Reportage: Die Stadt der Diebe
Karin Leukefeld |
Ein großer Teil der geschätzten 7 Millionen Einwohner Bagdads lebt in einem Gürtel von Armensiedlungen am Rande der Stadt. Am bekanntesten ist das frühere "Saddam City", wo sich tagsüber schätzungsweise 3 Millionen Menschen aufhalten. Seit den 60er Jahren wanderten Tausende verarmte Fellachen aus den südlichen, mehrheitlich von Schiiten bewohnten Provinzen in die Randgebiete der irakischen Hauptstadt, weil sie sich dort Arbeit erhofften.
Vom Zentrum Bagdads ist es ein langer Weg hinaus in das weitläufige Armenviertel, das immer mehr an städtischen Konturen verliert, je weiter man in die Außenbezirke vordringt. Die Straßen werden schmaler, sind nur noch teilweise befestigt. Neben den zerbeulten Karosserien, die sonst durch Bagdads Straßen knattern, drängeln sich Jeeps, Fahrräder, Pferde- und Eselsgespanne. Am Straßenrand liegen zerschossene und verbrannte Autowracks. Amerikanisches Militär ist nicht zu sehen. Die Gegend erinnert mehr an eine weitläufige Schutthalde als an ein Wohnviertel.
Gegen den Wind gestemmt führt eine Frau, verhüllt in ihre weite, schwarze "Abbaya", eine Ziegenherde durch den Müll. Andere Frauen kommen offenbar gerade vom Einkaufen, sie balancieren Reissäcke, Eierpaletten und Speiseölkanister auf Kopf und Schultern, Kinder spielen in einem Panzerwrack. In scharfem Kontrast zu dem allgemeinen Durcheinander liegen Hunderte Panzermunitionshülsen fein ordentlich aufgestapelt neben anderem Schrott. Jede dieser schätzungsweise ein Meter langen Hülsen bringt auf dem Schwarzmarkt bis zu 6000 Irakischen Dinar (ca. 3 US-Dollar), erklärt Emad, ein junger Iraker, der selber dort lebt. Die meisten werden in den Iran verkauft.
Nach dem Zusammenbruch der irakischen Regierung am 9. April übernahmen in den Armenvierteln Bagdads schnell die schiitischen Geistlichen das Kommando. Aus "Saddam-City" wurde "Sadr-City", benannt nach zwei unter den irakischen Schiiten hoch angesehenen Geistlichen. Mohammad Bakir al-Sadr und Mohammad Sadiq al-Sadr mussten beide ihren Einsatz für religiös-politische Veränderung im Irak mit dem Leben bezahlen, sie wurden von der Baath-Regierung 1980 und 1998 hingerichtet. Heute schmücken ihre Bilder die Hauswände in Sadr-Stadt und hängen über den Eingängen öffentlicher Gebäude.
Am Westrand des Slumviertels kommt der Verkehr zum Stillstand. Schwere Laster warten in einer langen Schlange vor einer Art Baumarkt, wo sie Sand, Kies, Ziegelsteine und Metallgitter aufladen. Ein heißer Wind fegt in Böen Sand und Müllreste durch das Getümmel und lässt für Augenblicke alles hinter einem gelben Staubvorhang verschwinden. Doch wer meint, hier am Ende der Bagdader Welt angekommen zu sein, täuscht sich.
Hinter einer Bodenwelle aus Schutt und Abfall taucht bald ein weiteres, noch ärmeres Viertel auf: Hay Tarik oder, wie manche auch sagen, die Stadt hinter dem Damm. Viele Einwohner des alten, gepflegten und stolzen Bagdads haben nie von der Existenz dieser Wohngegend gehört. Und wer davon weiß, macht keinen Hehl aus seiner tiefen Abneigung gegenüber diesen "ungebildeten, ungepflegten und diebischen" Leuten. Die Anlage der Elendsviertel um Bagdad herum seien eine gezielte Politik Saddam Husseins gewesen, sagt Suha T., die früher im diplomatischen Dienst gearbeitet hat. Damit habe er gezielt die Spaltung und den Verfall der irakischen Gesellschaft betrieben.
Die Zahl der in Hay Tarik lebenden Menschen wird von Emad auf 40.000 geschätzt. Er koordiniert in dem Viertel für die deutsche Hilfsorganisation "Architekten für Menschen in Not" (APN) ein Gesundheitsprojekt. Die einzige Wasserleitung verläuft entlang dem zentralen Fahrweg und weist eine Fülle von Bruchstellen auf. Die Menschen bohren die Leitung einfach an, wo immer sie das Wasser benötigen. Strom gelangt in die Hütten offenbar durch Kabel, die an die imponierende Überlandtrasse angeschlossen sind, die sich in nordöstlicher Richtung über das Viertel hinwegstreckt. Keine Busverbindung, keine Post, kein Telefon, keine Ärzte, keine Apotheke, kein Baum, kein Strauch.
Die einzige Schule von Hay Tarik mit dem klangvollen Namen "Geschenk der Revolution" endet schon nach der zweiten Klasse, obwohl die irakischen Grundschulen sechs Klassen haben. Die Kinder toben also in Ermangelung von Schulunterricht durch den Staub oder planschen in einem angrenzenden See, der als Sammelbecken für alles Ab- und Grundwasser dient. Die Mädchen helfen der Mutter zu Hause, die Jungen verdingen sich als Straßenhändler und Schuhputzer im Zentrum von Bagdad.
Die Leute selber nennen ihr Viertel auch Hay Al Mehdi, erzählt Emad. Nach schiitischem Glauben soll der bisher verschwundene 12. Imam eines Tages als "Mehdi" wiederkehren und eine Herrschaft der Gerechtigkeit errichten. Gerechtigkeit könnten die Menschen in diesem verlassenen Winkel Bagdads allerdings jetzt schon gut gebrauchen, sie leben in tiefster Armut. Viele beteiligten sich an den Plünderungen, die seit dem 7. April in Bagdad fast kein öffentliches Gebäude verschonten und nahmen mit, was nicht niet- und nagelfest war. Alt eingesessene Bagdadis nennen das Viertel darum auch die "Stadt der Diebe".
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Teil 1: Von Jordanien nach Bagdad
Teil 2: "Zustand Bagdads schockierend"
Teil 3: Alltag unter US-Besatzung
Teil 4: Gestrandet im irakisch-iranischen Grenzgebiet
Teil 5: Ernüchterung in Basra
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