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Das Friedensgutachten 2001


Hans C. Graf Sponeck

3.4. Menschlich katastrophal, politisch wirkungslos
- Zehn Jahre Wirtschaftssanktionen gegen den Irak

Als unmittelbare Antwort auf die Invasion und Annexion Kuwaits durch den Irak verhängte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im August 1990 gegen den Aggressor ein umfassendes Handels-, Finanz- und Waffenembargo (Resolution 661). Die Sanktionen wurden nach dem Ende des Golfkrieges ausdrücklich über die Feuereinstellung hinaus verlängert und an die Erfüllung der Entwaffnungsauflagen gebunden (Resolution 687). Seit über zehn Jahren befinden sie sich in Kraft. Die Aufhebung oder Abmilderung setzt einen neuen Beschluss des Sicherheitsrats voraus. Die USA und Großbritannien widersetzen sich einer solchen Entscheidung. Für eine Revision des Embargos plädieren hingegen Russland, China und Frankreich. Sie begründen ihren Sinneswandel im Wesentlichen mit zwei Feststellungen: Auf der einen Seite hätten die Sanktionen ihren Zweck verfehlt, eine Verhaltensänderung Iraks bei dem Streit mit den Vereinten Nationen über die Inspektionen der dem Irak auferlegten Abrüstung von Massenvernichtungswaffen zu erzwingen. Auf der anderen Seite leide die Zivilbevölkerung unter dem Handelsembargo in einem Maße, das ihre Aufrechterhaltung nicht länger vertretbar erscheinen lasse.

Über die Sachverhalte, die diesen Feststellungen zu Grunde liegen, d.h. die Kooperationsverweigerung Bagdads und die humanitäre Katastrophe im Irak, besteht im UN-Sicherheitsrat im Prinzip Konsens. Umstritten ist aber unter dessen Mitgliedern wie in der friedenswissenschaftlichen Diskussion die Frage, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Im folgenden wird die Ansicht vertreten, dass das Handelsembargo gegen den Irak dessen Bevölkerung in einem Maße Schaden zugefügt hat und immer noch zufügt, das in keinem vertretbaren Verhältnis zu dem Zweck seiner Aufrechterhaltung steht. Unter politischen, ethischen und völkerrechtlichen Gesichtspunkten ist zu fordern, die Wirtschaftssanktionen gegen den Irak aufzuheben, da sie sich überwiegend gegen die irakische Bevölkerung richten, die damit doppelt gestraft ist: mit einem skrupellosen Diktator und einer humanitären Katastrophe. Sie sind durch Maßnahmen zu ersetzen, die der internationalen Sicherheit dienen: ein striktes Waffenembargo, verbunden mit strengen Exportkontrollen vor allem seitens der Staaten, die den Irak einst aufgerüstet haben und ihn zu einer Gefahr für seine Nachbarn werden ließen.

Die humanitären Folgen der Wirtschaftsanktionen

Die Sanktionen trafen eine bereits durch den achtjährigen Krieg gegen Iran und das Bombardement durch die Anti-Irak-Koalition unter Führung der USA stark in Mitleidenschaft gezogene Infrastruktur. Bereits ein halbes Jahr nach Beginn des Embargos sprach der damalige UN-Untergeneralsekretär Martti Ahtisaari von einer "apokalyptischen" Realität und stellte fest, dass der Irak in ein vorindustrielles Zeitalter zurückgeworfen sei. (1) Im Jahr 1991 sank das irakische Bruttosozialprodukt um mehr als 75 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Als Folge des anhaltenden Sanktionsregimes registrierten internationale Organisationen den fortschreitenden Verfall der irakischen Wirtschaft und die wachsende Verelendung der Bevölkerung. Fünf Appelle der Vereinten Nationen an die internationale Staatengemeinschaft zwischen Januar 1992 und März 1996, zur Finanzierung von Hilfsprogrammen 1,2 Mrd. US-Dollar bereit zu stellen, erbrachten lediglich ein Drittel der benötigten Summe. Der sich ausbreitenden Unterernährung und der Welle von Erkrankungen, die auf Hunger und den Mangel an sauberem Trinkwasser zurückzuführen sind, ließ sich mit diesem Betrag kein Einhalt gebieten.

Zur Abwendung der humanitären Katastrophe genehmigte der Sicherheitsrat im April 1995 das Programm "Öl für Nahrung". Es erlaubte dem Irak erstmals wieder eine begrenzte Erdölausfuhr in Höhe von jährlich vier Mrd. US-Dollar. 30 Prozent der Exporterlöse waren für Kompensationszahlungen an die Kriegsgegner und vier Prozent für die administrativen Aufwendungen der UNO bestimmt, so dass 2,5 Mrd. US-Dollar für die Versorgung einer Bevölkerung von 20 Millionen mit Grundnahrungsmitteln und Medikamenten blieben – ein Pro-Kopf-Betrag von jährlich 130 US-Dollar. Die sich laufend verschlechternde humanitäre Situation und die damit verbundene internationale Kritik an den Sanktionen veranlassten den Sicherheitsrat, die erlaubte Ölförderung mehrfach aufzustocken. Am 17. Dezember 1999 wurden die Export-Obergrenzen schließlich aufgehoben (Resolution 1284). Danach konnte der Irak von den gestiegenen Weltmarktpreisen für Rohöl profitieren. Von 1997 bis 2000 betrugen die Ölexporterlöse 39,4 Mrd. US-Dollar. Davon standen für das Programm "Öl für Nahrung" 26,2 Mrd. US-Dollar zur Verfügung.

Das Programm "Öl für Nahrung"

Das Programm war zur Abwendung der humanitären Katastrophe im Irak bestimmt, konnte diesen Zweck jedoch nur sehr begrenzt erfüllen. Offenkundig standen ihm andere Ziele entgegen. Dies lässt sich sowohl aus dem Zusammenwirken der mit seiner Implementierung befassten UN-Instanzen als auch aus der Arbeitsweise des UN-Sanktionskomitees schließen.

Von den ihm verbliebenen Exporterlösen hat der Irak nur für einen Betrag von 10,3 Mrd. Dollar, d.h. für lediglich 40 Prozent der theoretisch zur Verfügung stehenden Summe, Güter importieren können. Das entspricht einem Pro-Kopf-Betrag von 117 US-Dollar pro Jahr. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum wurde der UN-Kompensierungskommission ein Betrag von 11,6 Mrd. US-Dollar zugewiesen. Die Gründe für die unverhältnismäßig niedrigen Importe liegen zum einen in dem maroden Zustand der irakischen Infrastruktur, vor allem der Hafenanlagen, des Eisenbahnnetzes und der Lastwagenflotte. Zum anderen verhindert das komplizierte Kontrollverfahren im UN-Sanktionsausschuss die zügige Einfuhr der humanitären Güter. Auf Grund der Sanktionsbestimmungen müssen Firmen Exportbewilligungen ihrer Auswärtigen Ämter (und oft auch der Verteidigungsministerien) einholen. UN-Vertretungen der Exportländer müssen die Kaufverträge dem Sanktionskomitee des Sicherheitsrats und dem UN-Sekretariat zur Prüfung übermitteln. Der Irak muss einen Kreditbrief bei der Banque Nationale de Paris erstellen, etc. Das Kontrollverfahren führte nicht nur zu oft monatelangen Verzögerungen bei der Lieferung dringend benötigter Güter. Es produzierte mitunter auch geradezu absurd anmutende Importblockaden. Zum Beispiel wurde die Lieferung von Chemikalien zur Herstellung sauberen Trinkwassers mit der Begründung untersagt, aus ihnen ließen sich Chemiewaffen herstellen. 99 Prozent aller Lieferblockaden im Sanktionskomitee gehen auf das Konto der USA und Großbritanniens. Es hat den Anschein, als seien die Importblockaden im Sanktionskomitee nicht so sehr von dem Bestreben geleitet, ein militärisches Wiedererstarken des Irak zu verhindern, sondern bezweckten vielmehr in erster Linie, die Erholung des Landes und seine Wiedereingliederung in die Region zu erschweren. Es sind gewiss nicht zufällig gerade diese Staaten, die im Sicherheitsrat für die Aufrechterhaltung der Wirtschaftssanktionen eintreten und den Irak wegen dessen Nichtanerkennung der beiden einseitig erklärten Flugverbotszonen periodisch bombardieren – was im Übrigen die Implementierung des Programm "Öl für Nahrung" zusätzlich erschwert.

Für die Implementierung des Programms ist in Bagdad als Koordinator ein UN-Beamter im Rang eines Beigeordneten Generalsekretärs zuständig. Von 1998 bis 2000 war ich mit dieser Aufgabe betraut, nachdem mein Vorgänger Dennis Halliday aus Protest gegen die Sanktionspolitik sein Amt niedergelegt hatte. Der Koordinator handelt mit der irakischen Regierung die Verteilung des verfügbaren Anteils der Ölexporterlöse auf die im Programm "Öl für Nahrung" vorgesehenen Sektoren, in erster Linie Nahrungsmittel und Medikamente, aus. Er hält kontinuierlich Kontakt mit dem UN-Sekretariat und informiert in periodischen Abständen den Sicherheitsrat, insbesondere das Sanktionskomitee, über die Versorgungslage der Bevölkerung. Zudem koordiniert er die Berichterstattung, wobei jedoch die Endfassungen der Berichte in New York erstellt werden. Schließlich ist er direkt verantwortlich für die Lieferung humanitärer Güter in die drei kurdischen Provinzen und muss die hierfür erforderlichen Verhandlungen mit den beiden konkurrierenden kurdischen Parteien, der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), führen, da für die Implementierung des Programms "Öl für Nahrung" in den Kurdengebieten die UNO selbst zuständig ist und nicht die Regierung in Bagdad.

Doch die Kompetenzen der UN-Kräfte vor Ort für die Durchführung des Programms werden in der Praxis durch New York unterlaufen. Entscheidungen jeder Art werden zentralistisch durch das Office of the Iraq Programme (OIP) getroffen. Dessen Nähe zu dem UN-Sanktionskomitee für Irak hat die hierarchische Kontrollmentalität dieser UN-Abteilung gefördert. Modernes Management mit dezentralisierter Verantwortung existiert nicht. Diese Doppelstruktur – hier der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe am Ort des Geschehens, dort die in erster Linie die gegen eine Aufweichung der Sanktionen agierende UN-Abteilung in New York – führte dazu, dass sich bei den Entscheidungen über etwaige Modifikationen des Sanktionsregimes durchgängig das Element der "Bestrafung" des Irak durchsetzte. Wiederholt unternahm das OIP den Versuch, Analysen und Berichte über die Implementierung des Programms durch kurzfristig von New York entsandte Mitarbeiter einzuholen. Der UN-Koordinator und die Leiter der in Bagdad vertretenen UN-Sonderorganisationen kritisierten wiederholt die tendenziöse Berichterstattung dieser eingeflogenen UN-Mitarbeiter. Systematisch blockierte New York eine Erweiterung der Unterrichtung des Sicherheitsrats über die Implementierung des Programms "Öl für Nahrungsmittel" hinaus und verhinderte auf diese Weise eine Gesamtdarstellung der prekären humanitären Situation. Als das UN-System vor Ort 1999 trotzdem einen Report über die Gesamtsituation anfertigte, wurde er dem Sicherheitsrat vorenthalten. Die Proteste des UN-Koordinators blieben ohne Wirkung. Im Januar 1999 fühlte sich der Präsident des Sicherheitsrats genötigt, dessen Mitglieder daran zu erinnern, dass regelmäßige Berichterstattung über die Situation in Ländern unter einem Sanktionsregime zu den Aufgaben des Sicherheitsrats gehört. Der Sicherheitsrat ist dieser grundsätzlichen Verpflichtung im Fall Irak nur selten nachgekommen.

Die irakische Sozialstruktur unter Sanktionen

Neben ihren katastrophalen Folgen für die Ernährungslage und die Gesundheit der irakischen Bevölkerung haben zehn Jahre Handelsembargo auch verheerende Wirkungen auf die soziale Struktur des Landes. Industrie und Handel liegen danieder, die Arbeitslosigkeit beträgt nach Schätzungen der UNO zwischen 60 und 75 Prozent. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, da mit Beginn der Sanktionen das System der Datenerhebung auf allen zivilen Sektoren ausfiel. Das irakische Wohlfahrtsystem, unter dem bedürftige Personen monatlich etwa 175 US-Dollar erhielten, brach bereits 1990 zusammen. 1999 konnte die Regierung an Arme monatlich nur noch 2250 irakische Dinar (1,2 US-Dollar) zahlen. Alternative Überlebensstrategien sind heute Bettelei, Prostitution, Korruption, Diebstahl, Kinderarbeit, Schmuggel und dergleichen.

Die einst große und gut ausgebildete Mittelklasse ist heute erheblich dezimiert. Etwa zwei Millionen Iraker, meist dieser Klasse zugehörig, sind emigriert. Die Zahl der älteren Iraker mit einer wissenschaftliche Ausbildung, die noch im Erwerbsleben stehen, sinkt ständig. Ähnlich gut Ausgebildete der jüngeren Generationen gibt es nicht, denn die Bildungseinrichtungen sind schon seit vielen Jahren nicht mehr in der Lage qualifizierten Nachwuchs heranzuziehen. 5000 Schulgebäude sind reparaturbedürftig, viele davon sind in gefährlichem Zustand. Die meisten Schulen besitzen kein Unterrichtsgerät, und für die Schüler gibt zu wenige Tische und Bänke. Laboreinrichtungen und Computer sind meist nicht vorhanden. Es werden 50 Millionen Schulbücher pro Jahr gebraucht, doch auf Grund von Ersatzteil- und Papiermangel ist die Staatsdruckerei außer Betrieb. Schultransport existiert mit wenigen Ausnahmen nicht mehr; ähnlich ist es mit der Schulspeisung. Lehrer und Professoren haben keine Gelegenheit , ihr Fachwissen zu erneuern. Grund für die desolate Lage im Bildungswesen sind hauptsächlich fehlende Gelder und Sanktionsbestimmungen, mit denen die Ausfuhr von Bildungsmaterial in den Irak verhindert wird. Zum Beispiel verbietet die US-Postbehörde jegliche Ausfuhr von gedrucktem Material in den Irak – sogar von Musiknoten.

Die Auswirkungen auf den Bildungsstand der irakischen Bevölkerung sind gravierend. 1987 waren laut UNESCO 80 Prozent der Bevölkerung lese- und schreibkundig – zehn Jahre zuvor waren es nur 52 Prozent gewesen. Die UNESCO verlieh dem Irak für diesen Erfolg einen Preis. 1995 war die Zahl der Lese- und Schreibkundigen wieder auf 58 Prozent abgesunken. Gleichzeitig hat die Entprofessionalisierung der Mittelklasse den nationalen Fundus an Wissen seit 1990 kontinuierlich schrumpfen lassen. Eine große Zahl junger Menschen kann heute nicht studieren, weil die Eltern mittellos sind. Erwachsene Akademiker arbeiten teilweise noch auf ihrem Fachgebiet, aber ohne das benötigte wissenschaftliche Handwerkszeug. Die meisten jedoch sind mit Tätigkeiten beschäftigt, die von ungelernten Arbeitern durchgeführt werden könnten. Anstelle einer einst im regionalen Vergleich gut ausgebildeten Mittelschicht findet man heute im Irak als Produkt von zehn Jahren Sanktionen eine neue "Klasse", die der Sanktionsbrecher. Denn die Grenzen des Landes sind durchlässig. Der Sicherheitsrat beschloss, es bei den Grenzinspektionen von humanitären Gütern zu belassen. Alles, was nicht über das Programm "Öl für Nahrung" ins Land kommt, bleibt somit unkontrolliert. Dies führt dazu, dass aggressive irakische Geschäftsleute sich mit der politischen Elite zusammentun, um diese Sanktionslöcher zum eigenen Vorteil auszunutzen. Diese Kreise profitieren von dem Embargo und sie nutzen die Sanktionen zudem propagandistisch, um von ihrer Bereicherung abzulenken und zur Stabilisierung der Herrschaftsstrukturen Feindbildpflege zu betreiben. Die Deformation der irakischen Gesellschaftsstruktur wird weit über ein Ende der Wirtschaftssanktionen hinaus die Entwicklung des Landes hemmen und die Zukunftschancen der jungen Generation belasten.

Sanktionen und das UN Mandat für den kurdischen Nordirak

  1. Die Resolution 688 (1991) des UN-Sicherheitsrats beauftragte den Generalsekretär, sich für die Versorgung irakischer Minoritäten einzusetzen, besonders für die Kurden im nördlichen Irak. Resolution 986 (1995) gab den Vereinten Nationen ein Mandat für die direkte Durchführung des Programms "Öl für Nahrung" in den drei nördlichen Provinzen von Dohuk, Erbil und Suleimaniyah. Die kurdischen Provinzen werden bei der Implementierung des Programms gegenüber den von Bagdad kontrollierten Landesteilen deutlich privilegiert. Die Kurden, 13 Prozent der irakischen Gesamtbevölkerung, erhalten fast 20 Prozent der irakischen Ölgelder zugeteilt. Während der Wert der im Sanktionskomitee blockierten Güter für den von Bagdad verwalteten Teil des Irak seit Jahren kontinuierlich ansteigt, blieben die blockierten Güter für den Norden immer unter zwei Prozent. Im Norden können UN-Sonderorganisationen mit kurdisch-irakischen Firmen Verträge abschließen und mit Bargeld bezahlen, ebenso kann von den Vereinten Nationen im Norden Gerät lokal eingekauft werden. Sanktionsbestimmungen verbieten dies für den von Bagdad kontrollierten Teil des Landes. Diese Infusion von Geld wie auch die Möglichkeit, frei über die Grenzen mit Syrien und dem Iran und besonders der Türkei Handel zu treiben, hat die kurdische Wirtschaft erheblich belebt. Dieser Umstand und die günstigeren klimatischen Bedingungen des kurdischen Nordens mit seiner Bergwelt haben hier soziale Fortschritte erlaubt, die wenig damit zu tun haben, dass diese Provinzen nicht durch Bagdad verwaltet werden. Wenn solche Deutungen, die eine politisch motivierte Simplifizierung der Realität darstellen, dennoch im Norden gerne geglaubt werden, so lässt sich auch hieran ablesen, wozu die unterschiedliche Behandlung der Landesteile im Programm "Öl für Nahrung" führt: Der kurdische Norden hat mittlerweile neben der Furcht vor dem Terror Saddam Husseins ein weiteres Motiv, sich der Kontrolle Bagdads auf Dauer entziehen zu wollen. Ob die hierdurch bewirkte Schwächung der irakischen Zentralgewalt beabsichtigt ist oder nicht – jedenfalls handelt es sich um eine von den UN-Resolutionen nicht gedeckte Wirkung des Embargos und der Implementierung des ausschließlich humanitär begründeten Programms "Öl für Nahrung".

    Zehn Jahre Sanktionen: Konsequenzen für internationales Recht

    Die Fortsetzung der Sanktionen über ihr ursprüngliches Ziel, die Wiederherstellung der territorialen Integrität Kuwaits, hinaus soll den Irak zwingen, den Entwaffnungsauflagen nachzukommen, die in Resolution 687 formuliert sind (vgl. Friedensgutachten 1991, Beitrag 1.6.). Gemäß Paragraph 22 kann eine Aufhebung der Wirtschaftssanktionen erst dann erfolgen, wenn der Sicherheitsrat bestätigt, dass Irak "alle" geforderten Auflagen erfüllt hat. Dies ist bisher nicht geschehen. Der Irak hat mit den UNSCOM-Inspektoren jahrelang Katz und Maus gespielt und auf diese Weise die ihm auferlegte Entwaffnung verzögert Die UNSCOM ihrerseits hat durch fragwürdige Praktiken ihren eigenen Auftrag, Aufklärung über etwaige Restbestände an irakischen Massenvernichtungswaffen zu erbringen, desavouiert und dem irakischen Diktator einen Vorwand geliefert, die Kooperation bei den Inspektionen aufzukündigen (vgl. Friedensgutachten 1999, Beitrag 5.2.). Seit den Luftschlägen der USA und Großbritanniens im Dezember 1998 ruhen die Inspektionen. Eine Erklärung des Sicherheitsrats, dass der Irak den Entwaffnungsauflagen vollständig nachgekommen sei, steht nicht zu erwarten – sei es, weil dieser Beweis nicht erbracht werden kann, sei es, weil sachfremde Erwägungen (z.B. das Interesse an einer fortgesetzten Schwächung des Irak) dem im Wege stehen. Und schrittweise Verbesserungen der Sanktionsbedingungen, abhängig etwa von nachweisbaren Fortschritten bei der Beseitigung der Massenvernichtungswaffen und ballistischen Raketen, sind in Resolution 687 nicht vorgesehen.

    Ebenfalls nicht vorgesehen ist es, die Fortdauer der Wirtschaftssanktionen unter Berücksichtigung ihrer humanitären Folgen zu prüfen. Eben dies aber ist aus ethisch-moralischer und völkerrechtlicher Sicht geboten. Zu untersuchen wäre, ob die humanitären Folgen für die irakische Bevölkerung in einem vertretbaren Verhältnis zu etwaigen Erfolgen bei der Entwaffnung des Irak stehen oder nicht. Berichte der UN-Sonderorganisationen, des Roten Kreuzes und anderer nichtstaatlicher Organisationen über die humanitäre Entwicklung im Irak in den ersten zehn Jahren der Sanktionen ebenso wie meine Vorlagen an den Sicherheitsrat ziehen den Schluss, dass mit hoher Unterernährung, sinkender Lebenserwartung und steigenden Sterberaten schon kurze Zeit nach Beginn der Sanktionen völkerrechtliche und ethisch-moralische Grenzen überschritten wurden. Während quantifizierte Indikatoren für die Jahre 1990-2000 existieren, sind die langfristigen sozialen und psychischen Folgen einer Doppelbestrafung durch die Diktatur im Land und die internationalen Sanktionen nur schwer zu erfassen. Es wird geschätzt, dass es eine ganze Generation dauern wird, bis die Infrastruktur für Gesundheit und Bildung erneut den Stand von 1990 erreicht haben wird.(2) Dies scheint eine optimistische Beurteilung, die ich auf Grund meiner Erfahrungen im Irak nicht teilen kann.

  2. Der Sicherheitsrat ist im Laufe der zehn Sanktionsjahre seiner Verpflichtung der systematischen und kontinuierlichen Beobachtung der Folgen der Sanktionspolitik auf die irakische Bevölkerung nicht nachgekommen. Dies ist eine ernste Tatsache. Wäre dies geschehen, hätte der Sicherheitsrat erfassen können, zu welchem Zeitpunkt die im Sinne von Kapitel VII der UN-Charta anfänglich durchaus zu Recht erhobenen Wirtschaftsanktionen gegen den Irak schließlich zu Unrecht wurden. Das Recht Sanktionen aufzuerlegen ist zeitlich nicht unbegrenzt. Dies ist mit allen Folgen für die irakische Bevölkerung vom Sicherheitsrat nicht berücksichtigt worden – eine völkerrechtlich schwerwiegende Unterlassung. Artikel 1, 24 und 55 der Charta definieren den Rahmen, in welchem Sanktionen durchzuführen sind. Maßnahmen müssen "konform sein mit den Prinzipien von Gerechtigkeit und internationalem Recht" (Art.1.1); ineffektive Maßnahmen, die nicht den Normen des internationalen Rechts entsprechen, dürfen nicht aufrechterhalten werden; die Vereinten Nationen sind angehalten, internationale Konflikte zu lösen und nicht zu verursachen (Art.1.3), und schließlich verpflichtet die Charta den Sicherheitsrat, ausschließlich im Rahmen des Zwecks und der Prinzipien der Vereinten Nationen zu handeln und die Menschenrechte zu respektieren (Art.24 und 55). Analoge Bestimmungen finden sich in anderen internationalen Verträgen wie den Haager und den Genfer Konventionen. Der Sicherheitsrat darf gemäß Artikel 39 der Charta Sanktionen nur beibehalten, wenn die reale Gefahr einer Bedrohung des Friedens oder Beweise für aggressive Handlungen vorliegen. Hiervon kann nach der Entwaffnung des Irak in den neunziger Jahren nicht länger die Rede sein.

Es ist zu folgern, dass die völkerrechtliche Basis für Wirtschaftssanktionen gegen den Irak nicht mehr existiert. Im Interesse ihrer Integrität müssten die Vereinten Nationen eine Evaluierung der Sanktionen gegen den Irak durchführen, in der grundlegend auf den Zeitfaktor, auf das Verhältnis von erzielbarem Nutzen und den Folgen für die Zivilbevölkerung und auf die durch die Charta gesetzten Grenzen in der Anwendung von Sanktionen eingegangen wird. Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Wirtschaftssanktionen, besonders im Fall von Diktaturen, nicht die politische Basis für Wandel schaffen, aber in jedem Fall hohe humanitäre Kosten erzeugen, sollte zu einer internationalen Grundsatzdebatte über dieses Instruments der Konfliktlösung führen, die über den begrenzten Kreis akademischer Experten hinausgehen muss. Der Internationale Gerichtshof müsste an einer solchen Debatte teilnehmen.

Alternativen zu der Sanktionspolitik des UN-Sicherheitsrats

Die internationale Staatengemeinschaft mag 1991 gehofft haben, mit Hilfe von Wirtschaftssanktionen den Irak zu zwingen, seinen Abrüstungsverpflichtungen nachzukommen und auf diese Weise eine militärische Gefahr zu bannen. Sie verband damit den Wunsch, einen für gefährlich erachteten Diktator in seine Schranken zu weisen. Ein solcher Ansatz basiert auf der Annahme, dass wirtschaftlicher Druck sich automatisch in politischen Wandel umsetzen würde. Lange bevor sich diese Theorie im Falle des Irak als falsch herausstellen sollte, hatte der norwegische Friedensforscher Johan Galtung sie bereits als "naiv" bezeichnet.(3) Die Mitglieder des Sicherheitsrats waren sich über die Fragwürdigkeit dieses Ansatzes ohne Zweifel im Klaren. Dessen eigentliche Agenda bestand aber gar nicht in der Suche nach einer möglichst raschen Lösung eines Konflikts. Vielmehr ging es darum, ein Regime für einen politisch und militärisch gefährlich gewordenen Alleingang zu bestrafen. Zu diesem Zweck sollte der Irak durch einen breiten Fächer von Maßnahmen längerfristig geschwächt und seine Führung isoliert werden. Entfernen wollte man die irakische Führung jedoch nicht, weil sich mit dem Regime in Bagdad die westliche, besonders die amerikanische und britische Militärpräsenz im Golf legitimieren ließ. Insbesondere die Resolutionen 687 (1991) und 1284 (1999), in denen die Entwaffnungsverpflichtungen des Irak in unklaren und auslegungsbedürftigen Formulierungen niedergelegt sind, trugen dazu bei, die Konfliktsituation zwischen dem Irak und dem UN-Sicherheitsrat aufrechtzuerhalten.

Signale dafür, dass dieser Ansatz zu einer menschlichen Katastrophe unermesslichen Ausmaßes führen würde, gab es schon in den ersten Sanktionsjahren. Ein Sicherheitsrat, der, ohne durch eine Vetomacht blockiert zu sein, seinen Aufsichtspflichten nachgekommen wäre, hätte im Interesse der Zivilbevölkerung und unter Beachtung der UN-Charta und anderer internationaler Verträge frühzeitig entschieden, die Entwaffnung des Irak nicht länger mit Wirtschaftssanktionen erzwingen zu wollen. Die ökonomische Erholung des Irak hätte bei entsprechenden Kontrollen keineswegs dazu führen müssen, dass sie für die militärische Wiedererstarkung des Irak missbraucht wird.

Die Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft und besonders die der meisten arabischen Länder, einer Lösung des Irakproblems näher zu kommen, ist in den letzten zwölf Monaten deutlich gewachsen. Der Druck zum Dialog kommt aus verschiedenen Richtungen und mit unterschiedlichen Motiven, nicht nur von Regierungsstellen, sondern auch aus der Geschäftswelt und humanitären Einrichtungen. Fortschritte gibt es auf mehreren Ebenen. Im März 2001 einigten sich auf dem Gipfel der Arabischen Liga in Amman Saudi-Arabien, Kuwait und der Irak auf eine Vermittlerrolle des jordanischen Königs. Die Treffen zwischen der irakischen Regierung und dem UN-Generalsekretär werden im Laufe des Jahres 2001 fortgesetzt. Für den UN-Generalsekretär, den neuen Generalsekretär der Arabischen Liga, Ägyptens Außenminister Amr Moussa, und die irakische Führung bedeutet dies eine überfällige Möglichkeit, einen multi-dimensionalen Dialog über die irakische Komponente des Friedensprozesses im Mittleren Osten zu beginnen. Dazu gehört auch die Intensivierung des bestehenden Dialogs zwischen Bagdad und dem kurdischen Norden über die Zukunft der kurdischen Lokalautonomie. Dies wäre eine notwendige Rückversicherung für die Kurden, die nach der Beendigung der Sanktionen nicht verlieren wollen, was die Jahre der Sanktionen ihnen an Freiheit und Entwicklung ermöglicht haben. Dem UN-Generalsekretär fällt in diesem "Dialog auf drei Ebenen" eine Schlüsselrolle zu.

Wirtschaftssanktionen gezielter und damit humaner zu gestalten, um zu verhindern, dass die Höhe der so genannten "Kollateralschäden" über dem Wert der verfolgten, erreichten und realisierbaren militär-politischen Ziele liegt, ist kein neuer Ansatz für Konfliktlösung. Die Sanktionsliteratur befasst sich schon seit längerem mit der Frage "intelligenter", d.h. zielgenauer Sanktionen (vgl. Beitrag 6.4.). Erst als sich angesichts der humanitären Katastrophe im Irak das öffentliche Gewissen zu regen begann und politischen Druck erzeugte, fingen die Regierungen der USA und Großbritanniens an, derartige Sanktionen gegen den Irak ernsthaft ins Auge zu fassen. Es ist die Rede von hermetisch abzuschirmenden Grenzen, von Reiserestriktionen für Mitglieder der irakischen Regierung und besonders von einer straffen Kontrolle der irakischen Ölverkäufe und damit der Einnahmen der Regierung. Diese Überlegungen kommen für Millionen Menschen im Irak allerdings zu spät. Nach zehn Jahren umfassender Wirtschaftssanktionen ist der Bevölkerung wenig geholfen, wenn es Sanktionserleichterungen gibt, die vor einer Wiederbelebung der irakischen Wirtschaft halt machen. Nur eine Beendigung dieser Sanktionen kann den Anfang für den Wiederaufbau der irakischen Wirtschaft und Gesellschaft einleiten. Der Sicherheitsrat muss erkennen, dass die Diktatur im Irak mit all ihren negativen Folgen für die Bevölkerung gleichwohl völkerrechtlich und ethisch-moralisch keine Rechtfertigung für die Fortführung einer fehlgeschlagenen Politik sein kann. Eine Beendigung der Wirtschaftssanktionen muss allerdings von einem streng überwachten Waffenembargo begleitet werden, dessen Auflagen nicht nur für den Irak zu gelten haben, sondern ebenso für den internationalen Waffenhandel und waffenexportierende Staaten. Parallel dazu werden die Vereinten Nationen den Irak für einen längeren, festzulegenden Zeitraum strengen Rüstungsbeschränkungen unterwerfen müssen.

Gleichzeitig sollte der erneut entstandene Dialog zwischen der irakischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft auf den bereits erwähnten drei Ebenen ausgedehnt werden. Ein breiter Katalog komplexer Probleme steht zur Regelung an. Vordringlich geht es um die Rehabilitation der irakischen Ölindustrie, die Wiederherstellung der Landwirtschaft und den Wiederaufbau des Bildungssystems sowie einer integrierten Bewässerungs- und Elektrizitätsversorgung. In direkter Fühlungsnahme mit Bagdad sollten der irakischen Regierung kontrollierbare Garantien für den Schutz von Minderheiten innerhalb des Irak, für den Erhalt der kurdischen Autonomie und für die gerechte Zuweisung von Staatseinkünften an die Kurdengebiete abverlangt werden. Die Einhaltung menschenrechtlicher Mindeststandards ist durch einen vor Ort tätigen UN-Berichterstatter für Menschenrechtsfragen zu unterstützen, der sich auf der Basis eines erweiterten Mandats mit allen Aspekten der Menschenrechtssituation zu befassen hat. Auf dieser Basis sind die völkerrechtswidrigen Flugverbotszonen aufzuheben. Schließlich sind Verhandlungen über Iraks internationale Verschuldung und die verbleibenden Entschädigungsleistungen sowie über vermisste Personen und den abschließenden Austausch von Kriegsgefangenen zu führen.

Eine Konfliktlösung mit solchen Vorgaben orientiert sich langfristig an dem Ziel einer Wiedereingliederung des Irak in die Region und die internationale Gemeinschaft. Die Nachbarn Iraks haben mit Ausnahme Irans und Israels hieran bereits ihr Interesse bekundet. Die Grundvoraussetzung für einen Neuanfang dieser Art wird sein, dass der Sicherheitsrat und die irakische Regierung sich nach Jahren der Konfrontation grundsätzlich und vornehmlich im Interesse einer Beendigung der humanitären Katastrophe im Irak zum Dialog bereit finden.

Hans C. Graf Sponeck

Anmerkungen:

(1) The UN and the Iraq-Kuwait Conflict, 1990-96, UN/DPI, p.18.

(2) United Nations, E/CN.4/Sub.2/2000/33, S. 29.

(3) Johan Galtung, On the Effects of International Economic Sanctions (1967), in: Miroslav Nincic/Peter Wallensteen (Hrsg.), Dilemmas of Economic Coercion, New York et al. 1983, S. 17-60 (26-29).

Der Beitrag ist dem Friedensgutachten 2001 entnommen, das im Auftrag des IFSH, der HSFK und der FEST sowie in Kooperation mit dem INEF und dem BICC von Reinhard Mutz, Bruno Schoch und Ulrich Ratsch herausgegeben wird.


Reinhard Mutz, Bruno Schoch und Ulrich Ratsch (Hg.)
Friedensgutachten 2001,
LIT Verlag, Münster 2001
Preis DM 24,80.