erstellt werden die Sendungen vom Rundfunk Berlin-Brandenburg, die Sendetechnik in Bagdad untersteht der US-amerikanischen Besatzungsmacht.[14]

Irak im Ausverkauf – ein „kapitalistischer Traum”

Am detailliertesten waren vor dem Krieg die Pläne zur ökonomischen Umgestaltung des Iraks ausgearbeitet worden. In einem hundertseitigen Papier des US State Department, mit dem Titel „Wandlung der irakischen Ökonomie vom Wiederaufbau zu nachhaltigem Wachstum” wird u.a. exakt beschrieben, wie der Banksektor übernommen werden soll oder wie die irakischen Gesetze zu ändern sind, inklusive genauer Formulierungen der zukünftigen Steuergesetze und Copyright-Bestim­mun­gen. Sogar an den Entwurf eines Antrags auf Iraks Mitgliedschaft in der WTO wurde gedacht.[15] Es geht der US-Administration und den hinter ihr stehenden Konzernen nicht nur um die Aneignung der Ölressourcen, sondern auch um Gesund­heitsdienste, Wasser, Elektrizität, Transport, Erziehung und Telekommunikation. Alle staatlichen Betriebe und Einrichtungen, einschließlich die der Grundversorgung, sollen privatisiert, d.h. an ausländische Konzerne übergeben werden.[16]

Vieles aus dem Papier des State Departments wurde bald durch Dutzende von Erlassen der Besatzungsbehörde Gesetz.[17] Ein „kapitalistischer Traum” schwärmte das britische Wirtschaftsblatt The Economist im September 2003 über die von der Besatzungsbehörde aufgebauten neuen Wirtschaftsstrukturen,[18]  nachdem auf diese Weise das irakische Wirtschaftssystem von Grund auf umgekrempelt worden war: Steuern wurden 2003 nicht mehr erhoben und ab 2004 auf maximal 15 Prozent begrenzt, die Einfuhrzölle wurden völlig abgeschafft und der Geld- und Finanzmarkt umgemodelt. Nachdem drei Jahrzehnte lang die wichtigsten wirtschaftlichen Bereiche nationalisiert waren, wurde das Land nun in eine einzige große Freihandelszone verwandelt. [19] Den „Wiederaufbau” des Wassersektors hat sich sofort die Bechtel Corporation, eines der weltweit größten Wasserprivatisierungsunternehmen mit Sitz in San Francisco unter den Nagel gerissen.[20]

Die einschneidernste Maßnahme war die faktische Aufgabe jeglicher Regulierung ausländischer Investitionen. Mit dem Erlass Nr. 39 vom 19. September 2003 wurden auf einen Schlag alle bisherigen Investitionsgesetze außer Kraft gesetzt und die gesamte Wirtschaft des Landes, mit Ausnahme des Rohstoffsektors der weiterhin einem US-geführten Fonds unterstellt blieb, für ausländische Unternehmen geöffnet. Wer ein Geschäft im Land etablieren will, braucht seither weder behördliche Genehmigungen noch örtliche Partner. Auch entfällt die Verpflichtung, Gewinne im Land zu reinvestieren. Der Erlass, der weder Kontrollmechanismen noch eine Aufsichtsbehörde für ausländische Investitionen vorsieht, gewährt ausländischen Banken und Konzernen Freiheiten, wie sie in kaum einem anderen Land anzutreffen sind. Nahezu alle einheimischen Wirtschaftsexperten, wie der Chef der Commercial Bank of Iraq, Mohammad Dragh, lehnten das gesamte Programm vehement ab. Doch die Iraker wurden nicht gefragt. [21]

Der „Erlass 39” ließ kaum Wünsche in den Chefetagen der Multis offen. Moniert wurden allenfalls Details, wie die Bestimmung, dass die „Buchhaltung der irakischen Unternehmen in arabischer Sprache abzufassen ist.”[22] Groß war daher zunächst die Euphorie in diesen Kreisen. „Von Aufträgen in kolossaler Höhe war die Rede, vom gigantischen Wirtschaftspotenzial des zweitgrößten Erdölproduzenten der Welt. Man sprach von Jahrhundertverträgen, von einem neuen Goldrausch, einem Eldorado des freien Unternehmertums. Der Irak werde sich zum ersten ‚Tiger’ der islamischen Welt entwickeln und den übrigen muslimischen Ländern mit leuchtendem Beispiel vorangehen.”[23]

Völkerrechtlich gesehen, stellt sich die Besatzungsbehörde mit ihren Maßnahmen allerdings außerhalb des internationalen Rechts. Dieses schreibt Besatzungsmächten verbindlich vor, die vorhandenen Gesetze und gesellschaftlichen Strukturen zu respektieren und die Wirtschaft treuhändlerisch zu verwalten, bis eine neue souveräne Regierung im Amt ist. [24]

Das ist in Washington und London durchaus bekannt. So hatte kein geringerer als der britische Generalstaatsanwalt Lord Goldsmith am 26. März 2003 seinen Premierminister ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die „Verordnung größerer Strukturreformen gegen internationales Recht verstößt.“ Er verwies auf Artikel 43 der Haager Landkriegsordnung, wonach die Besatzungsmächte, „alle von ihm abhängenden Vorkehrungen zu treffen” haben, „um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze.”[25]

Der Multi-Milliardenraub

Innerhalb eines Jahres wurden von der Besatzungsbehörde viele Milliarden Dollar für „Wiederaufbauprogramme” im Irak ausgegeben. In erster Linie handelte es sich dabei um irakisches Geld aus dem „Entwicklungsfonds für den Irak“ (Development Fund for Iraq, DFI), der im Mai 2003 geschaffen und von der UN-Resolution 1483 abgesegnet worden war. In diesen Fonds flossen u.a. die Guthaben aus dem Oil-for-Food-Programm (8,1 Mrd. US-Dollar), das beschlagnahmte irakische Vermögen und die Einnahmen aus Ölverkäufen – bis Juni 2004 insgesamt mehr als 20 Milliarden US-Dollar.[26]

Diese riesigen Summen sollten an sich in „transparenter Weise“ zur „Deckung des humanitären Bedarfs“ der irakischen Bevölkerung und für die „Instandsetzung der Infrastruktur“ ausgegeben werden, kontrolliert durch einen „Internationalen Überwachungsbeirat“ (International Advisory and Monitoring Board, IAMB), bestehend aus Vertretern der UNO, der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und dem Arabischen Fonds für Ökonomische und Soziale Entwicklung. Der Chef der Besatzungsbehörde im Irak, Paul Bremer, schaffte es aber, das Zusammentreten dieses Rates monatelang zu verzögern, so dass dieser erst im März 2004 einen ersten Blick in die Bücher werfen konnte und auch da nur summarische Informationen erhielt.[27]

In der Praxis konnte die Besatzungsbehörde nach Gutdünken über den Fonds verfügen und mit seiner Hilfe auch die Restriktionen, die der US-Kongress mit den von ihm bewilligten Geldern verknüpfte, umgehen – der Fonds wurde zur gigantischen Schwarzgeldkasse des US-Statthalters. Obwohl der Kongress für die 18,7 Milliarden US-Dollar aus dem US-Haushalt eine Vergabe von größeren Aufträgen ohne Ausschreibung strikt untersagt hatte und die Verwendung der Gelder streng kontrolliert wurde, konnten so Bechtel, Halliburton und die anderen US-Konzerne, die eng mit der US-Administration verbunden sind, weiterhin direkt bedient werden.[28] Milliarden verschwanden so in ihren Taschen ohne sichtbaren Nutzen für die Iraker.

Der lasche Umgang mit dem irakischen Geld wurde Mitte Juli auch vom oben genannten Überwachungsbeirat IAMB beanstandet, nachdem er glücklich die ersten Prüfungen durchführen konnte. Seinem Bericht zufolge konnte die Besatzungsbehörde (Coalition Provisional Authority, CPA) zum Zeitpunkt ihrer Auflösung keine genaue Rechenschaft über die bis dahin aus dem Entwicklungsfonds ausgegebenen 11,3 Milliarden US-Dollar ablegen. Für den gesamten Zeitraum ihrer Tätigkeit fehlten die Belege oder wurden den internationalen Rechnungsprüfern vorenthalten. Auch über die Fördermengen und Umsätze beim Erdöl fanden die Prüfer keine detaillierten und verlässlichen Zahlen in den Büchern.[29] Die britische Hilfsorganisation „Christian Aid“ vermutet aufgrund eigener Recherchen, dass die Einnahmen um bis zu 30% höher liegen und somit weitere Milliarden in dunkle Kanäle geflossen sein könnten.[30]

Irakische Firmen standen von Anfang an bereit, für ein Bruchteil der von US-Konzernen geforderten Auftragssummen, die Schäden zu beheben. Nach dem Krieg von 1991 hatten sie es trotz Embargo in wenigen Monaten geschafft. Sie haben das Know How und das Interesse und wären sie zum Zuge gekommen, hätte dies Hunderttausenden wieder zu Arbeit und Einkommen verholfen.

Bechtel beispielsweise hat es dagegen – trotz üppiger Entlohnung – in 14 Monaten nicht geschafft, auftragsgemäß die Hauptklärwerke Bagdads zu reparieren. Gemäß einem eigenen Bericht der US-Agentur für internationale Entwicklung USAID, ein Jahr nach der Invasion, sind „Bagdads drei Abwasserklärwerke, die zusammen etwa dreiviertel der Abwasserbehandlungskapazität des Landes umfassen, außer Betrieb, so dass das Abwasser von 3,8 Millionen Menschen ungeklärt direkt in den Tigris fließt.“ [31] Da ein Teil der Bevölkerung ihr Trinkwasser aufgrund mangelnder Trinkwasserversorgung immer noch aus dem Fluss beziehen muss, breiten sich nun Krankheiten wie Hepatitis, Cholera und Diarrhöe immer stärker aus, mit tödlichen Folgen vor allem für Kinder.[32]

Bei der Elektrizitätsversorgung ist die Situation ähnlich: Bechtel und Halliburton sind über die Bestandsaufnahme der durchzuführenden Reparaturen und der angestrebten Modernisierung nie hinausgekommen. Bagdads größtes Kraftwerk, Al Daura, das ein Drittel der Stadt mit Strom versorgen könnte, produziert daher weiterhin nur 10% seiner Kapazität. Helmut Doll, der deutsche Geschäftsführer von Babcok Power, einem Subauftragnehmer von Siemens, erzählte Newsweek, dass Bechtels Leute nur einmal gekommen seien, um Fotos zu machen. Seither habe sie keiner mehr gesehen. Mohsen Hassan, technischer Direktor für Energiegewinnung im Ministerium für Elektrizität, beteuert, dass die irakischen Ingenieure, die die Anlagen dreizehn Jahre unter Embargo in Betrieb gehalten haben, alles reparieren könnten. Sie benötigten nur etwas Geld und Ersatzteile. Von Bechtel bekamen sie bisher nichts außer Versprechungen.[33]

Diese ganze Misswirtschaft auf dem Rücken der Iraker ist nur möglich durch den eklatanten Mangel an Kontrolle und die Missachtung der Regeln der Wirtschaftlichkeit. Die Korruption beginnt mit der Vergabe der Großaufträge an die US-Konzerne und setzt sich bei der Weitergabe von Teilaufträgen fort. Um einen Auftrag zu erhalten benötigt beispielsweise jeder Iraker ein „Tazkia”, das ist ein Empfehlungsschreiben einer der von den USA in den sogenannten „Regierenden Rat“ aufgenommen Parteien. Dafür müssen beträchtliche Summen bezahlt werden, Abschlüsse von Subunternehmerverträge erfordern außerdem die Zahlung von wenigstens 5%-10% der Vertragssumme an die Vermittler aus den US-amerikanischen Hauptunternehmen.[34]

Zum Schutz der Geschäftstätigkeiten ihrer Unternehmen im Irak wurden in den USA zahlreiche Gesetze und Verordnungen verabschiedet. Unter anderem unterzeichnete Bush am 22. Mai 2003 den Erlass 13303, der die gesamte Erdölindustrie des Irak gegen „alle Verordnungen, Urteile, Erlasse, Verfügungen, Beschlagnahmungen und jede sonstige juristische Maßnahme“ schützt. Die Ölindustrie steht damit über dem Gesetz, dem US-amerikanischen ebenso wie dem internationalen.

Verlierer ist die breite Masse der Iraker. Die schockartige Einführung der Marktwirtschaft hat die hohe Arbeitslosigkeit noch mal in die Höhe schnellen lassen; mindestens zwei Drittel der Iraker sind davon betroffen und überleben allein durch die Sozialprogramme, die die frühere Regierung in Zusammenarbeit mit der UNO eingerichtet hatte.

Der Umbruch vom Wohlfahrtsstaat, der Beschäftigung und Grundversorgung, wenn auch zuletzt auf niedrigem Niveau, garantierte, zur ungeregelten Marktwirtschaft ähnelt dem was nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus über die osteuropäischen Länder hereinbrach, mit allen Begleiterscheinungen der extremen Umverteilung. Im Irak geschieht dies aber unter den Bedingungen von Krieg, Besatzung und Widerstand. „Früher hatten die Iraker Sicherheit, Stabilität, Arbeit unter den Bedingungen eines autoritären Regimes – jetzt haben sie unter westlicher Vorherrschaft Chaos, Kriminalität, Mafia, horrende Arbeitslosigkeit, Islamismus und Terrorismus. Und ein Konzept für die Wende zum Besseren ist nicht in Sicht“ berichtet der Marburger Altorientalist Prof. Walter Sommerfeld, ein langjähriger Kenner des Landes nach seiner Reise am ersten Jahrestag des Kriegsbeginns.[35]

„Nation building”

Das Irak-Bild Washingtons

Als es sich die Invasoren nach dem Einmarsch in Saddam Husseins Regierungssitz am Tigris gemütlich machten, geschah dies nicht mit der Absicht, diesen in absehbarer Zeit wieder zu verlassen. Die USA wollten so lange als unmittelbare Besatzungsmacht fungieren, bis die gesellschaftlichen Bedingungen für eine Machtübergabe an eine irakische Regierung reif sein würden.

Auch in der US-Regierung hatte niemand ernsthaft daran geglaubt, die Invasoren würden als Befreier begrüßt. Die US-Strategen rechneten aber damit, dass nach den langen Jahren der Herrschaft des Baath-Regimes und den Entbehrungen durch Krieg und Embargo, der größte Teil der Bevölkerung passiv bleiben würde. Sie hatten die Illusion, dass der Hass der Iraker auf Saddam Hussein so groß sei, dass sie eine politische und militärische Besatzung für eine längere Zeit tolerieren würden und gingen davon aus, dass es genügen würde, den Machtapparat des alten Staates und die Baath-Partei zu zerschlagen, um organisierten Widerstand für längere Zeit auszuschalten.

Maßgeblich beeinflusst waren die Planer in Washington vom Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse im Irak, das ihnen ihre Ratgeber aus den Reihen der irakischen Exil-Opposition vermittelten. Auf ihren Rat und ihren Einfluss vor Ort hatten sich die US-Strategen sehr stark verlassen, sie bestimmten in hohem Maße die Besatzungspolitik mit. Mit Hilfe dieser Kollaborateure hofften sie Unterstützung von Teilen der Bevölkerung zu erhalten und andere gegeneinander ausspielen zu können. Durch die als moderat angesehenen verbündeten islamistischen Organisationen, wie den Obersten Rat der Islamischen Revolution (SCIRI), die irakischen Muslimbrüder oder die Dawa-Partei sollten radikale religiöse Kräfte eingebunden oder neutralisiert werden. Sie wurden als stark genug angesehen, militanten Predigern entgegenzutreten. Wie sich bald zeigte, hatte all dies mit der Realität wenig zu tun: Die meisten der mit den Invasionstruppen einrückenden irakischen Politiker verfügten über keinen nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung, ihre Analysen erwiesen sich als pure Ideologie: So wurden z.B. die ethnischen und konfessionellen Widersprüche übertrieben und die starke nationale irakische und panislamische Identität ignoriert.

Irakische Fassade für die US-Herrschaft

Im Bestreben Unterstützung durch einheimische Hilfskräfte zu gewinnen und vor das Besatzungsregime sukzessive eine irakische Fassade zu stellen, begannen die USA im Sommer 2003 mit dem Aufbau neuer irakischer Polizeieinheiten und einer neuen Armee. Im Juli wurde ein 25-köpfiger provisorischer „Regierender Rat“ (Iraqi Governing Council, IGC) als höchste irakische Autorität eingesetzt. Seine Macht war äußerst beschränkt und seine Lebensdauer zunächst unbestimmt. Dieser Rat setzte auf Anweisung des US-Statthalters Paul Bremer ein provisorisches Kabinett mit 25 Ministern ein, denen jeweils ein US-amerikanischer Vertreter der CPA als „Berater“ vorstand.

Die Mitglieder des Rates hatte Bremer handverlesen, Wert wurde dabei auf die Einhaltung des ethnischen und konfessionellen Proporzes gelegt. Durch die absurden Auswahlkriterien kam der Vertreter der irakischen KP als Schiite und Adnan Pachachi, Außenminister vor der Machtübernahme der Baath-Partei, als Sunnite in den Rat. Mittelalter statt Zivilgesellschaft“ charakterisierte Karl Grobe diese Vorgehensweise in der Frankfurter Rundschau treffend.[36] Es dominierten im Rat naturgemäß die Kräfte, die bereits vor dem Krieg mit den USA verbündet waren oder den angelsächsischen Überfall zwar nicht öffentlich unterstützt, aber wie die irakische KP wohlwollend begrüßt haben.

Da die Besetzung aller Gremien nach ethnisch-religiösem Proporz die Trennungslinien zwischen den Bevölkerungsgruppen zu verschärfen drohte, stieß das Vorgehen auf heftige Kritik. Die „Politisierung religiöser und ethnischer Risse“ so beispielsweise die International Crisis Group (ICG) gefährde die territoriale Integrität Iraks und seinen säkularen Charakter.[37] Die US-Strategen sahen aber gerade darin die Chance national orientierte Kräfte zu schwächen.[38]

Das Scheitern von „Plan A“

Der „Regierende Rat“ wurde vom überwiegenden Teil der Bevölkerung, die in ihm ein ausschließliches Werkzeug der Besatzungsmacht sahen, nie anerkannt. Seine Mitglieder galten genauso als Kollaborateure, wie die Iraker, die sich von der Besatzungsbehörde für die neue Polizei oder Armee rekrutieren ließen. Durch das arrogante und brutale Verhalten der Besatzungstruppen schlug die eher passive Ablehnung der Besatzung immer mehr in offene Feindschaft über. Selbst ein Großteil der Geschäftsleute, die nach den Vorstellungen Washingtons als neuer Mittelstand das Rückrat eines neuen Irak bilden sollten, wurden verprellt, da sie von den Wiederaufbauprojekten weitgehend ausgeschlossen blieben.

Die rundum fehlende Akzeptanz der „Befreier” wurde im Oktober 2003 durch Umfragen von Gallup bestätigt. Nur 5% der Befragten glaubten, dass die USA einmarschierten, um „das irakische Volk zu unterstützen” und nur 1%, dass sie Demokratie einführen wollen.[39] Die CIA kam zur selben Erkenntnis und warnte vor einem Scheitern der gesamten Irak-Mission. In ihrem Anfang November an die Presse lancierten Geheimbericht ging sie davon aus, dass der Widerstand an Stärke ständig zunehme und in der Bevölkerung weiter Fuß fasse. Bis zu 50.000 Irakerinnen und Iraker waren ihrer Einschätzung nach, zu diesem Zeitpunkt im Widerstand aktiv und diese seien keinesfalls nur Anhänger des alten Regimes.[40]

Die Ergebnisse der Gallup-Umfrage und der CIA-Recherchen kamen an die Öffentlichkeit als die Situation vor Ort zusehends eskalierte. Im Oktober hatten sich die täglichen Angriffe auf Besatzungstruppen schon auf über 20 am Tag gesteigert. Im November, während des islamischen Fastenmonats Ramadan, nahmen die Angriffe noch weiter zu, die offizielle Zahl monatlich gefallener US-Soldaten verdoppelte sich von 40 auf 82. Bei einem Abschuss eines Kamphubschraubers, der die US-Öffentlichkeit besonders erschütterte, starben allein 16 GIs.

Dadurch geriet die US-Regierung zunehmend auch innenpolitisch in Bedrängnis. Die Zustimmung zum Kriegskurs des Präsidenten sank und mit ihr auch seine Popularität.

Die USA hatten es bis dahin recht geschickt verstanden, einzelne Terroranschläge auf internationale Einrichtungen und Zivilisten, sowie Gerüchte über eine große Zahl ausländischer islamistischer Kämpfer auszunutzen, um ihren Kampf gegen die Guerilla in den Zusammenhang mit dem „Kampf gegen den Terror“ zu stellen. Die sichtbar werdende Breite des Widerstands entlarvte dies aber zunehmend als Propaganda. Die USA konnten in all den Monaten, trotz Gefangennahme von mehr als 700 ausländischen Moslems, keine Beweise für die Existenz von Al Qaeda oder ähnlichen ausländischen Organisationen im Irak vorlegen. Da diese über keine gesellschaftliche Basis im Land verfügen und als Ausländer auffallen würden, ist eine Präsenz in größerem Umfang auch sehr unwahrscheinlich.

Im Irak selbst gibt es große Zweifel, dass die fürchterlichen terroristischen Anschläge, die im Westen das Bild des Widerstands prägen, die Anschläge auf Hilfsorganisationen und irakische Zivilisten, von Widerstandsgruppen verübt wurden. Hartnäckig hält sich auch in gebildeten Kreisen die Überzeugung – von westlichen Medien wie immer als Verschwörungstheorien belächelt – dass dahinter viel eher pro-westliche irakische Organisationen und britische, US-amerikanische oder israelische Geheimdienste stecken.[41] Die Spekulation werden dadurch genährt, dass in keinem der großen Terroranschläge die Ergebnisse, der von der Besatzungsmacht durchgeführten Untersuchungen publik gemacht wurden – unabhängige Untersuchungen gab es ohnehin nie.

Nach wie vor blieb die Unterstützung anderer Länder aufgrund der mangelnden Legitimation der Besatzung und der fehlenden Bereitschaft Washingtons, ihnen Mitsprache einzuräumen, gering. Die USA erhielten auf ihre Bitten nach weiterer Truppenunterstützung überwiegend Absagen. Eine Geberkonferenz Ende Oktober in Madrid wurde zum Schlag ins Wasser. Die Weltbank hatte einen Bedarf von rund 56 Milliarden Dollar errechnet, 20 Milliarden hatten die USA selbst schon zugesagt. Darüber hinaus erhielten sie aber nur Zusagen in Höhe von 13 Mrd. US-Dollar, der größte Teil davon von IWF und Weltbank.

Auch der Ölreichtum des Iraks zahlt sich für die neuen Herren noch nicht aus, die Ölexporte bringen aufgrund der anhaltenden Sabotage nur Bruchteile der erhofften Einnahmen. Die Umwandlung der irakischen Wirtschaft in den erhofften „kapitalistischen Traum“ stieß ebenfalls auf massive Hindernisse, sodass, wie die Washington Post Ende Dezember 2003 vermeldete, die Besatzungsbehörde eine ganze Reihe bereits fest geplanter Maßnahmen verschieben musste. Insbesondere die Privatisierung staatlicher Unternehmen sollte nun wesentlich behutsamer angegangen werden. In den betroffenen Betrieben hatte sich heftiger Widerstand dagegen organisiert und angesichts einer Arbeitslosigkeit von 60 bis 70 Prozent, die durch die zu erwartenden Entlassungen weiter steigen würde, mussten die Besatzer befürchten, dass sich entlassene Arbeiter dem bewaffneten Widerstand anschließen. Eine Warnung war diesbezüglich die Ermordung des Direktors des (noch) staatlichen Unternehmens für Speiseöl. Als dieser sich weigerte einige Dutzend Arbeiter wieder einzustellen, wurde er auf dem Weg zur Arbeit erschossen. Sein Tod habe eine Panikwelle durch das Industrieministerium gesandt, so die Washington Post, „plötzlich wollte niemand mehr über Privatisierungen reden.“[42]

Nicht nur die mangelnde Sicherheit, auch die fehlende Legitimität für die Maßnahmen der Besatzungsbehörde ließ Konzerne zögern, im Irak zu investieren. Hätte doch eine souveräne irakische Regierung jederzeit das Recht, die Verordnungen der CPA und Verträge mit ausländischen Konzernen zu annullieren.

 Der ursprüngliche Plan, die unmittelbare Herrschaft so lange auszuüben, bis die Bedingungen für die Übergabe der Herrschaft an ein irakisches Regime, das die Wahrung der US-Interessen garantieren könnte, wirklich reif sind, war offenbar nicht mehr haltbar. „Die Iraker würden nicht tolerieren, dass wir so lange die Macht behalten“ hieß es nun in Washington.[43]

[nächstes Kapitel ...]


[1] Rede Präsident Bushs zum 1. Jahrestag, dt. Übersetzung: http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/jahrestag-bush.html

[2] Caritas Internatinonal: www.caritas-international.de , siehe auch, Karl A. Ammann (Koordinators der Caritas-Hilfe im Irak): „Der schleichende Krieg”, Frankfurter Rundschau, 15.03.2004

[3] MedAct Studie: ”Continuing collateral damage – the health and environmental costs of war on Iraq 2003”, (http://www.ippnw.de/presse/2003/031111IrakBilanz.htm )

[4] ”World-wide quality of life survey”, London, 1.3.2004 http://www.mercerhr.com/pressrelease/details.jhtml/dynamic/idContent/1128760

[5] ”Dying of neglect: the state of Iraq's children's hospitals”, The Independent, 21.2.2004

[6] „Beyond Torture – U.S. Violations of Occupation Law in Iraq”, CESR, Juni 2004, http://www.cesr.org/beyondtorture.htm

[7] Carl Conetta, „Radical Departure:  Toward A Practical Peace in Iraq“, Project on Defense Alternatives, Briefing Report #16,  7.7.2004, http://www.comw.org/pda/0407br16.html

[8] Siehe J. Guilliard, „Die Kolonisierung des Iraks im Geiste der Conquista”, junge Welt v. 5/6.5.2003

[9] Walden Bello, „Falluja and the Forging of the New Iraq”, Focus on the Global South, 18-Apr-2004

[10] William I. Robinson, „What to expect from U.S. ‚Democracy Promotion’ in Iraq”, University of California, 30.3.2004 http://www.focusweb.org/index.php?option=news&task=viewarticle&sid=167;  Solche Programme sind auch Teil eines größeren, von Washington 2003 angekündigten „4-Schritte”-Plans für den gesamten Nahen und Mittleren Osten, wofür der besetzte Irak als Ausgangspunkt dienen soll: 1. Lösung des israelisch- palästinensischen Konflikts. 2. „Partnerschaft des Mittleren Ostens” zum Aufbau einer „Zivilgesellschaft” in der Region. 3. Verstärkte Integration der Region in die Weltwirtschaft durch Liberalisierung und Strukturanpassungen. 4. Verhinderung der Entstehung regionaler militärischer Herausforderungen für die US-amerikanische Vorherrschaft im Mittleren Osten.

[11] Walden Bello a.a.O.

[12] ebd.

[13] Sabah Alnasseri, „Ein Land zerfällt”, analyse & kritik 484, 19.5.2004

[15] siehe J. Guilliard, „Irak – Die neue Phase des Krieges”, IMI-Studie 2003/05der Informationsstelle Militarisierung (www.imi-online.de )

[16] ebd.

[17] Eine Übersicht über alle Erlasse (Orders) befindet sich auf der Internetseite der Besatzungsbehörde CPA, http://www.iraqcoalition.org/regulations . Hier findet man z.B. auch unter „Order 83” einen zehnseitigen Anhang zum Copy Right Gesetz mit dem das alte irakische Gesetz von 1971 den „aktuellen internationalen Schutzstandards” angepasst und die „modernen Standards der WTO in irakisches Recht eingeführt” werden.

[18] „Let's All Go to the Yard Sale,” Economist, 25.9.2003

[19] Der US-Konzern BearingPoint Inc. erhielt einen Vertrag über 250 Millionen US-Dollar, um diese Umwandlung zu erleichtern. Der Vertrag fordert ein klares Verständnis dafür, dass die ganzen Anstrengungen dafür gedacht sind, „den grundlegenden juristischen Rahmen für eine funktionierende Marktwirtschaft zu schaffen, indem aus der einzigartigen Möglichkeit die die gegenwärtigen politischen Umstände für einen raschen Fortschritt in diesem Bereich bieten, angemessen Kapital geschlagen wird.“

Weitere Maßnahmen, die im Vertrag mit BearingPoint skizziert werden, beinhalten die faktische Beendigung des Nahrungshilfeprogramms und die „Wiederherstellung“ der vollen Eigentumsrechte über Agrarland und Immobilien. Die bisherigen irakischen Gesetze garantierten subventioniertes Wohnen, billige Energie und freie Nahrungsversorgung. (Antonia Juhasz, ”The Economic Colonization of Iraq: Illegal and Immoral,” World Tribunal on Iraq, 8.5.2004. http://www.worldtribunal-nyc.org/Document/Case_3_Juhasz.pdf)

[20] Bechtel hat mit fast 3 Milliarden US-Dollar nach Halliburton den zweitgrößten Anteil der „Wiederaufbaugelder” eingesteckt. Bechtels Verträge umfassen die Reparatur der Trinkwasser- und Stromversorgung, der Abwassersysteme, Krankenhäuser und Schulen, s. Antonia Juhasz a.a.O.

[21] J. Guilliard, „Die neue Phase des Krieges” a.a.O.

[22] Ibrahim Warde „Die Wirtschaft der amerikanischen Vettern”, Le Monde diplomatique, 14.5.2004

[23] ebd.

[24] Siehe Artikel 42ff der Haager Landkriegsordnung von 1907, sowie: „Spoils of war”, The Guardian, 13.10.2003

[25] Ibrahim Warde, a.a.O..

[26] Eine grobe tabellarische Übersicht über die Einnahmen und Ausgaben bietet die CPA unter http://www.cpa-iraq.org/budget/DFI_26jun2004.xls

[27] „Fuelling suspicion: the coalition and Iraq's oil billions“, Christian Aid, http://www.christian-aid.org.uk/news/media/pressrel/040627.htm

[28] Siehe Andrew Cockburn, „Raiding Iraq's Piggy Bank“, Salon.com, 17.5.2004
Das Iraq Revenue Watch Project (IRW) des Open Society Institute von George Soros entdeckte, dass die CPA noch kurz vor dem 30. Juni zwei Milliarden Dollar aus den irakischen Öleinnahmen ohne jegliche Rücksprache für Aufträge an US-Firmen vergab. „Wenn so viel Geld für Bar-Zugaben verfügbar ist, und so wenig Planung, wie der Vorgang ablaufen soll, ist es schlicht unmöglich, Korruption and Pfusch zu vermeiden“ sagte, Svetlana Tsalik, Direktor von IRW. „Iraqi Fire Sale: CPA Giving Away Oil Revenue Billions Before Transition“, Iraq Revenue Watch Project, June 2004, http://www.iraqrevenuewatch.org/reports/061504.pdf

[29] Siehe Presseerklärung des IAMB vom 15.7.2004, http://www.iamb.info/pr/pr071504.htm, sowie „UN und USA streiten über den Umgang mit Iraks Erdöl“, FR, 24.7.2004,

[30] Schon die CPA selbst gibt mit 10,0 und 11,5 Mrd. US-Dollar zwei unterschiedliche Zahlen für die Öleinnahmen an. Nach Berechnungen von „Christian Aid“ müssten sie eher bei 13 Mrd. liegen („Fuelling suspicion …“ a.a.O.)

[31] Antonia Juhasz a.a.O.

[32] Nach einer WHO-Untersuchung haben sich die Fälle von Diarrhöe zum Vorjahr verdreifacht, „Beyond Torture ...“ a.a.O.

[33] Chatterjee, Pratap & Herbert Docena. „Occupation Inc.“ Southern Exposure Magazine, Winter 2003/2004, http://www.southernstudies.org/reports/OccupationInc.htm

[34] Haifa Zangana, Iraq's enemy within, The Guardian 10.4.2004

[35] Walter Sommerfeld, „Land im Umbruch – Der Irak ein Jahr nach dem Krieg“, http://www.iraktribunal.de/hearing190604/sommerfeld_2004.htm

[36]  Frankfurter Rundschau, 28.08.2003

[37] siehe J. Guilliard, „Irak - Die neue Phase des Krieges“, a.a.O.

[38] „Die Darstellungen der imperialen Medien, die den Irak nach Schiiten, Sunniten, Arabern und Kurden fraktionieren, war von Anfang an ideologisch“ so der in Frankfurt lebende irakische Politologe Sabah Alnasseri. Es sei auch eine „Inszenierung, dass es so etwas wie eine beherrschende theokratische Tendenz im Irak gäbe und eine islamische Republik nach dem Muster des Iran entstehen könnte.“ Eine solche Inszenierung wirke wie eine „Zensur“, da sie die tatsächlichen Konflikte verdränge und sie sei „imperialistisch, weil die Verhältnisse als unzivilisiert, gewaltförmig und apolitisch dargestellt“  - eine Rechtfertigung für die weitere Besatzung. Sabah Alnasseri, „Ein Land zerfällt“ a.a.O.

[39] Phyllis Bennis, „Bush on Middle East – ‚Democracy’ & ‚Ending Occupation’ in Iraq, Institute for Policy Studies, 18.11.2003

[40] „'We could lose this situation', CIA says insurgents now 50,000 strong; Crisis talks over transfer of power“, The Guardian, 13.11.2003 und „CIA has a bleak analysis of Iraq“, 12.11.2003

[41] Walter Sommerfeld a.a.O.: Der Verdacht erhielt neue Nahrung, als Adnan Pachachi, Anfang der 60er Jahre irakischer Außenminister, dem Chef des von den USA finanzierten „Irakischen Nationalkongresses“, Ahmed Chalabi vorwarf, Terroranschläge zu planen, nachdem Chalabi in Ungnade gefallen war und bei der Bildung der provisorischen Regierung nicht berücksichtigt wurde. „Pachachi wirft Chalabi Planung von Terroranschlägen vor“, Der Standard, 21.6.2004

[42] Rajiv Chandrasekaran, „Attacks Force Retreat From Wide-Ranging Plans for Iraq“, Washington Post, 28.12.2003

[43] „US Focuses on Faster Handover to the Iraqis“, Philadelphia Inquirer, 13.11.2003

[nächstes Kapitel ...]